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Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann - Lehrstuhl Prof. Dr ...

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Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Vorlesung<br />

Soziologische Theorie<br />

SoSe 2013<br />

Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax<br />

03. Juni 2013<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz<br />

Gesellschaft als Lebenswelt/<br />

Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 1


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Armin Nassehi:<br />

Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen<br />

2. Aufl.<br />

Wiesbaden: VS-Verlag 2011.<br />

Hans Joas/Wolfgang Knöbl:<br />

Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen<br />

Aktualisierte Auflage<br />

Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 2


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Das Kursbuch ist wieder da, hg. von Armin Nassehi<br />

Vorzugsabo für Studierende:<br />

<strong>Dr</strong>ei Ausgaben/Jahr € 48,- (statt € 60,-)<br />

Zu beziehen über<br />

www.kursbuch-online.de<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 3


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Programm<br />

22.04.<br />

Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und Marx<br />

Die Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Kritik<br />

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, §§ 182-188,<br />

S. 339-346; Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1,<br />

Berlin (DDR) 1969, S. 378-391.<br />

29.04.<br />

Emile Durkheim:<br />

Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als Moralwissenschaft<br />

Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim:<br />

Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 4


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

06.05.<br />

Max Weber:<br />

Soziologie ohne Gesellschaft<br />

Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler,<br />

Stuttgart 2002, S. 275-313.<br />

13.05.<br />

George Herbert Mead:<br />

Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als Verhaltenswissenschaft<br />

George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und<br />

230-265.<br />

20.05.<br />

Pfingstmontag<br />

27.05.<br />

Talcott Parsons:<br />

Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer Systeme<br />

Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 5


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

03.06.<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz/<strong>Peter</strong> <strong>Berger</strong>/<strong>Thomas</strong> <strong>Luckmann</strong>:<br />

Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz/<strong>Thomas</strong> <strong>Luckmann</strong>: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der<br />

Lebenswelt. Band 1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.<br />

10.06.<br />

Gary S. Becker/James Coleman<br />

Gesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler Wahl<br />

Gary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.<br />

17.06.<br />

Jürgen Habermas:<br />

Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als Aufklärungsprojekt<br />

Jürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf<br />

Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 6


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

24.06.<br />

Niklas Luhmann:<br />

Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als Aufklärung<br />

Niklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S.<br />

11-49.<br />

01.07.<br />

Pierre Bourdieu:<br />

Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)Aufklärung<br />

Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen,<br />

Frankfurt/M. 1985, S. 49-81.<br />

08.07.<br />

Bruno Latour:<br />

Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider Akteure<br />

Bruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers<br />

der Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.<br />

15.07.<br />

Klausur<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 7


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Weitere Informationen:<br />

Die Texte werden in den Hauptfachtutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />

der Vorlesung mitgelesen werden.<br />

Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der<br />

Vorlesung erläutert.<br />

Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage<br />

des <strong>Lehrstuhl</strong>s herunterladen (www.nassehi.de).<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 8


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz (1899-1959)<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen<br />

Welt (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981)<br />

S. 11f.: Hat es die Sozialwissenschaft mit dem Sein<br />

des Menschen an sich oder nur mit seinen gesellschaftlichen<br />

Verhaltensweisen zu tun Ist das gesellschaftliche<br />

Ganze dem Sein des Einzelnen vorgegeben, so dass das Individuum<br />

nur ist, weil es Teil einer Ganzheit ist, oder ist es umgekehrt das,<br />

was wir das gesellschaftliche Ganze nennen und seine Teilorganisationen<br />

eine Synthesis von Funktionen der einzelnen menschlichen<br />

Individuen, deren Sein allein Realität zukommt Ist das das<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 9


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

gesellschaftliche Sein des Menschen, was sein Bewusstsein, oder<br />

umgekehrt sein Bewusstsein, das sein gesellschaftliches Sein bestimmt<br />

Kann das historische Geschehen der Menschheits – und<br />

Kulturentwicklung unter Gesetzen begriffen werden oder sind umgekehrt<br />

alle als “Gesetze“ ausgegebenen Deutungsversuche der<br />

fortgeschrittensten Sozialwissenschaft, wie z.B. der Nationalökonomie,<br />

ihrerseits bloß historisch bedingte Abstraktionen Es ist<br />

begreiflich, dass derjenige, auf den Fragen von solcher Tragweite<br />

einstürmen, der Versuchung unterliegt, ihre Lösung naiv vorauszusetzen<br />

und von seinem, durch Temperament, wertenden oder politischen<br />

Einstellungen oder bestenfalls metaphysischen Instinkt<br />

diktierten Standpunkt aus an die einzelnen Tatsachen heranzutreten.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 10


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (J.C.B. Mohr, Tübingen<br />

1972)<br />

S.1: §1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig<br />

gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales<br />

Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf<br />

und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. „Handeln“ soll dabei<br />

ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches<br />

Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als<br />

der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.<br />

„Soziales“ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches<br />

seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das<br />

Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert<br />

ist.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 11


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.<br />

S.15f: Weber macht zwischen Handeln als Ablauf und vollzogener<br />

Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des<br />

Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns<br />

bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen<br />

und Fremdverstehen keinen Unterschied. Er fragt nicht nach der<br />

besonderen Konstitutionsweise des Sinnes für den Handelnden,<br />

nicht nach den Modifikationen, die dieser Sinn für den Partner in<br />

der Sozialwelt oder für den außenstehenden Beobachter erfährt,<br />

nicht nach dem eigenartigen Fundierungszusammenhang zwischen<br />

Eigenpsychischem und Fremdpsychischem, dessen Aufklärung für<br />

die präzise Erfassung des Phänomens „Fremdverstehen“ unerläss-<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 12


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

lich ist. Zwar stellt Weber dem subjektiv gemeinten Sinn eines<br />

Handelns dessen objektiv erkennbaren Sinngehalt gegenüber. Aber<br />

er differenziert nicht weiter und untersucht jene spezifischen Abwandlungen,<br />

die ein Sinnzusammenhang von der jeweiligen Position<br />

des Deutenden aus erfährt, ebenso wenig, wie die Auffassungsperspektiven,<br />

in denen dem in der Sozialwelt Lebenden seine<br />

Mit- und Nebenmenschen überhaupt gegeben ist.<br />

______________________________________________________<br />

S. 16: Die soziale Welt ist eben keineswegs homogen, sondern<br />

mannigfach gegliedert, und der „Andere“, der Partner, ist dem<br />

sozial Handelnden und beide wieder dem Beobachter jeweils in<br />

verschiedenen Graden der Anonymität, der Erlebnisnähe und<br />

Inhaltsfülle gegeben. Der Einzelne zieht aber diese perspektivischen<br />

Verkürzungen, in denen ihm die Sozialwelt erscheint, bei<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 13


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

seinen Sinnsetzungs- und Sinndeutungsakten ins Kalkül, und deshalb<br />

sind auch sie Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung.<br />

Denn es handelt sich hier nicht um empirische Unterschiede<br />

des zufälligen Standpunktes des Einzelnen, sondern um Wesensunterschiede<br />

prinzipieller Natur – um den wesensmäßigen Unterschied<br />

insbesondere zwischen der Selbstinterpretation der Erlebnisse<br />

durch das eigene Ich und der Interpretation fremder Erlebnisse<br />

durch das deutende alter ego. Dem handelnden Ich und dem deutenden<br />

Beobachter präsentiert sich nicht nur die einzelne sinnhafte<br />

Handlung und ihr Sinnzusammenhang, sondern auch das Ganze der<br />

Sozialwelt in völlig verschiedener Perspektive.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 14


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S. 28f: Nur wenn angenommen wird, dass auch der Andere mit seinem<br />

Verhalten einen Sinn verbinde und diesen Sinn so in den Blick<br />

bringen könne, wie ich auf den Sinn meines Handelns hinzusehen<br />

vermag, kann überhaupt mit Fug nach dem fremden gemeinten<br />

Sinn gefragt werden. Dass aber dieser gemeinte Sinn einer fremden<br />

Handlung oder eines fremden Verhaltens nicht mit demjenigen<br />

Sinn zusammenfallen muss, welchen der wahrgenommene, von mir<br />

als fremdes Handeln oder fremdes Verhalten interpretierte Vorgang<br />

für mich, den Beobachtenden, hat, ist die zweite Voraussetzung,<br />

welche in diesem Postulat enthalten ist.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 15


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S. 20f: Schon eine oberflächliche Analyse zeigt nämlich, dass das<br />

Sinnproblem ein Zeitproblem ist, allerdings nicht ein solches der<br />

physikalischen Raumzeit, die teilbar und messbar ist, oder der historischen<br />

Zeit, die immer eine von äußeren Begebenheiten erfüllbarer<br />

Ablauf bleibt, wohl aber ein solches des „inneren Zeitbewusstseins“,<br />

des Bewusstseins der je eigenen Dauer, in dem sich<br />

für den Erlebenden der Sinn seiner Erlebnisse konstituiert. Erst in<br />

dieser tiefsten, der Reflexion zugänglichen Erlebnisschicht, die nur<br />

in streng philosophischer Selbstbestimmung schlossen werden<br />

kann, ist der letzte Ursprung der Phänomene „Sinn“ und „Verstehen“<br />

aufweisbar. Der mühevolle Weg in diese Tiefenschichten<br />

kann aber demjenigen, der sich über die Grundbegriffe der Sozialwissenschaften<br />

Rechenschaft geben will, nicht erspart bleiben. Er<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 16


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

wird vielmehr die im hochkomplexen Sinngefüge der Sozialwelt<br />

sichtbar werdenden Phänomene nur dann deutlich erfassen können,<br />

wenn er sie auf ursprünglichen und allgemeinen Wesensgesetzen<br />

des Bewusstseinslebens abzuleiten vermag. Erst die großen philosophischen<br />

Entdeckungen Bergsons und vor allem Husserls haben<br />

den Zugang zu diesen Tiefenschichten philosophischer Reflexion<br />

erschlossen. Nur mit Hilfe einer allgemeinen Theorie des Bewusstseins,<br />

wie Bergsons Philosophie der Dauer oder Husserls transzendentaler<br />

Phänomenologie, kann die Lösung der Rätsel gefunden<br />

werden, mit denen die Problematik der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsphänomene<br />

umlagert ist.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 17


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins<br />

(1893-1917), Husserliana, Band X, Den Haag 1966.<br />

S. 23: Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Melodie,<br />

d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen.<br />

Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der<br />

dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt,<br />

so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw. Ich höre<br />

also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen<br />

Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich<br />

gegenständlich ist, ver-danke ich - so wird man geneigt sein zu sagen<br />

- der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen,<br />

nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vor-<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 18


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

blickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber<br />

nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den einzelnen<br />

Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen<br />

höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer<br />

neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in<br />

ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des<br />

Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert<br />

sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu<br />

einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem<br />

weiteren Teil Erwartung ist.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 19


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.<br />

S.104: Wir können nun den Gesamtzusammenhang der Erfahrung<br />

auch definieren als den Inbegriff aller durch das Ich als freies Wesen<br />

in einem gegebenen Zeitpunkt seiner Dauer vollziehbaren reflexiven<br />

Zuwendung (einschließlich aller attentionalen Modifikationen<br />

dieser Zuwendungen) auf seine abgelaufenen in phasenweisen<br />

Aufbau konstituierten Erlebnisse. Der spezifische Sinn eines<br />

Erlebnisses, also das besondere Wie der Zuwendung zu ihm, besteht<br />

dann in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebenen<br />

Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Wir können diesen Satz<br />

auch in folgender Form ausdrücken, die zugleich eine präzise Definition<br />

des Begriffes „gemeinter Sinn“ abgibt: Gemeinter Sinn eines<br />

Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erlebnisses<br />

von einem neuen Erleben her.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 20


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S.112: Wir können den Prozess der Einordnung eines Erlebnisses<br />

unter die Schemata der Erfahrung durch synthetische Rekognition<br />

auch als Deutung dieses Erlebnisses bezeichnen, wenn wir dieses<br />

Wort in einem erweiterten Sinn gelten lassen, der auch die in der<br />

allgemein üblichen Redeweise damit gemeinte Zuordnung eines<br />

Zeichens zu dem, was es bezeichnet, umschließt. Deutung ist dann<br />

nichts anderes als Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes,<br />

von in Zuwendungen Erfasstem auf Schemata der Erfahrung. Diesen<br />

kommt also beim Prozess des Deutens der eigenen Erlebnisse<br />

eine besondere Funktion zu. Sie sind die fertigen in der Weise des<br />

Wissens (Vorwissens) jeweils vorrätigen Sinnzusammenhänge zwischen<br />

kategorial vorgeformten Material, auf welches das zu deutende<br />

Erlebnis in einem neuen synthetischen Akt rückgeführt wird. Insoferne<br />

sind die Schemata der Erfahrung Deutungsschemata und<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 21


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

als solche wollen wir sie im folgenden bezeichnen. Die Zuordnung<br />

eines Zeichens zu einem Zeichensystem, für welche der Terminus<br />

„Deutungsschema“ vorzugsweise verwendet wird, ist nur ein Spezialfall<br />

des soeben gekennzeichneten Vorgangs der Selbstauslegung<br />

überhaupt.<br />

______________________________________________________<br />

S.139: Das Postulat der „Erfassung des fremden gemeinten Sinnes“<br />

besagt nämlich, dass die Erlebnisse des alter ego durch ein ego in<br />

der nämlichen Weisen auszulegen seien, wie das alter ego die<br />

Selbstauslegung seiner Erlebnisse vollzieht.<br />

Ein solches „Wissen“ könnte aber nur in einem eigenen Erleben<br />

und in einer Serie reflexiver Blickwendungen auf dieses eigene Erleben<br />

bestehen. Hierbei müsste der Beobachter die einzelnen Erlebnisse,<br />

und zwar die Urimpressionen, die reflexiven Akte, die akti-<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 22


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

ven Spontaneitäten, die Phantasieerlebnisse usw. in der gleichen<br />

Reihenfolge und mit den gleichen Höfen von Protentionen und Retentionen<br />

in seinem (des Beobachters) Bewusstsein vorfinden.<br />

Mehr noch: der Beobachter müsste dazu fähig sein, auch alle vorvergangenen<br />

Erlebnisse des Beobachteten in freier Reproduktion<br />

zu durchlaufen, er müsste also dieselben Erlebnisses in ihrer Totalität,<br />

und zwar in ihrer gleichen Abfolge erlebt und in gleicher<br />

Weise Zuwendungen zu ihnen vollzogen haben, wie der Beobachtete<br />

selbst. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Bewusstseinsstrom<br />

der durée des Beobachters der nämliche sein müsste,<br />

wie der des Beobachteten, oder mit anderen Worten, dass Beobachter<br />

und Beobachteter ein und dieselbe Person sein müssten.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 23


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S.156: Die vorgenommene Analyse zeigt aber in voller Deutlichkeit,<br />

dass eben diese letzten Fragen erst gestellt werden können,<br />

sobald das Ich das vernommene Wort (als von einem alter ego<br />

kundgegeben) in Selbstauslegung erfasst hat, dass also alles echte<br />

Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden<br />

fundiert ist.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 24


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz: Gesammelte Aufsätze III. Studien zur phänomenologischen<br />

Philosophie, Den Haag 1971<br />

S. 116f: Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt werden, dass nur eine<br />

solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale<br />

Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität<br />

aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften<br />

bildet, obschon er von diesen meistens nur als<br />

schlichte Gegebenheit ungeprüft, d.h. als „selbstverständlich“<br />

angesetzt wird.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 25


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

<strong>Alfred</strong> Schütz: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der sozialen<br />

Wirklichkeit, Den Haag 1971.<br />

S. 286: Wir können jetzt einige Merkmale der Epoché der wissenschaftlichen<br />

Einstellung zusammenfassen. In dieser Epoché werden<br />

„eingeklammert“: (1) die Subjektivität des Denkers als Mensch<br />

unter Mitmenschen einschließlich seiner körperlichen Existenz als<br />

psycho-physisches menschliches Wesen in der Welt; (2) das Orientierungssystem,<br />

durch das die Alltagswelt nach der tatsächlichen,<br />

der wiederherstellbaren, der erreichbaren Reichweite usw. gegliedert<br />

ist; (3) die grundlegende Sorge und das in ihr gründende System<br />

pragmatischer Relevanzen.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 26


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S.262: Ich weiß, dass ich sterben werde und fürchte mich davor.<br />

Diese fundamentale Erfahrung wollen wir die grundlegende Sorge<br />

nennen. Dies ist die ursprünglichste Erwartung, der alle anderen<br />

entstammen, - die vielen untereinander verflochtenen Systeme von<br />

Hoffnungen und Befürchtungen, von Wünschen und Erfüllungen,<br />

von Chancen und Wagnissen – die den Menschen in der natürlichen<br />

Einstellung dazu anspornen, die Meisterung der Welt anzustreben,<br />

Hindernisse zu überwinden, Pläne zu entwerfen und sie zu<br />

verwirklichen.<br />

Doch die grundlegende Sorge selbst ist lediglich ein Korrelat unserer<br />

Existenz als menschliches Wesen innerhalb der ausgezeichneten<br />

Wirklichkeit des alltäglichen Lebens. Daher sind unsere Hoffnungen<br />

und Befürchtungen und die mit ihnen verbundenen Erfüllungen<br />

und Enttäuschungen allein in der Wirkwelt verankert und nur in ihr<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 27


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

möglich. Sie sind wesentliche Bestandteile der Realität dieser Welt<br />

des Wirkens, beziehen sich aber nicht auf unseren Glauben an sie.<br />

Im Gegenteil, es ist bezeichnend für die natürliche Einstellung, dass<br />

sie die Welt und ihre Gegenstände – so lange sie nicht in Frage gestellt<br />

werden – als selbstverständlich gegeben hinnimmt. So lange<br />

das einmal festzulegende Bezugsschema, nämlich das System unserer<br />

eigenen und der fremden verbürgten Erfahrungen nicht fehlschlägt,<br />

so lange das Handeln und Tun unter der Anleitung dieses<br />

Schemas den gewünschten Erfolg hat – so lange vertrauen wir diesen<br />

Erfahrungen. Wir sind gar nicht daran interessiert, herauszufinden,<br />

ob diese Welt wirklich existiert oder ob sie nur ein wohlgefügtes<br />

System zusammenhängender Erscheinung ist. Wir haben keinen<br />

Grund, unsere verbürgten Erfahrungen irgendwie zu bezweifeln, von<br />

denen wir annehmen, dass sie uns die Dinge so darbieten wie sie<br />

wirklich sind.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 28


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S. 263: Die Phänomenologie hat den Begriff der Epoché eingeführt.<br />

Sie versteht darunter ein Verfahren, das unseren Glauben an die<br />

Wirklichkeit der Welt ausklammert, um so die natürliche Einstellung<br />

durch eine radikale Weiterentwicklung der Cartesianischen<br />

Methode des philosophischen Zweifels zu überwinden. Man kann<br />

andererseits vielleicht sagen, dass der Mensch in der natürlichen<br />

Einstellung auch eine bestimmte Epoché verwendet, die allerdings<br />

von der des Phänomenologen ganz verschieden ist. Jener klammert<br />

nicht etwa seinen Glauben an die Außenwelt und ihren Gegenständen<br />

aus, sondern, im Gegenteil, seine Zweifel an der Existenz dieser<br />

Welt. Was er „in Klammern setzt,“ ist sein Zweifel daran, dass die<br />

Welt und ihre Gegenstände anders sein könnten, als sie ihm erscheinen.<br />

Wir wollen diese Epoché die Epoché der natürlichen Einstellung<br />

nennen.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 29


Armin Nassehi<br />

Institut für Soziologie<br />

S.363: Durch wechselseitiges Verstehen und Einverständnis wird<br />

somit eine gemeinsame kommunikative Umwelt geschaffen,<br />

innerhalb der die Subjekte sich gegenseitig in ihren<br />

Bewusstseinsaktivitäten motivieren.<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Armin Nassehi Seite 30

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