Abb. Luftbild von Bagdad: „Der Irrgarten der Demokratie“. Es soll <strong>–</strong> laut Unterschrift <strong>–</strong> einen Wahlkampf illustrieren: „Unterwegs in einer Stadt, in der sich Politiker nicht zum Wähler trauen“ (Thomas Avenarius: Finde den Kandidaten. Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2010) Es gibt hier noch keine begriffene räumliche Struktur und keine bekannten sozialen Strukturen und Regeln. Man sieht alles und nichts 6 . Wechseln wir also abermals das Medium. Abb. Weltbeschreibung als Erzählung vom Okzident über den Orient Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami beschreibt die Reise seines Alter Ego, des alten Zirkusdirektors Valentin, nach Damaskus, allerdings in Begleitung von dessen deutscher Freundin Pia, 6 Vgl. Tilman Rhode-Jüchtern (2011): Beyond Geography. The World with wide Eyes. Jena. 9 6
einer Briefträgerin 7 . Die Erzählungen richten sich in den drei hier ausgewählten Ausschnitten auf den Souk von Damaskus (im Atlas ist dies nur ein Grundriss in der einheitlichen Farbsignatur „rotbraun“). Es soll damit nicht nur atmosphärisch dicht erzählt bzw. zugehört werden, sondern hinter der kleinen Erzählung steht die große Erzählung von der Orientalischen Stadt. Beobachtungen, Szenen, Gefühle in Ulania, aufgeschrieben, um nicht zu vergessen und um den Gefühlen meiner Mutter näherzukommen 1. (Valentin) Ich bin wie verzaubert. Mit jedem Schritt. Nach ein paar Schritten bin ich im Innern der Stadt. Mitten in den Adern und Arterien bewege ich mich. Bei uns geht man auf der Haut der Städte und ist nie drinnen. Das Licht der Basare ist anders. Es ist einladend, ohne aufdringlich zu sein. Hier hat die Stadt Gesicht und Geschichte, Charakter und Seele. Sie ist ein atmendes Wesen. Wenn ich durch die Gassen gehe und sehe die Bögen, Säulen, Erker und Arkaden aus dem ersten, zweiten oder fünften Jahrhundert, die immer noch ein Teil der Häuser sind, dann denke ich, wie arm unsere Städte sind. Hier glotzt man sie nicht an wie erstarrte Geschichte, sondern man bewohnt sie. Die Zeit scheint hier stillzustehen, doch Dornröschen wird täglich wachgeküsst. Hier hat alles seinen Namen, seinen Geruch und seine Stimme. (Pia) Ich bin auch im vierten Gang durch den Basar noch entsetzt, dass ich immer gleich in ein Gedränge gerate. So nahe kamen mir fremde Menschen noch nie, nicht einmal bei einer Feier. Alles riecht zu intensiv. Bis zur Straßenmitte stank es aus einer Metzgerei nach Blut und ranzigem Fett. Die überdachten Basare sind mir zu dunkel, und manche Ecke wage ich nicht einmal aus der Nähe anzuschauen, weil ich ahne, dass jemand dort hockt. Ich sehe nur nackte Füße, und das Ganze wirkt bedrohlich. Draußen, wo die Sonne erbarmungslos niederbrennt, weht mir der Staub in den Mund. Und überall diese Marktverkäufer, die ihre Angebote rücksichtslos jedem Vorbeigehenden ins Ohr brüllen. 2. (Valentin) Ich werde nie müde. Hier wartet nach jedem Schritt eine Überraschung. Jede Fußgängerzone langweilt mich nach drei Gängen. Hier gehe ich fast täglich durch den Basar, und er ist immer wieder neu. Der ärmste arabische Verkäufer erzählt mehr als zu Hause das gesamte Personal eines großen Einkaufszentrums. Hier genießt man die Geschichten, und die Ware ist nur ein Anlass, sie zu hören oder zu erzählen. (Pia) Ein friedlicher Mann verwandelt sich, sobald ich nur in die Nähe seines Verkaufstandes komme, in ein lautes, herumfuchtelndes Wesen, das mir irgendetwas andrehen will. Und dann diese Blicke, die die Verkäufer auf die Passanten werfen <strong>–</strong> dagegen ist ein Röntgenstrahl gnädig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir ihr Blick das Kleid versengt. Ich wollte einen Ring für Margret, meine liebste Kollegin, kaufen, also suchte ich einen Goldschmied, und er zeigte mir mehrere Ringe. Einer davon gefiel mir, und wir einigten uns schnell über den Preis. Dann fragte ich, ob der Stein darin ein echter Rubin sei. Der Mann sprach perfekt Englisch, aber ein „yes“ kam ihm nicht über die Lippen. Stattdessen erzählte er mir eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, und plötzlich war der Ring verpackt. Ich habe bezahlt und erst draußen auf der Straße gemerkt, dass ich keine Antwort auf meine Frage erhalten hatte. 3. (Valentin) In der Altstadt spürt man, dass die Menschen viel lachen und dass sie eine Gemeinschaft bilden. Ich begreife langsam, dass Kauf und Verkauf nur die eine, die blasse Seite des Handels sind. Er ist zugleich ein Zeichen von Leben und von der Anerkennung der Vernunft. Mit Toten und Trotteln handelt kein Araber. Heute stand ich lange in der Nähe eines Bettlers, beobachtete ihn und fragte mich, was ihn von einem Bettler in einer Fußgängerzone in Deutschland unterscheidet. Hier verkauft der Bettler wortreich nicht sich, sondern seine Armut und den Nutzen, den jeder Passant davon hat, ihm Gutes zu tun, auf Erden wie im Jenseits. Nabil übersetzte mir die Sätze eines Bettlers. Die reinste Verführung! Bei uns sitzen die Bettler hinter Kartons, auf denen ihr Elend wie eine Gebrauchsanweisung steht. (Pia) Nirgends fühlte ich mich so einsam wie heute hier in den Gassen und im Basar. Mir schien, als würden sich alle kennen und zueinander zu gehören. Ich war die einzige Fremde. In den Fußgängerzonen bin ich fremd unter Fremden, und das ist auch eine Art Geborgenheit. Hier ist jedes Kind, das sich gewandt wie ein Fisch in diesem Meer von Menschen bewegt, sicherer als ich. Die Bettler sind aufdringlich. Dass sie ihre Hand nicht in meine Tasche stecken, ist auch alles. 4. (Valentin) Überfall. Ein großer Junge, dunkelhäutig und mit verwegenem Blick, verfolgte mich im Basar und durch die Gassen. Und dann passte ich Dummkopf nicht auf und geriet in eine Sackgasse. Jetzt denke ich, dass er mich vielleicht sogar dorthin dirigiert hat. Dann plötzlich zückte er ein großes Messer. So etwas 7 Rafik Schami (1995): Reise zwischen Nacht und Morgen. Frankfurt/M. vgl. dazu auch: Tilman Rhode-Jüchtern ( 7 2. 2006): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Wien, 24-37