„Sense(s) of place“ – Narrative Räume – Narrative Geographie
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Furchtbares habe ich seit Indonesien (vor etwa zwanzig Jahren war ich da) nicht gesehen. Ich erklärte ihm,<br />
dass ich ihm mein Geld geben wolle, damit er nicht nervös wurde, wenn ich mein Portemonnaie aus der<br />
hinteren Hosentasche zog. Der Junge war gefährlich. Er wusste, wenn er gefasst wird, erwartet ihn eine<br />
Strafe bis zu lebenslänglicher Haft. Mit dieser Härte reagiert die Regierung hier auf jedes noch so geringe<br />
Vergehen gegen einen Fremden. Zugunsten des einträglichen Fremdenverkehrs lässt sie ein paar schwarze<br />
Schafe über die Klinge springen. Das hat eine große Sicherheit für die Ausländer zur Folge, aber auch eine<br />
gewisse Nervosität bei den Räubern. Man will schnell weg und die Spuren verwischen, was einen Ausländer<br />
wiederum das Leben kosten kann. Ein Teufelskreis!<br />
(Pia) Ein junger Verrückter hielt mich freundlich in einer Gasse auf und machte mir eine Liebeserklärung in<br />
englischer Sprache. Es hörte sich nach einem Zitat aus einer Seifenoper an, ich lachte und wollte<br />
weitergehen. Da wurde er unangenehm und bedrohte mich mit einem rostigen Schraubenzieher. Doch<br />
schnell waren ein paar Nachbarn da, die von ihren Kindern alarmiert wurden. Sie hielten den Verrückten<br />
zurück, entschuldigten sich und baten mich, nicht die Polizei zu rufen, damit sie den Eltern des Jungen keine<br />
Probleme machten.<br />
(aus: RAFIK SCHAMI: Reise zwischen Nacht und Morgen. 1995, S. 322<strong>–</strong>331)<br />
Diese vier Textfragmente dauern im Vorlesen keine fünf Minuten. Jeder Zuhörer kann selbst<br />
beurteilen, ob ihm dieser geringe Zeitaufwand bereits ausgereicht hat, eine Imagination von<br />
Damaskus und dem Souk zu entwickeln. Wenn ja, wäre das eine sehr effektive Narration des<br />
Einzelfalls Damaskus/ des Typus Orientaltische Altstadt/ der Perspektivität der empirischen<br />
Anschauung und des begrifflichen Denkens. <strong>–</strong> Die Perspektive der Pia kann eine Anschließung an<br />
eigene Erfahrungen eröffnen, wenn man aus Deutschland ganz naiv in eine fremde Kultur (und<br />
städtische Räumlichkeit) eintaucht. Schließlich kann hier mit minimalem Aufwand weitergehend<br />
nachgefragt werden: Welche Sozialstruktur lässt sich aus dem Auftreten etwa der Bettler oder des<br />
gewalttätigen Jugendlichen und seiner Eltern bzw. Umgebung erschließen? Welcher Transfer ist<br />
damit möglich auf ähnliche Szenarien in anderer kultureller Umgebung (etwa gewalttätige<br />
Jugendliche bei uns in einer Altstadt)? Was geschieht bei einem Verkauf im Souk zwischen den<br />
Akteuren? Wie bewerten wir diese Befunde? Alles zusammen: Verständnisintensiver<br />
<strong>Geographie</strong>unterricht im narrativen, handlungs- und subjektzentrierten Paradigma. (Wenn wir nun<br />
noch den nicht-kontinuierlichen Text Atlaskarte hinzuziehen, wäre doch die Frage, was wir damit<br />
mehr oder anders erfahren können.)<br />
Gerade in Zeiten der Unübersichtlichkeit und Komplexität kann der Blick durch das Fenster der<br />
Poesie zur Orientierung verhelfen. David Lewis (Sozialpolitologe), Dennis Rodgers<br />
(Wirtschaftsgeograph), beide an der London School <strong>of</strong> Economics und Michael Woolcock (Soziologe)<br />
von der Weltbank erklären in ihrer Schrift „The Fiction <strong>of</strong> Development: Literary Representation as a<br />
Source <strong>of</strong> Authoritative Knowledge” (Journal <strong>of</strong> Developmental Studies Heft 2/2008):<br />
“Trotz einer regelmäßigen Produktion von akademischen Studien, Expertenberichten und<br />
strategisch motivierten Positionspapieren leisten Romanautoren vermutlich ebenso gute <strong>–</strong><br />
wenn nicht bessere <strong>–</strong> Arbeit, wenn es um die Darstellung und Vermittlung von Tatsachen der<br />
internationalen Entwicklung geht.“<br />
Beispiel 2: Signifikative <strong>Geographie</strong> - Der Blaue Strich<br />
<strong>Räume</strong>n eignen verschiedenste Eigenschaften, die aber erst durch subjektive Entzifferung evident<br />
und wichtig werden. Wir betreten z.B. eine Passage im öffentlichen Raum („public space“)und es<br />
fallen uns zunächst nur die Läden und Stände auf, Verkaufen, Verzehren und Dienstleistung sind<br />
schließlich die <strong>of</strong>fenkundigen und bestimmungsgemäßen Funktion. Die Passage bietet die Läden dar<br />
und diese werden von den Nutzern erkannt. Es könnte aber sein, dass im Winter Menschen hier nur<br />
Wärme suchen. Oder dass hier unerkannt bestimmte Geschäfte mit Drogen gemacht werden. Oder<br />
dass hier Jugendliche durch bloße Präsenz einen Angstraum erzeugen.<br />
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