„Sense(s) of place“ – Narrative Räume – Narrative Geographie
„Sense(s) of place“ – Narrative Räume – Narrative Geographie
„Sense(s) of place“ – Narrative Räume – Narrative Geographie
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Tilman Rhode-Jüchtern (2012)<br />
(Tilman.Rhode-Juechtern@uni-jena.de)<br />
<strong>„Sense</strong>(s) <strong>of</strong> <strong>place“</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>Narrative</strong> <strong>Räume</strong> <strong>–</strong> <strong>Narrative</strong> <strong>Geographie</strong><br />
Was ist ein Ei? Eigentlich eine einfache Frage. Aber so kann man die Frage nicht stellen, denn ein Ei<br />
ist nicht einfach ein Ei. Es ist vielmehr ein Ei aus der Sicht eines Architekten, einer Lehrerin, eines<br />
Designers, eines Physikers. Oder es ist ein Ei mit einer bestimmten hier beachteten Eigenschaft. Das<br />
Ei hat zwar eine Reihe von objektiven Eigenschaften, z.B. seine Form. Aber das allein sagt noch nicht<br />
viel, jedenfalls nicht alles aus; vielmehr sagen die Betrachter etwas aus über das Ei.<br />
Auch Architekten fragen sich:<br />
Wie sieht ein Designer-Ei aus, wie ein Informatiker-Ei, wie ein Lehrerinnen-Ei??<br />
So ist das auch mit <strong>Räume</strong>n. <strong>Räume</strong> sind „Container“ oder „Systeme von Lagebeziehungen“ oder eine<br />
„Kategorie der Sinneswahrnehmung“ oder „Soziale, technische oder politische Konstruktionen“ <strong>–</strong><br />
diese Definitionen finden wir im Dokument „Curriculum 2000+“ der Deutschen Gesellschaft für<br />
1
<strong>Geographie</strong> (DGfG), in dem möglichst alle Geographen verschiedener Fraktionen ihren Gegenstand<br />
wieder erkennen sollen. Immer steht dabei das Wort „<strong>Räume</strong>“ in Anführungsstrichen, denn wir<br />
beschäftigen uns mit <strong>Räume</strong>n nicht nur als äußerliche fixe Gegenstände. Wir erkennen und<br />
definieren einen interessanten Aspekt aus einer bestimmten Perspektive und dann kommunizieren<br />
wir darüber. Dafür fassen wir den „Raum“ in Texte. Auch ein Planer, der den Raum als äußeren<br />
Gegenstand behandelt, auf Wirkungen reagiert und Eingriffe vorbereitet, tut nichts anderes.<br />
„Raum als Text“? Kein Problem. Sogar Karten sollen „Texte“ sein, nämlich „nicht-kontinuierliche“<br />
Texte; dazu gehören außerdem Tabellen, Listen, Grafiken, Diagramme, Schaubilder. Man kann sich<br />
<strong>Räume</strong> und räumliche Probleme also vielfältig in Texten und als Texte wiedergegeben vorstellen; sie<br />
werden, wie alle Texte, geschrieben, gelesen und verstanden. Diese Texte funktionieren wie<br />
sprachliche Systeme (langue) und in praktischer Kommunikation (parole). Sie haben zudem eine<br />
bestimmte Oberflächen- und eine unbestimmte Tiefenstruktur.<br />
Zwei Minuten Theorie<br />
Textverstehen kann nach dem literacy-Konzept der PISA-Studie als ein Prozess angesehen werden:<br />
Informationen ermitteln, textbezogenes Interpretieren, Reflektieren und Bewerten. Neben der<br />
Information, die der Text liefert, trägt der Rezipient eigenes Wissen an den Text heran:<br />
� Textstrukturwissen: Wissen über den Aufbau von Texten, Textsorten, Funktionen von<br />
Textteilen.<br />
� Weltwissen: Wissen über Sachverhalte, die in einem Text behandelt werden. Dieses Wissen<br />
ist in einer spezifischen Weise organisiert: in Typen, in Mustern und Schemata, in Szenarien.<br />
Daneben ist zu bedenken, dass Textverstehen in einem Kommunikationsprozess entsteht; dieser ist<br />
ggf. als solcher zu erkennen (Absichten des Produzenten und des Rezipienten, Interessen,<br />
Decodierfähigkeiten, Konventionen etc.). Indem neben den textlichen Informationen auch eigenes<br />
Vorwissen und Vorleben zum Aufbau der Textbedeutung beitragen, wird auch das Textverstehen ein<br />
konstruktiver Prozess. 1<br />
1<br />
Der Lingust und Erzähltheoretiker Sigfried J. Schmidt bindet in seinem Buch „Geschichten und Diskurse.<br />
Abschied vom Konstruktivismus“ (2003) die Erzählung/ Geschichte (als Handlungszusammenhang) an den<br />
Diskurs (als sozialen Kommunikationszusammenhang):„Unter Geschichte verstehe ich einen unter einer<br />
Sinnkategorie (von sinnvoll bis sinnlos) geordneten Zusammenhang von Handlungsfolgen eines Aktanten.<br />
Geschichten entstehen durch die intrinsische Verkettung bzw. Vernetzung von Handlungen in der Weise, dass<br />
jede Handlung als Setzung von Voraussetzungen zur Voraussetzung von für nachfolgende Handlungen wird und<br />
so weiter. Jeder Aktant lebt seine und lebt in seiner Geschichte aus Geschichten, also in einem von ihm selbst<br />
bewusst geordneten oder aber sich in seiner Lebenspraxis gleichsam selbst ordnenden Zusammenhang von<br />
Handlungsfolgen, den er durch Bezug auf sich zu für ihn sinnvollen Geschichten synthetisiert.“ (S. 49).<br />
„Geschichte und Diskurse bilden in ihrer Gesamtheit einen eigenen komplementären Wirkungszusammenhang,<br />
der in der Beobachtung doppelt perspektivierbar ist, …“ (S. 53) „Abschied vom Konstruktivismus“ bedeutet für<br />
Schmidt in diesem Zusammenhang vermutlich Abschied vom „Radikalen“ Konstruktivismus. Der<br />
Sinnzusammenhang einer Geschichte entsteht immer aus einem Zusammenspiel von subjektiver und sozialer<br />
Sinnzuweisung. Textstrukturwissen und Weltwissen fallen also dem Subjekt nicht einfach als Individuum in den<br />
Schoß.<br />
2
Abb. „Landkarte des eigenen Lebens“: Diese Karikatur erinnert uns an die individuellen Prägungen in der<br />
Weltaneignung. Auf diesen Denkpfaden erfahren wir „die“ als unsere Welt.<br />
Abb: „In die Wupper“ <strong>–</strong> Diese Karikatur erinnert an die <strong>–</strong> individuellen oder kollektiven <strong>–</strong> Blinden Flecken und<br />
Tunnelblicke und Sprachspiele in der kommunikativen Deutung von Welt.<br />
Neben dem Verstehensprozess ist die Dimension der Sachaspekte zu bedenken. Dinge/ Orte/<br />
„<strong>Räume</strong>“ haben verschiedene Eigenschaften, die ihnen eingeschrieben, aber nicht immer klar lesbar<br />
sind bzw. nicht allesamt gelesen werden. Diese Eigenschaften werfen als Aspekte selektiert und in<br />
Texten aktiv angeordnet/ hergestellt/ konstituiert; danach werden sie passiv rezipiert/ interpretiert/<br />
synthetisiert. Im Falle räumlicher Gegenstände spricht man von „Spacing“. Das Spacing vollzieht sich<br />
nicht einfach „aktiv“ als unbegrenzte Mitteilung, sondern im Rahmen bereits begriffener räumlicher<br />
Strukturen; das Interpretieren geschieht umgekehrt nicht einfach „passiv“ , sondern aufgrund von<br />
bereits bekannten und angeeigneten sozialen Strukturen und Regeln <strong>–</strong> wie in der „Landkarte des<br />
eigenen Lebens“ ableitbar.<br />
Aus diesen Raum-Texten entstehen <strong>–</strong> neben Daten und Informationen <strong>–</strong> bestimmte Atmosphären,<br />
Emotionen und Ortsbezüge (<strong>„Sense</strong> <strong>of</strong> <strong>place“</strong>), Topophilien und Topophobien, Einschluss und<br />
Ausschluss. „Emotionale Ortsbezogenheit“ ist nicht nur für Insider möglich, die für einen bestimmten<br />
3
Ort Gefühle aufgrund persönlicher Erfahrungen, Erinnerungen und symbolhaften Bedeutungen<br />
entwickeln; der Begriff kann sich ebenso darauf beziehen, „wie der Charakter eines Ortes, dessen<br />
spezifische physische Merkmale und/oder die seiner Bewohner, von Außenstehenden (outsiders)<br />
wahrgenommen wird.“ (Knox/ Marston 2008, 386 2 ). In der Didaktik und Pädagogik sprechen wir von<br />
der subjektiven Anschließung und vom imaginativen, verständnisintensiven Lernen.<br />
Erkenntnistheoretisch ist die Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive von Belang, um zu<br />
klären: Wer spricht und aus welcher Perspektive? Dies wiederum ist wichtig, um essentialistischen<br />
Aussagen („Es ist so!“) aus dem Weg zu gehen und die Relativität und Relationalität geographischer<br />
Erkenntnisse zu betonen („Ist es so?“).<br />
Reiseberichte und Reiseführer zum Beispiel bedienen sich aus diesem Bedeutungs-Fundus aus<br />
Alltagserfahrung, Vorstellungen und Imaginationen in besonderer Weise. In dem Buch „Nie wieder! <strong>–</strong><br />
Die schlimmsten Reisen der Welt“ bietet Hans Magnus Enzensberger (1995) 3 ein weltweites<br />
Panorama von subjektiven Ortsbeschreibungen, von Frankfurt am Main über Irland bis Katmandu<br />
und Tokio dar. Auch der hochgerühmte Soziologe Richard Sennett (1994, 168f) macht z.B. seine<br />
Beschreibung von Manhattan im Rahmen eines persönlichen Stadtspazierganges intensiv und<br />
sinnlich nachvollziehbar 4 . Und er bringt dies auf den Begriff: Eine „fragmentierte Stadt“ wird von<br />
einem „fragmentierten Selbst” chamäleonartig in „segmentierten Rollen” erfahren; so sehen es auch<br />
die Stadtsoziologen der Chicagoer Schule.<br />
Die narrative Methode und die Mehrperspektivität sind dafür ein/das Konzept. „Eine Frau, die nur in<br />
den Kategorien männlich/weiblich denkt, ein Geschäftsmann, der nur in den Kategorien reich/arm<br />
denkt, ein Jamaikaner, der nur in den Kategorien weiß/schwarz denkt <strong>–</strong> sie alle erlangen von der<br />
Außenwelt wenig Anregung.“ (Sennett 1994, 167) Das ließe sich auch auf einen Schüler übertragen:<br />
Ein Schüler, der nur in den Kategorien gute Note/ schlechte Note denkt, erlangt von der Schule wenig<br />
Anregung.<br />
Die Kategorien des Spacing und „sense <strong>of</strong> space“ erweisen sich als doppeldeutig-hilfreich: Es geht bei<br />
„sense“/ „Sinn“ nicht nur um die sinnliche Wahrnehmung, sondern zugleich um Bedeutung und<br />
Verstand. (Dies könnte für unsere Zwecke gut bei Kant und seiner transzendentalen Ästhetik in der<br />
„Kritik der reinen Vernunft“ nachgelesen werden: Für ihn bilden empirische Anschauung und<br />
begriffliches Denken zusammen die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“).<br />
Drei Beispiele<br />
Diese einerseits selbstverständlichen, andererseits komplizierten Wechselwirkungen sollen jetzt an<br />
drei Beispielen entziffert werden: Ortsbedeutungen (Rafik Schami: Damaskus), Ortssymbole („Der<br />
Blaue Strich“), Ortsfunktionen (Projekt Migropolis: Venedig). Daran kann diskutiert werden,<br />
inwieweit die Figur „Raum als Text“ bzw. <strong>„Sense</strong>(s) <strong>of</strong> Space“ geeignet ist, im Fachunterricht die Welt<br />
wahrnehmbar, vorstellbar und begreifbar zu machen und darin eine bewusste und reflektierte<br />
Kognitionsleistung zu erkennen. Mehr noch: Diese Erkenntnis auf den zwei Stämmen Anschauung<br />
und begriffliches Denken kann sich als die tragfähige verständnisintensive Didaktik erweisen, wo<br />
wissensbasierte und testorientierte Instruktion mittel- und langfristig versagen. Noch mehr: Auch in<br />
der Fachwissenschaft hat sich das Paradigma der Handlungs- und Subjektzentrierung etabliert, das in<br />
besonderer Weise die Mensch-Natur-Verhältnisse fokussiert.<br />
2 Paul L. Knox/ Sallie A. Marston: Humangeographie. Hgg. Von Hans Gebhardt, Peter Meusburger, Doris Wastl-Walter<br />
( 4. 2004). Heidelberg (orig. 2007: Places and Regions in Global Context <strong>–</strong> Human Geography)<br />
3 Hans Magnus Enzensberger (Hg)(1995): Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt. Frankfurt/M.<br />
4 Richard Sennett (1994): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt/M. (orig. The Conscience <strong>of</strong> the<br />
Eye. The Design and Social Life <strong>of</strong> Cities. 1990)<br />
4
Beispiel 1: Das Fenster der Poesie - Reise zwischen Nacht und Morgen<br />
Angenommen, im Lehrplan ist die „Orientalische Stadt“ zu behandeln. Dann kann es sein, dass die<br />
Schüler zu Beginn mit einer Atlaskarte 5 konfrontiert werden, womöglich mit der Frage “Was seht<br />
Ihr?“<br />
Zwar ist die Karte auch ein Text, aber sie ist zunächst keine Erzählung. Sie hat als solche keine<br />
Anschließung, keinen Kontext und keine Problemstellung. Was kann man dann mehr tun, als das<br />
Kartenbild mithilfe der Legende zu reproduzieren?<br />
Abb.: „Damaskus <strong>–</strong> Orientalische Stadt“ (aus: Diercke 2008, 161)<br />
Ähnlich dürfte es dem Betrachter mit dem Luftbild von Bagdad, dem Schauplatz von<br />
„Tausendundeine Nacht“ gehen. Auch ein Luftbild ist ein Text und doch nicht selbsterklärend. Es<br />
muss interpretiert werden. Überschrift und Unterschrift sind bereits geronnene Interpretationen<br />
bzw. Vorentscheidungen darüber, was interpretiert werden soll.<br />
5<br />
Z.B. Diercke Weltatlas (2008): Damaskus <strong>–</strong> Orientalische Stadt. Maßstab 1:25.000. 161 (7)<br />
5
Abb. Luftbild von Bagdad: „Der Irrgarten der Demokratie“. Es soll <strong>–</strong> laut Unterschrift <strong>–</strong> einen Wahlkampf<br />
illustrieren: „Unterwegs in einer Stadt, in der sich Politiker nicht zum Wähler trauen“<br />
(Thomas Avenarius: Finde den Kandidaten. Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2010)<br />
Es gibt hier noch keine begriffene räumliche Struktur und keine bekannten sozialen Strukturen und<br />
Regeln. Man sieht alles und nichts 6 . Wechseln wir also abermals das Medium.<br />
Abb. Weltbeschreibung<br />
als Erzählung vom Okzident über den Orient<br />
Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami beschreibt die Reise seines Alter Ego, des alten<br />
Zirkusdirektors Valentin, nach Damaskus, allerdings in Begleitung von dessen deutscher Freundin Pia,<br />
6<br />
Vgl. Tilman Rhode-Jüchtern (2011): Beyond Geography. The World with wide Eyes. Jena. 9<br />
6
einer Briefträgerin 7 . Die Erzählungen richten sich in den drei hier ausgewählten Ausschnitten auf den<br />
Souk von Damaskus (im Atlas ist dies nur ein Grundriss in der einheitlichen Farbsignatur „rotbraun“).<br />
Es soll damit nicht nur atmosphärisch dicht erzählt bzw. zugehört werden, sondern hinter der kleinen<br />
Erzählung steht die große Erzählung von der Orientalischen Stadt.<br />
Beobachtungen, Szenen, Gefühle in Ulania, aufgeschrieben, um nicht zu vergessen und um den Gefühlen<br />
meiner Mutter näherzukommen<br />
1. (Valentin) Ich bin wie verzaubert. Mit jedem Schritt. Nach ein paar Schritten bin ich im Innern der Stadt.<br />
Mitten in den Adern und Arterien bewege ich mich. Bei uns geht man auf der Haut der Städte und ist nie<br />
drinnen. Das Licht der Basare ist anders. Es ist einladend, ohne aufdringlich zu sein. Hier hat die Stadt<br />
Gesicht und Geschichte, Charakter und Seele. Sie ist ein atmendes Wesen. Wenn ich durch die Gassen gehe<br />
und sehe die Bögen, Säulen, Erker und Arkaden aus dem ersten, zweiten oder fünften Jahrhundert, die<br />
immer noch ein Teil der Häuser sind, dann denke ich, wie arm unsere Städte sind. Hier glotzt man sie nicht<br />
an wie erstarrte Geschichte, sondern man bewohnt sie. Die Zeit scheint hier stillzustehen, doch<br />
Dornröschen wird täglich wachgeküsst.<br />
Hier hat alles seinen Namen, seinen Geruch und seine Stimme.<br />
(Pia) Ich bin auch im vierten Gang durch den Basar noch entsetzt, dass ich immer gleich in ein Gedränge<br />
gerate. So nahe kamen mir fremde Menschen noch nie, nicht einmal bei einer Feier. Alles riecht zu intensiv.<br />
Bis zur Straßenmitte stank es aus einer Metzgerei nach Blut und ranzigem Fett. Die überdachten Basare sind<br />
mir zu dunkel, und manche Ecke wage ich nicht einmal aus der Nähe anzuschauen, weil ich ahne, dass<br />
jemand dort hockt. Ich sehe nur nackte Füße, und das Ganze wirkt bedrohlich.<br />
Draußen, wo die Sonne erbarmungslos niederbrennt, weht mir der Staub in den Mund. Und überall diese<br />
Marktverkäufer, die ihre Angebote rücksichtslos jedem Vorbeigehenden ins Ohr brüllen.<br />
2. (Valentin) Ich werde nie müde. Hier wartet nach jedem Schritt eine Überraschung. Jede Fußgängerzone<br />
langweilt mich nach drei Gängen. Hier gehe ich fast täglich durch den Basar, und er ist immer wieder neu.<br />
Der ärmste arabische Verkäufer erzählt mehr als zu Hause das gesamte Personal eines großen<br />
Einkaufszentrums. Hier genießt man die Geschichten, und die Ware ist nur ein Anlass, sie zu hören oder zu<br />
erzählen.<br />
(Pia) Ein friedlicher Mann verwandelt sich, sobald ich nur in die Nähe seines Verkaufstandes komme, in ein<br />
lautes, herumfuchtelndes Wesen, das mir irgendetwas andrehen will. Und dann diese Blicke, die die<br />
Verkäufer auf die Passanten werfen <strong>–</strong> dagegen ist ein Röntgenstrahl gnädig. Manchmal habe ich das Gefühl,<br />
dass mir ihr Blick das Kleid versengt.<br />
Ich wollte einen Ring für Margret, meine liebste Kollegin, kaufen, also suchte ich einen Goldschmied, und er<br />
zeigte mir mehrere Ringe. Einer davon gefiel mir, und wir einigten uns schnell über den Preis. Dann fragte<br />
ich, ob der Stein darin ein echter Rubin sei. Der Mann sprach perfekt Englisch, aber ein „yes“ kam ihm nicht<br />
über die Lippen. Stattdessen erzählte er mir eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, und<br />
plötzlich war der Ring verpackt. Ich habe bezahlt und erst draußen auf der Straße gemerkt, dass ich keine<br />
Antwort auf meine Frage erhalten hatte.<br />
3. (Valentin) In der Altstadt spürt man, dass die Menschen viel lachen und dass sie eine Gemeinschaft bilden.<br />
Ich begreife langsam, dass Kauf und Verkauf nur die eine, die blasse Seite des Handels sind. Er ist zugleich<br />
ein Zeichen von Leben und von der Anerkennung der Vernunft. Mit Toten und Trotteln handelt kein Araber.<br />
Heute stand ich lange in der Nähe eines Bettlers, beobachtete ihn und fragte mich, was ihn von einem<br />
Bettler in einer Fußgängerzone in Deutschland unterscheidet. Hier verkauft der Bettler wortreich nicht sich,<br />
sondern seine Armut und den Nutzen, den jeder Passant davon hat, ihm Gutes zu tun, auf Erden wie im<br />
Jenseits. Nabil übersetzte mir die Sätze eines Bettlers. Die reinste Verführung! Bei uns sitzen die Bettler<br />
hinter Kartons, auf denen ihr Elend wie eine Gebrauchsanweisung steht.<br />
(Pia) Nirgends fühlte ich mich so einsam wie heute hier in den Gassen und im Basar. Mir schien, als würden<br />
sich alle kennen und zueinander zu gehören. Ich war die einzige Fremde. In den Fußgängerzonen bin ich<br />
fremd unter Fremden, und das ist auch eine Art Geborgenheit. Hier ist jedes Kind, das sich gewandt wie ein<br />
Fisch in diesem Meer von Menschen bewegt, sicherer als ich.<br />
Die Bettler sind aufdringlich. Dass sie ihre Hand nicht in meine Tasche stecken, ist auch alles.<br />
4. (Valentin) Überfall. Ein großer Junge, dunkelhäutig und mit verwegenem Blick, verfolgte mich im Basar und<br />
durch die Gassen. Und dann passte ich Dummkopf nicht auf und geriet in eine Sackgasse. Jetzt denke ich,<br />
dass er mich vielleicht sogar dorthin dirigiert hat. Dann plötzlich zückte er ein großes Messer. So etwas<br />
7<br />
Rafik Schami (1995): Reise zwischen Nacht und Morgen. Frankfurt/M. vgl. dazu auch: Tilman Rhode-Jüchtern<br />
(<br />
7<br />
2. 2006): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Wien, 24-37
Furchtbares habe ich seit Indonesien (vor etwa zwanzig Jahren war ich da) nicht gesehen. Ich erklärte ihm,<br />
dass ich ihm mein Geld geben wolle, damit er nicht nervös wurde, wenn ich mein Portemonnaie aus der<br />
hinteren Hosentasche zog. Der Junge war gefährlich. Er wusste, wenn er gefasst wird, erwartet ihn eine<br />
Strafe bis zu lebenslänglicher Haft. Mit dieser Härte reagiert die Regierung hier auf jedes noch so geringe<br />
Vergehen gegen einen Fremden. Zugunsten des einträglichen Fremdenverkehrs lässt sie ein paar schwarze<br />
Schafe über die Klinge springen. Das hat eine große Sicherheit für die Ausländer zur Folge, aber auch eine<br />
gewisse Nervosität bei den Räubern. Man will schnell weg und die Spuren verwischen, was einen Ausländer<br />
wiederum das Leben kosten kann. Ein Teufelskreis!<br />
(Pia) Ein junger Verrückter hielt mich freundlich in einer Gasse auf und machte mir eine Liebeserklärung in<br />
englischer Sprache. Es hörte sich nach einem Zitat aus einer Seifenoper an, ich lachte und wollte<br />
weitergehen. Da wurde er unangenehm und bedrohte mich mit einem rostigen Schraubenzieher. Doch<br />
schnell waren ein paar Nachbarn da, die von ihren Kindern alarmiert wurden. Sie hielten den Verrückten<br />
zurück, entschuldigten sich und baten mich, nicht die Polizei zu rufen, damit sie den Eltern des Jungen keine<br />
Probleme machten.<br />
(aus: RAFIK SCHAMI: Reise zwischen Nacht und Morgen. 1995, S. 322<strong>–</strong>331)<br />
Diese vier Textfragmente dauern im Vorlesen keine fünf Minuten. Jeder Zuhörer kann selbst<br />
beurteilen, ob ihm dieser geringe Zeitaufwand bereits ausgereicht hat, eine Imagination von<br />
Damaskus und dem Souk zu entwickeln. Wenn ja, wäre das eine sehr effektive Narration des<br />
Einzelfalls Damaskus/ des Typus Orientaltische Altstadt/ der Perspektivität der empirischen<br />
Anschauung und des begrifflichen Denkens. <strong>–</strong> Die Perspektive der Pia kann eine Anschließung an<br />
eigene Erfahrungen eröffnen, wenn man aus Deutschland ganz naiv in eine fremde Kultur (und<br />
städtische Räumlichkeit) eintaucht. Schließlich kann hier mit minimalem Aufwand weitergehend<br />
nachgefragt werden: Welche Sozialstruktur lässt sich aus dem Auftreten etwa der Bettler oder des<br />
gewalttätigen Jugendlichen und seiner Eltern bzw. Umgebung erschließen? Welcher Transfer ist<br />
damit möglich auf ähnliche Szenarien in anderer kultureller Umgebung (etwa gewalttätige<br />
Jugendliche bei uns in einer Altstadt)? Was geschieht bei einem Verkauf im Souk zwischen den<br />
Akteuren? Wie bewerten wir diese Befunde? Alles zusammen: Verständnisintensiver<br />
<strong>Geographie</strong>unterricht im narrativen, handlungs- und subjektzentrierten Paradigma. (Wenn wir nun<br />
noch den nicht-kontinuierlichen Text Atlaskarte hinzuziehen, wäre doch die Frage, was wir damit<br />
mehr oder anders erfahren können.)<br />
Gerade in Zeiten der Unübersichtlichkeit und Komplexität kann der Blick durch das Fenster der<br />
Poesie zur Orientierung verhelfen. David Lewis (Sozialpolitologe), Dennis Rodgers<br />
(Wirtschaftsgeograph), beide an der London School <strong>of</strong> Economics und Michael Woolcock (Soziologe)<br />
von der Weltbank erklären in ihrer Schrift „The Fiction <strong>of</strong> Development: Literary Representation as a<br />
Source <strong>of</strong> Authoritative Knowledge” (Journal <strong>of</strong> Developmental Studies Heft 2/2008):<br />
“Trotz einer regelmäßigen Produktion von akademischen Studien, Expertenberichten und<br />
strategisch motivierten Positionspapieren leisten Romanautoren vermutlich ebenso gute <strong>–</strong><br />
wenn nicht bessere <strong>–</strong> Arbeit, wenn es um die Darstellung und Vermittlung von Tatsachen der<br />
internationalen Entwicklung geht.“<br />
Beispiel 2: Signifikative <strong>Geographie</strong> - Der Blaue Strich<br />
<strong>Räume</strong>n eignen verschiedenste Eigenschaften, die aber erst durch subjektive Entzifferung evident<br />
und wichtig werden. Wir betreten z.B. eine Passage im öffentlichen Raum („public space“)und es<br />
fallen uns zunächst nur die Läden und Stände auf, Verkaufen, Verzehren und Dienstleistung sind<br />
schließlich die <strong>of</strong>fenkundigen und bestimmungsgemäßen Funktion. Die Passage bietet die Läden dar<br />
und diese werden von den Nutzern erkannt. Es könnte aber sein, dass im Winter Menschen hier nur<br />
Wärme suchen. Oder dass hier unerkannt bestimmte Geschäfte mit Drogen gemacht werden. Oder<br />
dass hier Jugendliche durch bloße Präsenz einen Angstraum erzeugen.<br />
8
Es kann auch sein, dass im Rahmen eines sozialräumlichen Experimentes Schüler hier ein kleines<br />
gepflegtes Frühstück am Rande der Fußgängerströme einrichten; sie sitzen nichtstörend auf dem<br />
Boden. Es kann dann sein, dass s<strong>of</strong>ort ein Ladenbetreiber oder ein Sicherheitsmensch kommt und<br />
dies untersagt. Begründung: Es handele sich um privaten Raum. Die Öffentlichkeit des Raumes<br />
kollidiert nun plötzlich mit dieser Zuschreibung „Privat“. Auf die Frage, wie man diese<br />
Unterscheidung erkennen und den Platzverweis legitimieren könne, wird auf einen „Blauen Strich“<br />
verwiesen.<br />
Abb.: Der „Blaue Strich“<br />
bedeutet vielleicht weiter nichts/ ein Ornament/ eine Grenze/ einen Rechtsstatus/ ein ???<br />
Auflösung: Dieser Blaue Strich verläuft etwa einen Meter vor den Schaufenstern und markiert das mit<br />
gemietete „Hoheitsgebiet“ der Läden. Die räumliche Signatur fällt erst dann und nur denen auf, die<br />
eine zunächst unsichtbare Eigenschaft des Raumes durch ihr Handeln <strong>of</strong>fenbar werden lassen. Der<br />
Blaue Strich ist eine heimliche Erzählung über die zwei genannten Raumeigenschaften , nämlich<br />
öffentliches Wegerecht und privates Eigentumsrecht ; diese werden aber nur einigen der vielen<br />
Nutzer <strong>of</strong>fenbar gemacht. Der Blaue Strich ist nicht selbsterklärend wie etwa ein Stacheldraht oder<br />
eine Lichtschranke mit Sirene. Er ist signifikativ, gibt dem Raum Struktur, und diese wird den<br />
handelnden Subjekten nur im Zweifel und im Einzelfall auch noch in Worten erläutert.<br />
9
Der Blaue Strich vermittelt zwischen räumlicher Struktur und raumgebundener Handlung. Damit<br />
befinden wir uns in einem grundsätzlichen Kategorienpaar der Sozialwissenschaften und zugleich der<br />
<strong>Geographie</strong>: Struktur und Handlung. 8<br />
Wenn man diese Funktionsweise des Blauen Strichs und seine Exemplarität verstanden hat, wird der<br />
Transfer leicht fallen und für Schüler reizvoll sein. Wo und wie wird im Raum Macht ausgeübt, in<br />
welcher Art und Weise? Gibt es verschiedene Raum- und Symboldeutungen, gibt es die Möglichkeit<br />
der Gegenmacht und <strong>–</strong>definition? Welche Medien und Methoden werden dafür genutzt? Polizei,<br />
Menschenmenge, Drohungen, Gespräch, Vereinbarungen auf Zeit etc.? Was lässt sich daraus für die<br />
Funktionsweise der Gesellschaft schließen über Definitionsmacht, vorauseilenden Gehorsam,<br />
Zusammenleben und Koexistenz, Werte/Normen und Gebräuche?<br />
Beispiel 3: Funktionsfolien einer Stadt - Venedig mit <strong>of</strong>fenen Augen<br />
Das große Buchprojekt „Migropolis“ stellt uns Venedig mit einem weiten Blick vor, genauer: in einem<br />
ersten, einem zweiten und einem dritten Blick. Tausende von Bildern, Grafiken, Karten, Interviews<br />
und Erläuterungen durchstöbern Venedig als eine „Generic City“, also eine typische<br />
„gattungsmäßige“ Stadt in der Globalisierung <strong>–</strong> ganz anders als ein Reiseführer oder Bildband. Wer<br />
Venedig besucht, wird zunächst dieselben Gegenstände sehen wie jeder andere, aber er wird sie auf<br />
eigene Weise sehen. Und wer Venedig zweimal besucht, wird neue Dinge dazu und schon gesehene<br />
Dinge anders sehen.<br />
Machen wir dazu einen Versuch in zwei Spaziergängen. Zunächst sehen wir das Erwartete und<br />
Typische, manchmal etwas Irritierendes. 9<br />
Abb.: Titel des Buches „Migropolis“ <strong>–</strong><br />
Gondel, Postkarten-Ensemble (teilweise wg. Renovierungsarbeiten zugehängt)<br />
8 Vgl. Rhode-Jüchtern, T. (1999): Der blaue Strich. Zur Handlungsbedeutung aktionsräumlicher Zeichen. In: Geographische<br />
Zeitschrift 3/1999, S. 211-222.<br />
9 Vgl. Rhode-Jüchtern, T. (2011): „Beyond Geography!? <strong>–</strong> The World with wide Eyes”. A Course in 4 Steps.<br />
(Sozialgeographische Manuskripte 13/2011). Universität Jena, Lehrstuhl für Sozialgeographie, 07740 Jena<br />
10
Wolkengebirge über Venedig<br />
Bettlerin<br />
Freudlose Frau<br />
11
)<br />
Straßenhändler<br />
Chinesische Touristen<br />
Schiffe auf dem Giudecca-Kanal<br />
12
An den Kreuzfahrtschiffen “Legend <strong>of</strong> the Seas” und „Zenith“<br />
Typische Gondelszene<br />
Wir machen uns noch einmal auf den Weg, wir sehen dieselben Dinge. Aber wir sehen jetzt etwas<br />
anderes.<br />
13
Die Gondel zeigt uns Fahrgäste mit dunkler Hautfarbe<br />
und blauen Säcken statt Rollk<strong>of</strong>fern.<br />
Die Renovierungsplanen vor den „Postkartengebäuden“ sind Reklametafeln<br />
Die Wolken stammen aus einem großen Industriegebiet.<br />
14
Die alte Bettlerin entpuppt sich als ein junger Mann,<br />
der seine junge Haut meist in Wollhandschuhen verbirgt,<br />
auch im Sommer, nun schon im fünften Jahr.<br />
Die ältere Frau ist eine Putzfrau aus Moldawien,<br />
deren Pass nicht mehr gültig ist und deren Visum abgelaufen ist;<br />
damals kostete es 2000 DM, jetzt wären es 5000 €.<br />
15
Die Menschen auf der Gondel sind Straßenhändler mit gefälschten Markenartikeln;<br />
sie fliehen vor der Polizei, sind aber Minuten später wieder da.<br />
Die Chinesinnen wollen Gucci-Taschen kaufen;<br />
deshalb knibbeln die Händler die „Made in China“-Aufkleber vorher ab.<br />
16
Das Schiff zeigt seine enorme Größe im Verhältnis zu den Proportionen der Stadt Venedig;<br />
ihre Abgase machen die Luft von Venedig zur drittschlechtesten in ganz Italien.<br />
Der weiße Strich ist eine Abstandslinie zum Kreuzfahrtschiff;<br />
nur Passagiere dürfen diese übertreten.<br />
17
Die Idylle von Venedig<br />
ist in Wirklichkeit eine Kulisse in der Casinostadt Macau;<br />
die andere Idylle ist eine Filmkulisse in Luxemburg.<br />
Jede Situation, jedes Bild enthält eine Tiefenstruktur, die eine andere oder weitere Wirklichkeit<br />
enthält. Man sieht sie aber nur, wenn man danach sucht, z.B. die Bettlerin stunden- oder tagelang<br />
beobachtet. Man kann die neuen Bedeutungen als Ergebnis eines Zweiten Blicks bezeichnen. Aber<br />
damit ist man noch nicht fertig, es gibt noch einen Dritten Blick. Wenn wir die alte Bettlerin als<br />
jungen Mann entlarvt haben <strong>–</strong> was bedeutet denn diese inhaltliche Verschiebung? Gibt man einem<br />
jungen Bettler nichts, einer alten Bettlerin aber doch? Hat ein junger Mann keinen Hunger? Oder hat<br />
er keinen Hunger, weil er Mitglied einer organisierten Bettlergruppe ist? Hat er kein Recht auf eine<br />
Geschäftsidee, die auf Täuschung beruht? Welche Moral verwenden wir für ihn innerhalb unserer<br />
Moral oder wohin verweisen wir ihn? Nach der Betrachtung einer Oberfläche <strong>–</strong> im Ersten Blick <strong>–</strong><br />
stoßen wir auf überraschende Erklärungen <strong>–</strong> Zweiter Blick <strong>–</strong> und beurteilen und bewerten diese im<br />
Rahmen einer bestimmten Problemstellung <strong>–</strong> Dritter Blick.<br />
Und fachlich gesehen erkennen wir in all dem verschiedene Aspekte der Straßen von Venedig als<br />
einer „Generic City“, nämlich als Prospekt- Straße, als Globale Straße, als Subsistenz-Straße, als<br />
Konflikt-Straße, als Kulissen-Straße. In diesen Bedeutungsfeldern lässt sich der Fall angemessen<br />
komplex kommunizieren.<br />
Fazit<br />
Wir haben versucht, einige Phänomene der äußeren Wirklichkeit zu erkennen, d.h. zu beobachten<br />
und zu erklären und am Ende darüber eine Meinung zu bilden. Dafür haben wir drei verschiedene<br />
Blicke genutzt: Oberfläche und Muster sehen, Interpretationen und Erklärungen entwickeln, Urteile<br />
und Bewertungen bilden. Wir haben dafür verschiedene Kompetenzen genutzt, indem wir bereits<br />
bekannte Regeln und Muster zur Hand hatten (Kompetenz), diese mit eigener Kreativität und<br />
Konstruktivität konkret weiter entwickelt haben und schließlich in eine Kommunikation überführt<br />
haben (Performanz): Was bedeutet die Beschreibung und Erklärung für Urteile, Bewertungen und<br />
Handlungsorientierung?<br />
Der Blaue Strich war objektiv vorhanden, konnte aber in seinen weiteren Eigenschaft noch nicht<br />
gelesen werden; dazu brauchte es ein konkretes Ereignis und eine subjektive Irritation. <strong>–</strong> Der<br />
Versuch, „die orientalische Stadt“ zu beschreiben, war am Atlas- und Luftbild nicht zufriedenstellend<br />
zu leisten, diese „Texte“ waren zu allgemein und abstrakt; helfen konnte uns ein narrativer Kontext ,<br />
der sowohl Eigenschaften der Sache durch die Lesarten von Subjekten fokussierte und mit einem<br />
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möglichen Sinn versah. <strong>–</strong> Im Fall der „Reise zwischen Nacht und Morgen“ gelang es sogar, ganz<br />
verschiedenartige Lesarten zu erhalten und damit nicht nur die Perspektivität von Subjekten, sondern<br />
auch die ihrer Herkünfte und Prägungen <strong>–</strong> hier: Okzident und Orient <strong>–</strong> nutzen zu können. Auch die<br />
Reise nach Venedig hat uns die „Sache“ erschlossen, indem wir eine bestimmte Methode des<br />
Entzifferns dieses verwickelten Textes Venedig gewählt haben, nämlich das zweimalige Lesen und<br />
danach das Kommunizieren, in einem Ersten, einem Zweiten und einem Dritten Blick.<br />
� Wenn wir diese Methodik, nämlich das Erkennen von Eigenschaften der Dinge und das<br />
Erzählen dieser Eigenschaften als Fallgeschichte handhaben, machen wir uns die Erfahrung<br />
auch anderer Fächer zunutze, nicht nur der Literaturwissenschaft und Erzähltheorie, sondern<br />
auch z.B. die Ausbildung in der Medizin und der Rechtswissenschaft. Diese lehren ihr Fach in<br />
Theorie und Praxis ganz wesentlich über Fälle. In einer prinzipiell unbegrenzten Komplexität<br />
und einem Übermaß des Wissens muss man eine Reduktion vornehmen, die das Wesentliche<br />
erhält und dies für den Einzelnen erkennbar macht.<br />
� Das Medium des Verstehens von Strukturen/ Regelhaftigkeiten und Handlungsweisen ist der<br />
Fall, die Geschichte. Wer meint, mit dem Geschichtenerzählen im abwertenden Sinne von<br />
Anekdoten würden wir dem Fach den wissenschaftlichen und sachlichen Anspruch<br />
verderben, dem sei gesagt: Damit sind auf der ganz sicheren Seite, auch der Hirnforschung.<br />
Für die Motivation gilt: „Geschichten und Zusammenhänge treiben uns um, nicht Fakten“<br />
(Hirnforscher Manfred Spitzer 2004). Und für das Gedächtnis gilt: „Wir speichern Dinge als<br />
Geschichten.“ (holl. Psychologe und Gedächtnisforscher Douwe Draaisma, In: Der Spiegel<br />
36/2004).<br />
� Und wo uns die quantitative Interessenforschung hinsichtlich der besonderen Motivation von<br />
Schülern nicht wirklich beseelt und wo uns die mäßigen Befunde über ihr Wissen und ihre<br />
Weltorientierung betrübt , brauchen wir noch etwas mehr qualitative Aufklärung, denn<br />
„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“<br />
(Cees Noteboom)<br />
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