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Was tun wir in der Schulgeographie? Metakognition, Reflexion und ...

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Zentrum Wissenschaftliche Weiterbildung Ma<strong>in</strong>z<br />

Lehrkräftefortbildung Geographie 3.2.2012<br />

Gr<strong>und</strong>legung<br />

Tilman Rhode-Jüchtern<br />

<strong>Was</strong> <strong>tun</strong> <strong>wir</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schulgeographie</strong>?<br />

<strong>Metakognition</strong>, <strong>Reflexion</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Dritte Blick<br />

Der Vorsitzende des Deutschen Schulgeographenverbandes (VDSG), Kollege Frank-Michael<br />

Czapek, hat sich die Frage „<strong>Was</strong> macht eigentlich die <strong>Schulgeographie</strong>?“ als Thema für den<br />

„R<strong>und</strong>brief Geographie“(Heft 229, 2011) gestellt – als e<strong>in</strong>e „überfällige Frage, denn lange ist<br />

an dieser Stelle nichts Derartiges angesprochen worden“.<br />

Ich möchte diese Fragestellung etwas verschieben – „<strong>Was</strong> <strong>tun</strong> <strong>wir</strong> …?“ – , e<strong>in</strong>fach um zu<br />

betonen, dass auch Geographie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule von Subjekten gemacht <strong>wir</strong>d. Sie ist ke<strong>in</strong>e<br />

Essenz, die e<strong>in</strong>fach da ist <strong>und</strong> etwas „macht“. (Czapek sieht das ähnlich, denn er def<strong>in</strong>iert die<br />

<strong>Schulgeographie</strong> als „die Arbeit aller Lehrkräfte, die das Fach unterrichten“ – nur dass auch<br />

diese sich nicht e<strong>in</strong>fach verallgeme<strong>in</strong>ern lässt).<br />

Hören <strong>wir</strong> zu Beg<strong>in</strong>n, wie <strong>der</strong> Vorsitzende die Lage beschreibt <strong>und</strong> fragen danach, ob <strong>und</strong> wie<br />

sich daraus konstruktive Konsequenzen ziehen lassen. Probleme machen nach Czapek u.a.<br />

folgende Beobach<strong>tun</strong>gen:<br />

Die Verknüpfung von natur- <strong>und</strong> gesellschaftswissenschaftlicher Bildung bedeutet<br />

„Mühsal, nicht unbeträchtlichen Aufwand <strong>und</strong> vielfältige Verflech<strong>tun</strong>g“<br />

Schmale S<strong>tun</strong>dentafel <strong>und</strong> 16 äußerst unterschiedlich angelegte Schauplätze <strong>der</strong><br />

Kultusbürokratie mit <strong>der</strong>en „umtriebigem Aktionismus nach PISA <strong>und</strong> tsunamiartiger<br />

Durchdr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Bildungslandschaft mit v.a. f<strong>in</strong>anz- <strong>und</strong> parteipolitisch ausgelegten<br />

Verän<strong>der</strong>ungen“.<br />

Muße <strong>und</strong> H<strong>in</strong>gabe an die zentralen Aufgaben von Schule <strong>und</strong> aller Schulfächer<br />

(„scholae“) werden beträchtlich beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />

Die Kräfte im Unterrichtsfach Geographie müssen im ermüdenden Dase<strong>in</strong>skampf <strong>und</strong><br />

<strong>in</strong> Händeln mit <strong>der</strong> Kultusbürokratie auf den Erhalt geographischer Bildung<br />

konzentriert werden, anstelle diese zu stärken <strong>und</strong> zu mehren.<br />

Das Zweis<strong>tun</strong>denfach <strong>der</strong> Klassen 5-10 ist um die Hälfte reduziert <strong>und</strong>/ o<strong>der</strong> seit <strong>der</strong><br />

Reform von 1970 vielfach im Verb<strong>und</strong> mit an<strong>der</strong>en Fächern zu unterrichten. In <strong>der</strong><br />

Oberstufe hält es sich als optionales Fach mehr schlecht als recht.<br />

Kooperation <strong>der</strong> Gesellschaftswissenschaften lässt die Geographie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konkurrenz<br />

h<strong>in</strong>tanstehen. Auf dem Fach lastet <strong>der</strong> „bleierne Makel zu ger<strong>in</strong>ger Intellektualität“.<br />

Angehende Fachlehrer werden nicht zielgerichtet genug befähigt, durch „exzellente<br />

Unterrichtsarbeit vor Ort, durch begleitende Maßnahmen wie Schülerwettbewerbe,<br />

Fachtagungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehrerfort- <strong>und</strong> –weiterbildung sowie Öffentlichkeitsarbeit“ die<br />

Allgeme<strong>in</strong>bildung zu beför<strong>der</strong>n. Die fach<strong>in</strong>haltliche Lehrerausbildung <strong>wir</strong>d oft eher<br />

„von Kräften getragen, die dem Schuldienst früh entwichen s<strong>in</strong>d bzw. selbst nur<br />

ger<strong>in</strong>ge Erfahrung aus dem schulischen Alltag mitbr<strong>in</strong>gen.“<br />

1


Zu den <strong>in</strong>haltlichen Ausbildungsaktivitäten gehört auch e<strong>in</strong>e „Kompetenz-Erziehung,<br />

die e<strong>in</strong>en Lehrertypus prägen hilft, <strong>der</strong> sich durch Vorbildlichkeit auszeichnen sollte“.<br />

„Dabei kann nur gelten, dass das, wozu Schüler befähigt werden sollen, <strong>der</strong> Lehrer<br />

selbst auch können muss.“<br />

Es müsste e<strong>in</strong>e Lobbyarbeit für das Fach <strong>und</strong> für e<strong>in</strong>en mündigen Bürger geben, die<br />

verdeutlicht, dass e<strong>in</strong>e Allgeme<strong>in</strong>bildung, die über Quizwissen h<strong>in</strong>ausgeht, ohne e<strong>in</strong>e<br />

f<strong>und</strong>ierte Ausbildung <strong>in</strong> Geographie nicht zu haben ist.<br />

Die Bildungsstandards Geographie s<strong>in</strong>d auf Eigen<strong>in</strong>itiative <strong>der</strong> Verbände entstanden<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> Zeichen für e<strong>in</strong>e organisatorische Geschlossenheit im Fach; sie werden stark<br />

nachgefragt. Sie werden aber von den Kultusbehörden nur bed<strong>in</strong>gt honoriert o<strong>der</strong><br />

akzeptiert.<br />

Das Fach braucht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gemengelage <strong>der</strong> gesellschaftswissenschaftlichen Fächer<br />

e<strong>in</strong>e klare eigene Profilbildung, „um die Phänomene Raum, Zeit <strong>und</strong> Polis auch<br />

tatsächlich zu verstehen“.<br />

Referenzpunkte wären also nach wie vor <strong>und</strong> kreuz wie quer: die Erziehung- <strong>und</strong><br />

Allgeme<strong>in</strong>bildungsziele <strong>der</strong> Schule, die Innovationen, die Kultusbürokratie, die Öffentlichkeit,<br />

die Lehrerausbildung, die Fachdef<strong>in</strong>itionen <strong>und</strong> das Fachprofil, die S<strong>tun</strong>dentafeln, die<br />

Lobbyarbeit, die Unterrichtspraxis im Alltag, <strong>der</strong> Gebrauchs- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tauschwert des Faches<br />

u.v.m.<br />

Die heutige Tagung geht auf e<strong>in</strong>ige dieser neuralgischen Punkte e<strong>in</strong>. Zum Fachprofil <strong>wir</strong>d im<br />

Vortrag über die Philosophie <strong>der</strong> vier Raumkonzepte gesprochen; das Beispiel „Decouvrir<br />

Wissembourg“ <strong>wir</strong>d zeigen, wieweit entdeckendes Lernen zu e<strong>in</strong>er zeitmäßen<br />

Allgeme<strong>in</strong>bildung <strong>und</strong> Kompetenzentwicklung beitragen kann; Erdbeben <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Naturereignisse können durch künstlerische Aufarbei<strong>tun</strong>g nach <strong>der</strong> medialen Vermittlung<br />

jeweils subjektiv verstehbar gemacht; Raumanalysen werden nicht mehr im traditionellen<br />

Schema, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> verschiedenen Perspektiven organisiert; Orte, an denen etwas<br />

ausgehandelt <strong>wir</strong>d, werden <strong>in</strong> verschiedene Kontexte anhand unterschiedlicher<br />

Maßstabsebenen mit unterschiedlichen Bedeu<strong>tun</strong>gen versehen; neuartige Phänomene des<br />

freien Handels wie das „Landgrabb<strong>in</strong>g“ werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> großen Erzählung <strong>der</strong> Globalisierung<br />

wie<strong>der</strong>erkannt <strong>und</strong> evtl. auch als Neokolonialismus bewertet; Filme können, wie auch<br />

an<strong>der</strong>e Medien, als e<strong>in</strong>e jeweils eigene Art <strong>der</strong> Weltbeschreibung erkannt <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretiert<br />

werden, denn „alles, was <strong>wir</strong> über die Wirklichkeit wissen, wissen <strong>wir</strong> aus den Medien“<br />

(Niklas Luhmann ( 3. 2004): Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien).<br />

Insoweit ist die Geographie, die <strong>Schulgeographie</strong>, gut <strong>und</strong> auf breiter Front unterwegs. Ute<br />

Wardenga, die eigentlich an dieser Stelle ihren Vortrag „Dressurakte“ halten wollte, sagt im<br />

kle<strong>in</strong>en Kreis sogar: Die Geographiedidaktik ist erkenntnistheoretisch stellenweise weiter als<br />

die Fachwissenschaft.<br />

<strong>Was</strong> ist also zur Gr<strong>und</strong>legung unserer Tagung noch zu sagen, wo liegen möglicherweise noch<br />

Defizite, die sich zur Behebung <strong>der</strong> Nöte <strong>und</strong> zur Stärkung des Faches beherzt beheben<br />

lassen?<br />

Ich will mich me<strong>in</strong>erseits hierbei auf e<strong>in</strong>e Kategorie beschränken <strong>und</strong> konzentrieren, die im<br />

Subtext <strong>der</strong> Bildungsstandards e<strong>in</strong>e entscheidende Querfunktion hat: Die Reflexivität <strong>und</strong> die<br />

2


<strong>Reflexion</strong>. Hier <strong>wir</strong>d die Frage ganz neu <strong>und</strong> präzise gestellt: <strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> (Schul)Geographie?<br />

Die oben referierte Frage von Czapek <strong>wir</strong>d damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren Dimension beleuchtet, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Dimension, die <strong>in</strong> den Bildungsstandards Geographie mit Bedacht e<strong>in</strong>geführt bzw. neu<br />

betont wurde <strong>und</strong> die nun <strong>der</strong> Operationalisierung bedarf. Wenn das neu entdeckte <strong>und</strong><br />

gleich wie<strong>der</strong> heftig kritisierte Wort von <strong>der</strong> Kompetenzentwicklung e<strong>in</strong>en neuen S<strong>in</strong>n haben<br />

soll, dann liegt <strong>der</strong> nach me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung an dieser Stelle: In <strong>der</strong> Reflexivität <strong>und</strong> <strong>Reflexion</strong>.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich (I) ?<br />

Wir betrachten aus <strong>der</strong> unendlichen äußeren Realität diejenigen Ausschnitte, die uns<br />

<strong>in</strong>teressieren, die e<strong>in</strong> Problem enthalten, die zum Kanon des Faches gehören. Wir <strong>tun</strong> dies<br />

unter e<strong>in</strong>er bestimmten Fragestellung, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Wahrnehmung, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

unvermeidlichen Anamorphose (Verzerrung).<br />

Wir können also zwar fragen: „<strong>Was</strong> ist e<strong>in</strong> Ei?“, aber <strong>wir</strong> müssen uns dabei zugleich dazu<br />

erklären, unter welchem sachlichen Aspekt <strong>wir</strong> diese Frage verfolgen <strong>und</strong> aus welcher<br />

Perspektive.<br />

Blick <strong>in</strong> das Schaufenster e<strong>in</strong>er Architektenkooperative <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wiener Burggasse<br />

Wir müssen unsere Frage nach dem Gegenstand zum<strong>in</strong>dest relativieren nach <strong>der</strong> Perspektive<br />

des Beobachters: „Wie sieht e<strong>in</strong> Designer-Osterei aus, wie e<strong>in</strong> Künstler-Osterei, wie e<strong>in</strong><br />

Architekten-Osterei? O<strong>der</strong> auch: Wie seht e<strong>in</strong> Informatiker-Osterei aus, wie e<strong>in</strong> Lehrer<strong>in</strong>nen-<br />

3


Osterei bzw. e<strong>in</strong> L<strong>in</strong>guisten-Osterei? <strong>Was</strong> für e<strong>in</strong> Osterei hätte Le Corbusier gebastelt, wie<br />

sähe e<strong>in</strong> Ei <strong>der</strong> Eames-Brü<strong>der</strong> aus, wie das von da V<strong>in</strong>ci?“<br />

Wir betrachten A als B <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation C unter e<strong>in</strong>er bestimmten Fragestellung D. Im<br />

Beispiel: Wir betrachten e<strong>in</strong> Ei als Osterei <strong>in</strong> <strong>der</strong> Situation des Kreativ-Wettbewerbs im April<br />

2011 <strong>und</strong> mit <strong>der</strong> Neugierde von Architekten; <strong>wir</strong> fragen dabei zugleich nach an<strong>der</strong>en<br />

Perspektiven <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen Sacheigenschaften.<br />

Das ist <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz des Konstruktivismus; er ist unvermeidlich, <strong>in</strong> ihm kreuzen sich<br />

Objektives <strong>und</strong> Subjektives. Man kann diese Erkenntnis zwar ignorieren <strong>und</strong> so <strong>tun</strong>, als ob<br />

die D<strong>in</strong>ge für sich selbst sprechen würden, z..B. „<strong>der</strong>“ Vulkanismus o<strong>der</strong> „die“<br />

Plattentektonik o<strong>der</strong> „die“ orientalische Stadt; das nennen <strong>wir</strong> Essentialismus. Aber schon <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Kartographie haben <strong>wir</strong> gelernt, dass e<strong>in</strong>e unverzerrte Darstellung „<strong>der</strong>“ Realität nicht<br />

möglich ist. Flächentreue, W<strong>in</strong>keltreue, Formtreue <strong>und</strong> Längentreue s<strong>in</strong>d nicht gleichzeitig zu<br />

haben; man muss zwischen diesen Ansprüchen an e<strong>in</strong>e Karte <strong>und</strong> an ihre potenzielle<br />

Leis<strong>tun</strong>gskraft vermitteln, mit den strengen Regeln <strong>der</strong> Mathematik/ Geometrie <strong>und</strong> von<br />

daher auch wie<strong>der</strong> re-konstruierbar.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (I) ? Wir akzeptieren den Gr<strong>und</strong>satz des Konstruktivismus, ganz<br />

bewusst.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich (II) ?<br />

Wenn <strong>wir</strong> die Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Auswahl von Aspekten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Perspektivität<br />

akzeptieren, können <strong>wir</strong> mit jedem Gegenstand unseres Faches analytisch <strong>und</strong> reflexiv<br />

umgehen. Wir bestimmten die relevanten Sachaspekte für e<strong>in</strong>e bestimmte Fragestellung<br />

<strong>und</strong> die relevanten Perspektiven <strong>der</strong> Beobach<strong>tun</strong>g.<br />

• Perspektive<br />

A<br />

• Perspektive<br />

B<br />

Sach-<br />

Aspekt<br />

1<br />

Sach-<br />

Aspekt<br />

2<br />

• Perspektive<br />

C<br />

Sach-<br />

Aspekt<br />

3<br />

Sach-<br />

Aspekt<br />

n<br />

• Perspektive<br />

X<br />

4


Strukturschema: Wie <strong>wir</strong>d beobachtet (wer <strong>und</strong> wozu?)? <strong>Was</strong> <strong>wir</strong>d beobachtet?<br />

• Wirtschaft<br />

• Recht<br />

• Wissenschaft<br />

• Politik<br />

• Religion<br />

• Erziehung<br />

Perspektiven<br />

Sach-Aspekte<br />

• Flächen/ Orte/ Lage/<br />

Lagebeziehungen<br />

• Lebenswelt/lichkeit<br />

• Natur/ Ökologie<br />

• Rohstoffe<br />

• Herrschaft <strong>und</strong> Macht<br />

• Technik/ Technologie<br />

• Leitbil<strong>der</strong>/ Zukünfte/ Prognosen<br />

• .....<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Perspektiven <strong>und</strong> Sach-Aspekte für e<strong>in</strong>e Geographische Themenstellung<br />

Nach diesen Kategorien kann jedes Thema e<strong>in</strong>geordnet <strong>und</strong> aufgeräumt werden. Es ergibt sich e<strong>in</strong>e<br />

Art concept map, wie e<strong>in</strong>e Sache aus <strong>der</strong> Perspektive X ersche<strong>in</strong>t <strong>und</strong> wie etwas mit an<strong>der</strong>em<br />

zusammen gehört.<br />

(Perspektiven aus verschiedenen Funktionsbereichen, hier nach Luhmann 1986)<br />

Damit eröffnet sich von selbst die Komplexität <strong>der</strong> Sache <strong>und</strong> macht diese zugleich bearbeitbar.<br />

Man vers<strong>in</strong>kt nicht unbemerkt o<strong>der</strong> verzweifelt im Übermaß des Wissens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Unbestimmtheit<br />

<strong>der</strong> Komplexität. In e<strong>in</strong>er recht e<strong>in</strong>fachen Liste (s.o.) lassen sich diese beiden Dimensionen ausfüllen.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (II)? Wir räumen e<strong>in</strong>e Sache <strong>und</strong> Frage analytisch auf, <strong>wir</strong> f<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e<br />

Ordnung im Übermaß des Wissens, <strong>in</strong> Unbestimmtheit <strong>und</strong> Komplexität.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich (III) ?<br />

Bisher war leichth<strong>in</strong> die Rede von Problem/ Fragestellung/ Thema. Konstruktivistisch<br />

gedacht müssen <strong>wir</strong> aber reflektieren: <strong>Was</strong> ist denn überhaupt das Problem, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sache<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Perspektive? Wir umkreisen das mögliche Problem <strong>in</strong> diesen beiden<br />

Dimensionen <strong>und</strong> kommunizieren darüber, bis <strong>wir</strong> e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong>teressierende<br />

Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>er Problemstellung haben. Die Lösungen s<strong>in</strong>d im Problem noch nicht enthalten,<br />

sonst wäre es ke<strong>in</strong> Problem. Zu möglichen Lösungen f<strong>in</strong>den <strong>wir</strong> durch e<strong>in</strong>e<br />

mehrperspektivische <strong>und</strong> sachlich vielfältige Beobach<strong>tun</strong>g. Dazu brauchen <strong>wir</strong> gezielt<br />

Fachwissen, das <strong>wir</strong> aus <strong>der</strong> Problemstellung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Dritten Säule“<br />

zusammenstellen. Die Gew<strong>in</strong>nung dieses Fachwissens ist e<strong>in</strong>e wichtige Etappe <strong>der</strong> Arbeit, sie<br />

hat aber nicht als bloßes Vorratswissen die Zeit für alle an<strong>der</strong>en Operationen verzehrt. Wenn<br />

e<strong>in</strong>e Problemstellung es verlangt, z.B. über Erdbeben <strong>und</strong> Tsunamis o<strong>der</strong> über Ghettobildung<br />

o<strong>der</strong> über Ökobilanzen Rat zu holen, dann <strong>tun</strong> <strong>wir</strong> das, aber <strong>wir</strong> <strong>tun</strong> das nicht als Selbstzweck<br />

(„Wissensbasierung“), son<strong>der</strong>n im Kontext. Das Fachwissen ist damit erkennbar legitimiert<br />

<strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvoll.<br />

5


Der Weg von e<strong>in</strong>er diffusen Auffälligkeit (I) über die fachliche Betrach<strong>tun</strong>g/Fenster (II) aus e<strong>in</strong>er<br />

jeweiligen Perspektive (III) bis zur Kommunikation <strong>der</strong> lohnend ersche<strong>in</strong>enden Problemladung (IV)<br />

zum Arbeitsthema (V).<br />

(eig. Entwurf)<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (III) ? Wir kommunizieren über e<strong>in</strong>e mögliche Problemstellung, die<br />

dann faktenreich <strong>und</strong> mehrperspektivisch aufgeschlossen <strong>wir</strong>d. Wir erkennen im fact-f<strong>in</strong>d<strong>in</strong>g<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikation mögliche Lösungen. Wir arbeiten an e<strong>in</strong>em erkennbar<br />

legitimierten <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvollen Thema <strong>und</strong> lernen, die Erkenntnisse zu fachlich zu beurteilen<br />

<strong>und</strong> subjektiv zu bewerten.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich (IV) ?<br />

In <strong>der</strong> obigen Problemliste von Czapek war von <strong>der</strong> Doppelnatur <strong>der</strong> Geographie als Natur<strong>und</strong><br />

als Gesellschaftswissenschaft die Rede; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur <strong>wir</strong>d dies auch als „Zwei<br />

Kulturen“ bezeichnet, denn Naturwissenschaftler denken, fragen <strong>und</strong> forschen zumeist<br />

an<strong>der</strong>s als Geisteswissenschaftler. Wenn <strong>wir</strong> als Geographen es ernst nehmen mit dieser<br />

Doppelnatur des Faches, s<strong>in</strong>d <strong>wir</strong> hoffnungslos überfor<strong>der</strong>t. Nur <strong>in</strong> glücklichen<br />

E<strong>in</strong>zelmomenten trifft man sich hier, bewusst <strong>und</strong> gewollt, wenn man z.B. den Systembegriff<br />

von Luhmann auf die Physische Geographie anzuwenden versucht. Dann <strong>wir</strong>d z.B. e<strong>in</strong><br />

Sedimentologe erkennen, dass er den Transport von Schotter <strong>und</strong> Sand durch e<strong>in</strong><br />

Fließgewässer zwar weitgehend kausal erklären kann als Produkt <strong>der</strong> Faktoren<br />

Transportkraft <strong>und</strong> Korngröße, dass aber die konkrete Lage e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Sandkorns im<br />

Gleithang emergent, d.h. nicht letztendlich erklärbar ist. Man <strong>wir</strong>d sich also auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

kausal denkenden Naturwissenschaft <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>begriffen Kont<strong>in</strong>genz, Emergenz <strong>und</strong><br />

Pfadabhängigkeit e<strong>in</strong>richten müssen.<br />

6


Wir stopfen uns also nicht von Anfang an voll mit Fachwissen aus <strong>der</strong> Physischen <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Human-Geographie, son<strong>der</strong>n <strong>wir</strong> suchen uns nach <strong>der</strong> Problemdef<strong>in</strong>ition <strong>und</strong><br />

Themenf<strong>in</strong>dung nötiges <strong>und</strong> hilfreiches Wissen aus den beiden Säulen des Faches. Die<br />

Themen ergeben sich dabei nicht aus <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Teilmenge des geographischen<br />

Wissens, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Kommunikation über e<strong>in</strong> lösungsbedürftiges Problem; dann<br />

werden kle<strong>in</strong>ere Teile des Fachwissens mobilisiert.<br />

Konzeptionelles Forschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geographie:<br />

Mensch-Umwelt-Interaktion als „Dritte Säule“<br />

(Gebhardt u.a., 2007, 69)<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (IV) ? Wir arbeiten an lohnenden ergebnisoffenen Problemstellungen.<br />

Zum Erkennen solcher Problemstellungen brauchen <strong>wir</strong> auch e<strong>in</strong> gewisses vorheriges<br />

Fachwissen, vor allem aber suchen <strong>wir</strong> nach dem <strong>wir</strong>klichen Problem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen<br />

Kommunikation. Danach beschaffen <strong>wir</strong> uns – legitimiert durch das Thema – die Fakten,<br />

Modelle <strong>und</strong> Vernetzungen. Damit s<strong>in</strong>d <strong>wir</strong> zugleich anschlussfähig geworden an an<strong>der</strong>e<br />

Fächer <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Beiträge. Wir bewegen uns nicht selbstreferentiell nur im Fachrahmen.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> da eigentlich (V) ?<br />

Nehmen <strong>wir</strong> an, jemand spricht von dem Tsunami <strong>und</strong> dem Erdbeben 2011 bei Fukushima<br />

als e<strong>in</strong>er Naturkatastrophe. <strong>Was</strong> tut er da? Er wählt e<strong>in</strong>en Begriff, <strong>in</strong> dem die Katastrophe <strong>in</strong><br />

dem Erdbeben <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tsunamiwelle an sich gesehen <strong>wir</strong>d, die Natur ist hier als e<strong>in</strong>e<br />

Katastrophe präsent. Nehmen <strong>wir</strong> weiterh<strong>in</strong> an, jemand an<strong>der</strong>s bestreitet, dass die Natur<br />

e<strong>in</strong>e Katastrophe sei; vielmehr ist es die Entscheidung, hier <strong>und</strong> so e<strong>in</strong> Atomkraftwerk gebaut<br />

zu haben, <strong>in</strong> Kenntnis <strong>der</strong> natürlichen Situation <strong>und</strong> <strong>der</strong> ungeeigneten Lage. Dadurch ist e<strong>in</strong>e<br />

Katastrophe möglich geworden <strong>und</strong> dann durch e<strong>in</strong> Naturereignis auch ausgelöst worden.<br />

Diese beiden Sprecher, die durchaus beide Geographielehrer se<strong>in</strong> können, haben e<strong>in</strong>en<br />

unterschiedlichen Fokus auf die Welt gerichtet <strong>und</strong> ihre Sprache legt dies auch offen. Aber<br />

sie werden sich zunächst kaum verständigen können. Sie werden sich vielmehr wechselseitig<br />

<strong>der</strong> Ideologie bezichtigen. Der e<strong>in</strong>e <strong>wir</strong>d als Naturdeterm<strong>in</strong>ist <strong>und</strong> AKW-Verharmloser<br />

bezeichnet, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e als AKW-Fe<strong>in</strong>d, <strong>der</strong> die Übermacht <strong>der</strong> Natur politisch relativiert.<br />

Wir könnten es bei diesen beiden Sprachhal<strong>tun</strong>gen belassen, <strong>wir</strong> können aber auch<br />

versuchen, die H<strong>in</strong>tergründe <strong>der</strong> Unterschiede zu f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> damit vermeidbare<br />

Missverständnisse <strong>und</strong> Unterschiede zu m<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

7


Wir experimentieren <strong>in</strong> Jena seit langen Jahren mit <strong>der</strong> Figur e<strong>in</strong>es Würfels. (Im Pr<strong>in</strong>zip hat er<br />

auch E<strong>in</strong>gang gef<strong>und</strong>en <strong>in</strong> die Bildungsstandards Geographie, wenn auch nicht zum Zwecke<br />

<strong>der</strong> <strong>Reflexion</strong>.) Zwischen den sechs Seiten <strong>wir</strong>d das Thema e<strong>in</strong>gehängt <strong>und</strong> dar<strong>in</strong> bewegt, es<br />

ersche<strong>in</strong>t dadurch immer etwas an<strong>der</strong>s, je nach Seite <strong>und</strong> je nach genauer Position. Man<br />

bezeichnet also das Thema jeweils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> sechs Dimensionen.<br />

Der „Jenaer Würfel“ – Dreh mich doch nach allen Seiten!<br />

(Entwurf: Antje Schnei<strong>der</strong> 2011 1 )<br />

Um e<strong>in</strong>e Verständigung zu f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> Kommunikation zu beför<strong>der</strong>n, setzen <strong>wir</strong> diesen<br />

Würfel als Werkzeug e<strong>in</strong>; <strong>wir</strong> wollen damit verstehen, warum e<strong>in</strong>e Sache mal so, mal an<strong>der</strong>s<br />

ersche<strong>in</strong>t <strong>und</strong> ihren Charakter auch von Dimension zu Dimension verän<strong>der</strong>n kann. Wir<br />

erfahren nicht nur die Möglichkeit e<strong>in</strong>es Zweiten Blicks über die eigene Schulter, es kann sich<br />

damit e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>er Dritter Blick ergeben, auf den man an<strong>der</strong>s gar nicht gekommen wäre.<br />

Die sechs Seiten des Jenaer Würfels s<strong>in</strong>d nur zum Teil „gegenständlich“, wie z.B. <strong>der</strong><br />

räumliche Maßstabswechsel o<strong>der</strong> die Zeitlichkeit. Die an<strong>der</strong>en Dimensionen betreffen die<br />

Art <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>und</strong> die Kommunikation.<br />

Die Gr<strong>und</strong>aussage ist nicht mehr „Etwas ist so!“, son<strong>der</strong>n generell „Etwas ist so, weil …“<br />

(noch genauer müsste man sagen: „Etwas ersche<strong>in</strong>t so, weil…“, aber das wäre e<strong>in</strong>e noch<br />

weitergehende E<strong>in</strong>sicht über die Relationalität, die im Alltag nicht evident ist; dort „ist etwas<br />

so“, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fortschritt besteht zunächst dar<strong>in</strong>, dass <strong>wir</strong> dieses jeweilige So-Se<strong>in</strong> begründen<br />

<strong>und</strong> erklären können). (Die folgenden sechs Def<strong>in</strong>itionen stammen von Schnei<strong>der</strong> 2011).<br />

1 F<strong>und</strong>stelle: http://www.geographie.uni-jena.de/lehrstühle/didaktik/personal/schnei<strong>der</strong>-p-194.html bzw.<br />

Schnei<strong>der</strong>, Antje (2012): Erkenntnisfiguren. Werkzeuge geographischer <strong>Reflexion</strong>.(Wochenschau Verlag, Kle<strong>in</strong>e<br />

Reihe Geographie)<br />

8


Seite 1: Maßstabsebene<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil es auf e<strong>in</strong>er bestimmten Maßstabsebene beobachtet<br />

<strong>wir</strong>d.<br />

„Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problem zuwendest, dann beobachtest Du ganz<br />

konkret, wie das Problem beobachtet <strong>wir</strong>d. Du erkennst, dass die Beobach<strong>tun</strong>gen r<strong>und</strong> um<br />

das Problem auf unterschiedlichen Maßstabsebenen erfolgen können. Du solltest fragen, ob<br />

das Problem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Perspektive des jeweiligen Beobachters eher im kle<strong>in</strong>en, mittleren o<strong>der</strong><br />

großen Maßstab betrachtet <strong>wir</strong>d. Dann <strong>wir</strong>d sichtbar, dass die mikroperspektivische<br />

Beobach<strong>tun</strong>g an<strong>der</strong>e Aspekte des Problems zum Vorsche<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt als die<br />

makroperspektivische.<br />

De<strong>in</strong>e erkenntnisleitende Frage lautet: Wie <strong>wir</strong>d das Problem bezogen auf se<strong>in</strong>e<br />

Maßstäblichkeit beobachtet?“<br />

Seite 2: Zeitlichkeit<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil es <strong>in</strong> (e<strong>in</strong>er) bestimmten zeitlichen Perspektive(n)<br />

beoabachtet <strong>wir</strong>d.<br />

Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problem zuwendest, dann beobachtest Du ganz konkret,<br />

wie das Problem beobachtet <strong>wir</strong>d. Du erkennst, dass die Beobach<strong>tun</strong>gen r<strong>und</strong> um das<br />

Problem <strong>in</strong> unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven erfolgen können. Du solltest fragen, ob<br />

das Problem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Perspektive des jeweiligen Beobachters eher als kurz-, mittel- o<strong>der</strong><br />

langfristiges Problem betrachet <strong>und</strong> behandelt <strong>wir</strong>d. Dann <strong>wir</strong>d erkennbar, dass je nach<br />

zeitlicher Perspektive ganz verschiedene Aspekte des Problems zum Vorsche<strong>in</strong> kommen.<br />

De<strong>in</strong>e erkenntnisleitende Frage lautet: Wie <strong>wir</strong>d das Problem bezogen auf se<strong>in</strong>e Zeitlichkeit<br />

beobachtet?<br />

Seite 3: Beobachter<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil es so <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>s beobachtet <strong>wir</strong>d.<br />

Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problem zuwendest, dann erkennst Du verschiedene<br />

Beobachter, die auf ihre je spezifische Weise <strong>in</strong> das Problem <strong>in</strong>volviert s<strong>in</strong>d. Beobachter kann<br />

man sich als <strong>in</strong>dividuelle Akteure vorstellen, aber auch als beobachtende Systeme wie z.B.<br />

Politik, Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft. Allen Beobachtern geme<strong>in</strong>sam ist e<strong>in</strong> eigener<br />

Blick, e<strong>in</strong>e eigene Beobachterposition, die es zu identifizieren gilt.<br />

De<strong>in</strong>e erkenntnisleitende Frage lautet: Wer beobachtet das Problem?<br />

Seite 4: Selbstreflexivität<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil ich es so <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>s beobachte.<br />

9


Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problemzuwendest, dann beobachtest Du, wie Du selbst<br />

das Problem beobachtest. Du erkennst dabei De<strong>in</strong>e eigenen Vorannahmen, Interessen <strong>und</strong><br />

Hal<strong>tun</strong>gen, die „alten Bekannten“, die De<strong>in</strong>en Blick als Mensch, <strong>der</strong> Du bist, begleiten. Du<br />

erkennst auch, dass Du diesen Würfel als erkenntnisleitende Figur benutzt; e<strong>in</strong>e Figur, die<br />

De<strong>in</strong>e Beobach<strong>tun</strong>g ebenso auf e<strong>in</strong>e bestimmte Rich<strong>tun</strong>g festlegt <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ordnung<br />

br<strong>in</strong>gt. Beobachtest Du mit Hilfe des Würfels, dann schaust Du mit „Zweitem Blick“ auf das<br />

Problem <strong>und</strong> fragst gezielt, wie das Problem als Problem hergestellt/ beobachtet <strong>wir</strong>d. So<br />

wendest Du Dich dem Problem kritisch <strong>und</strong> reflexiv zu. Dies entspricht e<strong>in</strong>er Entscheidung,<br />

die Du so <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>s getroffen hast, jedoch an<strong>der</strong>s hättest treffen könne.<br />

De<strong>in</strong>e erkenntnisleitende Frage lautet: Wie beobachte ich das Problem?<br />

Seite 5: Kommunikation<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil so <strong>und</strong> nicht an<strong>der</strong>s darüber kommuniziert <strong>wir</strong>d.<br />

Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problem zuwendest, dann beobachtest Du das Problem<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Art <strong>und</strong> Weise, wie es <strong>in</strong> (gesellschaftliche) Kommunikationsprozesse e<strong>in</strong>gebettet ist.<br />

Du erkennst, dass Probleme nicht existieren, wenn über sie nicht kommuniziert würde (z.B.<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> medialen Öffentlichkeit). Du erkennst auch, dass Problme erst im Zuge von<br />

Kommunikation ihre eigentümliche Gestalt <strong>und</strong> Bedeu<strong>tun</strong>g erhalten.<br />

De<strong>in</strong>e erkenntnisleitende Frage lautet: Wie <strong>wir</strong>d über das Problem kommuniziert?<br />

Seite 6: Bl<strong>in</strong>de Flecken<br />

Das Problem ist so, wie es ist, weil es so beobachtet <strong>und</strong> genau dadurch nicht an<strong>der</strong>s<br />

beobachtet <strong>wir</strong>d.<br />

Wenn Du Dich von dieser Seite dem Problem zuwendest, dann beobachtest Du ganz konkret,<br />

wie das Problem beobachtet <strong>wir</strong>d. Du erkennst, dass die Beobach<strong>tun</strong>gen r<strong>und</strong> um das<br />

Problem viele Aspekte des Problems sichtbar machen. Du erkennst aber auch, dass <strong>in</strong> dem<br />

Moment, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Problemseite sichtbar o<strong>der</strong> bezeichnet <strong>wir</strong>d, e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e unsichtbar<br />

bleibt. Beobachten heißt Bezeichnen durch (implizites) Unterscheiden <strong>und</strong> Vergleichen. Dies<br />

impliziert, dass es unzählige weitere Möglichkeiten gibt, das Problem zu erkennen <strong>und</strong> zu<br />

beschreiben. Du stellst fest, dass es e<strong>in</strong>e abschließende ganzheitliche Schau des Problems<br />

nicht gibt.<br />

E<strong>in</strong> erkenntnisleiten<strong>der</strong> Imperativ lautet: Berücksichtige kritisch, dass jede Beobach<strong>tun</strong>g<br />

ihren ganz eigenen „Bl<strong>in</strong>den Fleck“ besitzt!<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (V) ? Wir können nun jede unterschiedliche Sichtweise zu e<strong>in</strong>em<br />

Thema/ Konflikt <strong>in</strong> ihren Dimensionen erkennen <strong>und</strong> uns darüber besser verständigen. Wir<br />

erkennen die Unterscheidungen, ohne diese lediglich unter Verdacht des Unerwünscht-<br />

An<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Ideologie“ zu stellen. Wir kommen auf den Kern des Themas, auf se<strong>in</strong>e<br />

fachlichen Eigenschaften <strong>und</strong> auf die Arten <strong>der</strong> Beobach<strong>tun</strong>g. Wir stellen nicht nur unseren<br />

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eigenen Blick <strong>in</strong>frage (Zweiter Blick), son<strong>der</strong>n entwickeln <strong>in</strong> Synergie mit an<strong>der</strong>en auch<br />

überraschende Dritte Blicke.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> nun (VI) ?<br />

Wir haben bisher darüber nachgedacht, wie <strong>wir</strong> zu lohnenden Fragen kommen, wie <strong>wir</strong> dies<br />

kommunizieren <strong>und</strong> reflektieren können. Die Fragestellung soll so se<strong>in</strong>, dass sie zu neuen<br />

Erkenntnissen führen kann, dass sie mit Kontroversen umgehen kann, dass sie neue<br />

Perspektiven eröffnen kann, dass sie Gegensicht <strong>und</strong> Gegenmacht ausdrücklich für möglich<br />

hält. E<strong>in</strong> bewusster <strong>und</strong> reflektierter Perspektivenwechsel soll nicht nur im E<strong>in</strong>zelfall<br />

vorgenommen werden, son<strong>der</strong>n zu e<strong>in</strong>er Gr<strong>und</strong>hal<strong>tun</strong>g, zu e<strong>in</strong>em Habitus werden. Um<br />

e<strong>in</strong>em Missverständnis vorzubeugen: Verständigung heißt nicht, dass man sich unbed<strong>in</strong>gt<br />

e<strong>in</strong>ig ist, Perspektivenwechsel heißt nicht, dass je<strong>der</strong> irgendwie recht hat o<strong>der</strong> dass man<br />

selbst standpunktlos würde. Es soll nur mitgedacht werden, was ohneh<strong>in</strong> von an<strong>der</strong>en<br />

gedacht <strong>wir</strong>d o<strong>der</strong> gedacht werden könnte/sollte. In Kenntnis plausibler Argumente <strong>und</strong><br />

Gegenargumente sollen <strong>wir</strong> als Bürger <strong>und</strong> also auch als Schüler <strong>und</strong> Lehrer urteilen <strong>und</strong><br />

bewerten lernen <strong>und</strong> daraus unsere Handlungsoption begründet wahrnehmen.<br />

Es <strong>wir</strong>d sich übrigens schnell herausstellen, dass es die e<strong>in</strong>e Gesellschafts- o<strong>der</strong> „Raumethik“<br />

nicht gibt. „Es kommt darauf an“ – es s<strong>in</strong>d regionale Differenzierungen <strong>und</strong> unterschiedliche<br />

Wertsysteme zu beachten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach auch nur die Kehrseiten e<strong>in</strong>er Medaille. „Rosen aus<br />

Kenia, bei ALDI“ – e<strong>in</strong>e ökologische, soziale o<strong>der</strong> mikroökonomische Todsünde o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />

dr<strong>in</strong>gend nötige E<strong>in</strong>kommensquelle für kenianische Frauen? O<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Dilemma, e<strong>in</strong> Tri-, e<strong>in</strong><br />

Tetra- o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Pentalemma? Und wie gehen <strong>wir</strong> mit e<strong>in</strong>em Dilemma um, wenn <strong>wir</strong> es<br />

erkannt <strong>und</strong> als solches zugelassen haben?<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> also (VI)? Wir entwickeln aus unserer Sicht <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge <strong>und</strong> aus dem<br />

Perspektivenwechsel neue Blicke <strong>und</strong> Argumente, <strong>wir</strong> lernen diese abzuwägen <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

Handlungsoptionen zu überführen. Und <strong>wir</strong> lernen, Dilemma-Konstellationen als Regelfall<br />

<strong>der</strong> Probleme <strong>in</strong> unserer Welt zu akzeptieren <strong>und</strong> uns auch <strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipiell unlösbaren<br />

Problemstellungen zu orientieren. Mit viel Wissen, mit guten Gründen, <strong>in</strong> transparenter<br />

Abwägung <strong>und</strong> <strong>in</strong> Reflexivität.<br />

<strong>Was</strong> machen <strong>wir</strong> zum Beispiel mit dem „Tropischen Regenwald“?<br />

Der Tropische Regenwald ist e<strong>in</strong> Kanonthema für die Geographie. Aber es ist noch ke<strong>in</strong><br />

Thema, son<strong>der</strong>n zunächst nur e<strong>in</strong> Begriff. Man kann „den“ Tropischen Regenwald so wenig<br />

allgeme<strong>in</strong> behandeln wie e<strong>in</strong> Ei. Wir können aber daraus alle möglichen Themen machen –<br />

„Tropischer Regenwald betrachtet als …“ – <strong>in</strong>dem <strong>wir</strong> Sachaspekte sammeln <strong>und</strong> diese mit<br />

verschiedenen Beobach<strong>tun</strong>gsperspektiven kreuzen. Der e<strong>in</strong>e redet dann über das Weltklima<br />

<strong>und</strong> zwar aus <strong>der</strong> Perspektive e<strong>in</strong>es Klimawandelforschers. Der an<strong>der</strong>e redet über<br />

Sojaproduktion <strong>und</strong> Nahrungsmittelsicherung aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong><br />

Nahrungsmittelproduzenten. Der dritte redet über Schwellenlän<strong>der</strong> <strong>und</strong> zwar aus <strong>der</strong><br />

Perspektive des Politikers. Der vierte redet über Ausbeu<strong>tun</strong>g <strong>und</strong> ungerechte Preise aus <strong>der</strong><br />

Perspektive des Ethikers <strong>und</strong> E<strong>in</strong>e-Welt-Hauses. Alle Aspekte s<strong>in</strong>d sachlich berechtigt, alle<br />

Perspektiven existieren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d relevant. Sie stehen aber fachlich <strong>und</strong> ethisch teilweise im<br />

11


mehrfachen Wi<strong>der</strong>spruch zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Problemstellung: Argarsprit aus Zuckerrohr<br />

auf Fel<strong>der</strong>n von enteigneten Kle<strong>in</strong>bauern?<br />

Nehmen <strong>wir</strong> also das Strukturschema zur Hand <strong>und</strong> befüllen die Liste <strong>der</strong> Sachaspekte <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Perspektiven, soweit <strong>wir</strong> das schon erkennen können.<br />

• Perspektive<br />

A<br />

• Perspektive<br />

B<br />

Sach-<br />

Aspekt 1<br />

Sach-<br />

Aspekt 2<br />

Sach-<br />

Aspekt 3<br />

Sach-<br />

Aspekt n<br />

• Perspektive<br />

C<br />

• Perspektive<br />

X<br />

Strukturschema: Wie <strong>wir</strong>d beobachtet (wer <strong>und</strong> wozu?)? <strong>Was</strong> <strong>wir</strong>d beobachtet?<br />

Wählen <strong>wir</strong> dann daraus aus, was uns beson<strong>der</strong>s problematisch <strong>und</strong> lösungsbedürftig<br />

ersche<strong>in</strong>t; entscheiden <strong>wir</strong> darüber geme<strong>in</strong>sam, <strong>in</strong>dem <strong>wir</strong> es kommunizieren, wie im<br />

Schema zur Themenf<strong>in</strong>dung dargestellt.<br />

Themenf<strong>in</strong>dung<br />

Damit s<strong>in</strong>d die nicht-ausgewählten Schwerpunkte nicht erledigt, sie s<strong>in</strong>d nur auf Zeit nicht<br />

prioritär. Es können bei <strong>der</strong> Arbeit neue Gesichtspunkte auftauchen, vor allem auch neue<br />

Vernetzungen <strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche. Sie können die Problemstellung erweitern o<strong>der</strong><br />

verschieben. Vielleicht zeigt sich das große Problem auch <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>es Dilemmas (o<strong>der</strong><br />

Trilemmas, Tetralemmas, Pentalemmas). Dar<strong>in</strong> besteht dann die lohnende Arbeit, <strong>der</strong> Lehrer<br />

<strong>wir</strong>d zum Mitarbeiter <strong>und</strong> Berater <strong>in</strong> geographischen Fachfragen <strong>der</strong> „Dritten Säule“ <strong>und</strong><br />

zum Mediator des Arbeitsprozesses.<br />

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Dritte Säule<br />

<strong>Was</strong> <strong>wir</strong> dabei am wenigsten brauchen, s<strong>in</strong>d fertige Antworten zum Abfragen – das wäre nur<br />

e<strong>in</strong>e Karikatur des Bildungsauftrags von Schule.<br />

<strong>Was</strong> <strong>wir</strong> am meisten brauchen, ist die <strong>Metakognition</strong> – also Klarheit darüber, was <strong>wir</strong> warum<br />

<strong>und</strong> wie gemacht haben <strong>und</strong> ob dieses s<strong>in</strong>nstiftend <strong>und</strong> handlungsorientierend geworden ist.<br />

<strong>Was</strong> <strong>wir</strong> im Idealfall von Unterricht gemacht haben, ist die Anknüpfung an Erfahrung, das<br />

Wecken neuer Vorstellungen <strong>und</strong> das Begreifen über Begriffe. Wir nennen dies<br />

„Verständnis<strong>in</strong>tensives Lernen“.<br />

Die Leis<strong>tun</strong>g <strong>der</strong> <strong>Metakognition</strong> ergibt sich aus expliziter <strong>Reflexion</strong> im E<strong>in</strong>zelfall <strong>und</strong> durch<br />

Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>hal<strong>tun</strong>g von Schülern <strong>und</strong> Lehrern.<br />

Wenn dies schon selbstverständlich <strong>und</strong> allgeme<strong>in</strong> akzeptiert ist, können <strong>wir</strong> gleich weiter<br />

machen. Wenn nicht, können <strong>wir</strong> jetzt darüber kommunizieren – „Wor<strong>in</strong> besteht eigentlich<br />

das Problem?“ – mit Selbstreflexion <strong>und</strong> dem Bewusstse<strong>in</strong> von Bl<strong>in</strong>den Flecken.<br />

Jenaer Würfel<br />

Der Jenaer Würfel <strong>wir</strong>d uns helfen, dass <strong>wir</strong> diese Fragen nach allen Seiten drehen <strong>und</strong> damit<br />

Klarheit stiften. Wir können jetzt verständlich <strong>und</strong> genau sagen, was <strong>wir</strong> <strong>tun</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Schulgeographie</strong> – <strong>und</strong> warum.<br />

Und als Ernte aus diesem Beackern des Feldes <strong>der</strong> fachlichen Standards bleibt uns dann am<br />

Ende die Beurteilung, die Bewer<strong>tun</strong>g <strong>und</strong> die eigene Handlungsorientierung.<br />

Dies können <strong>wir</strong> dann Bildung nennen.<br />

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