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Tilman Rhode-Jüchtern

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<strong>Tilman</strong> <strong>Rhode</strong>-<strong>Jüchtern</strong>/ Antje Schneider<br />

„Es ist, wie es ist“? – Ein Bericht aus der Jenaer Geographiedidaktik<br />

1. Fenster, nicht Spiegel<br />

1<br />

es ist, wie es ist<br />

les choses sont ce qu´elles sont<br />

le cose sono cio che sono<br />

„Es ist, wie es ist“ – so behauptet das Motto mit universellem Anspruch in mehreren<br />

Sprachen. So hätten wir früher in der Geographie und ihrer Didaktik auch gesprochen,<br />

vielleicht noch mit der vorgelagerten Feststellung: „Es ist, was es ist.“. Schließlich hätten wir<br />

ja erst mal feststellen müssen, was da Sache ist, ehe wir über ihr Wie sprechen können.<br />

Konkreter: „Es“ ist ein Stadt, ein Land, ein Fluss, und er/sie/es haben folgende Eigenschaften<br />

...<br />

Nun leben wir in Zeiten des genaueren Hinsehens. Es ist nicht mehr so selbstverständlich,<br />

einfach von „der“ Sache auszugehen und ihre materielle Essenz zu beschreiben. Wir müssen<br />

uns schon dazu bequemen, den Aspekt zu benennen, unter dem eine Sache betrachtet werden<br />

soll. Die „Ladung“ einer Sache ist ja nicht einfach nur die einer Schichtstufe oder eines<br />

Central Business Districts (CBD), die man definieren, zuschreiben und dann auch abfragen<br />

kann.<br />

Die neue Erkenntnis ist also als relativ definiert: Es ist so, wie es mir scheint 1 . Die zugehörige<br />

Operation lautet also: Ich betrachte eine Sache in einer bestimmten Hinsicht, und es dient der<br />

Klarheit, wenn ich mir und meinen Partnern das auch offen lege. Für mich kann also eine<br />

Schichtstufe Gegenstand einer morphologischen Betrachtung sein: Schichtstufe betrachtet als<br />

Gestalt im Kontext von Geologie, Klima und Erosionsprozessen. Oder: Schichtstufe als<br />

Kontext von Besiedlung und Verkehrserschließung, oder als landschaftliche Schönheit im<br />

Fremdenverkehr usw. Dazu kommt, dass auch diese Differenzierung nach Sachaspekten in<br />

verschiedene Wahrnehmungen unterschieden werden muss: Jede Wahrnehmung entsteht in<br />

Wahrnehmungsfiltern, z.B. dem Filter aus „beruflicher Sinngebung“ (Buttimer). Man kann<br />

dies „Fenster der Weltbeobachtung“ nennen (wie Anne Buttimer 2<br />

) und macht damit deutlich,<br />

dass das nichts Unfachliches ist im Sinne von „Subjektivität“ oder Willkür, sondern fachlich<br />

notwendig. Die Sache ist also in ihrem „Wesen“ nicht vollständig selbsterklärend, sondern sie<br />

wird auch durch die Art der Beobachtung „gemacht“; die Art der Beobachtung wiederum<br />

folgt allgemein bestimmten Zwecken.<br />

„Fenster, nicht Spiegel“ 3<br />

ist demnach die Schablone, in der eine Beobachtung zu relativieren<br />

wäre.<br />

1<br />

Dieser Satz lautet ursprünglich „So ist es (wenn es Ihnen so scheint“ bzw. „Cosi è (se vi pare)“ und stammt<br />

vom Dramatiker Luigi Pirandello (1912)<br />

2 Anne Buttimer (1984): Raumbezogene Wahrnehmungsforschung. Forschungsstand und Perspektiven. Spiegel,<br />

Masken und Milieus. In: Buttimer, A. (Hrsg.): Ideal und Wirklichkeit in der angewandten Geographie.<br />

Kallmünz/ Regensburg, S.15-64 (= Münchener Geographische Hefte, Bd. 51)<br />

3 Dieses Bild stammt ursprünglich von Rainer Maria Rilke und bezieht sich für ihn auf die Dichtkunst: „ ... dass<br />

sie mir Fenster sei in den erweiterten Weltraum des Daseins“ („Testament“ von 1921 (4 Bände, Bd. 4,<br />

Frankfurt/M. 1996, S.721). „Fenster sein, nicht Spiegel“ gelte auch für die Wissenschaft, sagt Ernst Peter<br />

Fischer: „Tatsächlich spiegeln die Naturwissenschaften ja nicht die Natur. Sie zeigen nicht das, was sichtbar ist.


Dann würden wir auf einer Exkursion auch nicht einfach die Ostereifrage stellen „Was sehen<br />

Sie?“ und dann die klare „Gefunden!“-Antwort erwarten „Eine Schichtstufe“ (o.ä.). Wir<br />

würden vielmehr fragen: „Wie könnten wir die Landschaftsgestalt beschreiben?“ oder „Wie<br />

kann man die Lage der drei Burgen auf den Zeugenbergen erklären?“ oder „Was kann diese<br />

Gestalt für den Fremdenverkehr bedeuten?“. Darin sind eingebaut die Suche nach<br />

Beobachtungskriterien, nach determinierenden oder dominierenden Faktoren, nach<br />

Bedeutungszuweisungen und die Benennung eines beobachtenden und deutenden Subjekts<br />

(„Sie“ oder „Wir“ statt „Was ist?“ oder „Wie erklärt sich?“). Außerdem wird der Indikativ des<br />

„So ist es“ öfter mal ersetzt durch den Konjunktiv des „So könnte man es beobachten, man<br />

könnte es aber auch anders beobachten“.<br />

2. „Weltbilder entstehen im Kopf“<br />

„Weltbilder entstehen im Kopf“, und da es verschiedene Köpfe/ Blickwinkel/ Fenster für die<br />

Weltbeobachtung gibt, entstehen auch verschiedene Weltbilder. Das ist nicht nur eine<br />

geometrische oder anthropologische Weisheit, sondern auch eine wissenschaftstheoretische<br />

Auflage: „Die Theorie entscheidet, was wir beobachten können“ heißt es bei Albert Einstein.<br />

(Natürlich „entscheidet“ nicht die Theorie, sondern vorher das wissenschaftlich tätige<br />

Subjekt, welche Theorie es benutzen möchte; allerdings entscheidet es das nicht immer<br />

explizit und in Alternativen, sondern übernimmt öfter einfach mal den Mythos, dass es die<br />

eine richtige Theorie sei, die es da verwendet – ein klassischer Zirkelschluss. Man kann dies<br />

mit dem Fischer vergleichen, der ein Netz mit der Maschenweite 5 cm verwendet; also<br />

existieren für ihn auch nur Fische ab der Größe 5 cm, alles andere ist für ihn außerhalb des<br />

Netzes und also außerhalb des Blicks 4<br />

.)<br />

Köpfe f<br />

Die Köpfe (Kasten) zeigen bildhaft, dass es verschiedene Hintergrundtheorien sind, die da in<br />

den Köpfen wirken. Im Fall des Holzkopfes (eine Installation von Raul Hausmann aus dem<br />

Jahre xxx) ist es die Annahme, die Welt lasse sich in Maß und Zahl modellieren und man<br />

müsse diese Daten nur noch programmgemäß einfüllen, um ein Bild von der Wirklichkeit zu<br />

erhalten; das ist nicht etwa falsch, sondern eine bestimmte Art der Beobachtung. Die beiden<br />

Köpfe daneben zeigen im Schnitt durch die black box der Schädel, wie hier über ein Weltbild<br />

bzw. innerhalb eines Weltbildes kommuniziert wird, Wirklichkeit wird in und durch<br />

Kommunikation erzeugt; die Welt ist – scheinbar – so , wie sie in der Kommunikation<br />

erscheint. Man wird hier also nicht die Wirklichkeit an sich beobachten, sondern die Themen<br />

und ihre Bedeutung in und durch Kommunikation. Wenn die Menschen sich einig wären über<br />

Vielmehr zeigen sie das, was unsichtbar bleibt. Sie erklären etwas, das wir sehen – zum Beispiel das Fallen eines<br />

Apfels oder die variable Vielfalt der Lebensformen – , durch etwas, das wir nicht sehen, also durch die<br />

Schwerkraft der Erde oder die natürliche Selektion der Natur oder ihre molekulare Grundlage. Die<br />

Naturwissenschaften bringen im Bereich des Sichtbaren Fenster an, um uns die Möglichkeit zu geben, die Natur<br />

in diesem Rahmen zu durchschauen. Und folglich sollten auch die Wissenschaften selbst als Fenster vor- und<br />

dargestellt werden, um durchschaubar zu werden. Wenn dies gelungen ist, kann man sich schließlich an die<br />

Frage wagen, was für ein Welt- und Menschenbild dabei als offenes Geheimnis sichtbar wird.“ (E.P. Fischer<br />

(2001): Die andere Bildung. München, S. 17f)<br />

4 Hans Peter Dürr (2002): Andere Sichten auf die Welt zulassen. In: Frankfurter Rundschau, 9.September 2002,<br />

zit. in <strong>Rhode</strong>-<strong>Jüchtern</strong> (2004/2006), S.13: „Der Astrophysiker Hans Peter Dürr erzählt die Parabel des englischen<br />

Astrophysikers Sir Arthur Eddington nach, in der der Wissenschaftler mit einem Fischer verglichen wird. Dieser<br />

kommt zu dem Schluss, dass alle Fische größer als fünf Zentimeter seien. Dass die Maschenweite seines Netzes<br />

allerdings fünf Zentimeter betrug, wollte er nicht hören: ´Was ich mit meinem Netz nicht fangen kann, liegt<br />

prinzipiell außerhalb fischkundlichen Wissens.“<br />

2


ihre Themen, wenn sich die Ansicht zur Gewissheit über das So-Sein verfestigt, wäre die<br />

Kommunikation beendet (wir reden hier nicht über das Reden am Stammtisch). Das heißt<br />

aber nicht, dass die Sache selbst sich vereindeutigt hätte, sondern es ist deren vereinheitlichte<br />

Anschauung. Das ist für Beobachter von Welt entscheidend wichtig, damit sie nicht eine<br />

Sache und Anschauungen darüber für dasselbe halten (einen solchen Fehlschluss nennen wir<br />

„Essentialismus“).<br />

3. Was Didaktik alles zu tun hat: Lehrerbildungsstandards<br />

Der Auftrag an alle lehrerbildenden Fächer in allen deutschen Bundesländern bemisst sich<br />

u.a. an den sog. „Lehrerbildungsstandards“ der deutschen Kulturministerkonferenz (KMK)<br />

von 2004 5<br />

. Sie lauten übersichtlich in vier Kompetenzbereiche verpackt: Unterrichten,<br />

Erziehen, Beurteilen und Innovieren. Aus diesem großen Auftrag an die<br />

Bildungswissenschaften werden sich die einzelnen Fächer machbare und relevante<br />

Spezialitäten auswählen. Für die Geographiedidaktik kommt in Frage: Im Kompetenzbereich<br />

„Unterrichten“ das Augenmerk auf Neue Lernkultur zu richten, im Bereich „Erziehen“ das<br />

Erziehen für eine theoriegeleitete Neugier, im Bereich „Beurteilen“ zunächst mal die<br />

Beurteilung des eigenen Ausbildungserfolgs, im Bereich Innovieren die Besichtigung des<br />

fachwissenschaftlichen Diskurses in seinen erfolgversprechenden und erklärungsstarken<br />

Teilen.<br />

Wie lassen sich diese großen Prunkwörter „Neue Lernkultur“, „Theoriegeleitete Neugier“,<br />

„Fachdiskurs“ und „Selbstreflexion“ übersetzen in konkretes Lehrhandeln? Im folgenden<br />

werden dazu vier Anwendungen berichtet.<br />

Neue Lernkultur. „Neue Lernkultur“ ist nicht einfach eine Leerformel, sondern definiert.<br />

Geographieunterricht ist demnach ein konstruktiver, subjektzentrierter und<br />

handlungsorientierender Lehr-Lernprozess. Das bezieht sich – ganz im Sinne der kategorialen<br />

Bildung nach Klafki 6<br />

– sowohl auf die zu erkennende Sache als auch auf die erkennenden<br />

Subjekte.<br />

Nehmen wir die Lehr-/Lernkultur auf einer Exkursion, hier: nach Gomera. Man nähert sich<br />

der Insel aus der Luft und auf dem Wasser zunächst mal ganz „unstrukturiert“ (vgl.<br />

Satellitenbild) .<br />

Satellitenfoto Gomera<br />

Damit kann man zwar als Wanderer oder Rentner anreisen, aber nicht als ambitionierter<br />

Exkursionsteilnehmer. Es ist also eine Beobachtungsrichtung vorzugeben, die sich aus einer<br />

plausiblen Problemstellung ergibt, z.B. „La Gomera – La Isla ecologica“. Es ist zu<br />

beobachten, ob Gomera eine „ökologische Insel“ ist, was dies für die Insel, für die Bewohner,<br />

für den Tourismus bedeutet. Daraus kann eine Problemstellung abgeleitet werden, z.B.: Soll<br />

der Wandertourismus als naheliegende Alternative gefördert und ausgebaut werden? Dies<br />

kann dann – immer näher heranzoomend – am Beispielsfall „Zeltplatz im Nationalpark“<br />

beforscht werden. Erste Übung für eine solche Beforschung, z.B. in Form einer<br />

„Nutzwertanalyse von Alternativen“, ist die Abgrenzung des Untersuchungsgebietes. Die<br />

5 Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der KMK vom 16.12.2005<br />

6 „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine Wirklichkeit ‚kategorial’<br />

erschlossen hat und dass eben damit er selbst – dank der selbstvollzogenen ‚kategorialen’ Einsichten,<br />

Erfahrungen, Erlebnisse – für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist.“ Wolfgang Klafki (1063): Studien zur<br />

Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel, 25-45<br />

3


Lernenden, Schüler wie Lehramtsstudenten gleichermaßen, werden froh sein, dass sie endlich<br />

„etwas Richtiges“ zu tun bekommen, sie sollen mit dem Kompass das Untersuchungsgebiet<br />

kartieren („Geländeaufnahme“ haben sie an anderer Stelle schon gelernt). Aber: Am Abend<br />

werden bei sechs Arbeitsgruppen sechs grundverschiedene Faustskizzen auf den Tisch<br />

kommen.<br />

Was ist passiert, warum sind die Skizzen nicht alle mehr oder weniger gleich, so wie es bei<br />

der Kartierungsübung im heimischen Park eindrucksvoll geklappt hat? Die Unterschiede<br />

liegen weniger in der groben Messtechnik als vielmehr in dem unterschiedlichen Zuschnitt<br />

des kartierten Untersuchungsgebietes. Die einen kartieren wirklich nur den Zeltplatz als den<br />

Kern der Raumnutzung durch Rucksacktouristen, hier wird geschlafen, gegessen und<br />

gesungen. Andere denken auch an die Abwässer, die direkt in einen kleinen Bach (El Cedro)<br />

geleitet werden und auch optisch direkt zu verfolgen sind, vielleicht denken sie auch an den<br />

Bach als Zufluss für den Bedarf am Zeltplatz. Wieder andere denken daran, dass ein Zeltplatz<br />

auch ein ästhetisches und akustisches Problem sein kann und kartieren das Tal im Hinblick<br />

auf Blick- und Geräuschverschattung. Wieder andere denken an die Verkehrsanbindung des<br />

Zeltplatzes, die bei einer erweiterten Nutzung sicherlich verbessert werden müsste, z.B. durch<br />

einen Linienbus oder wenigstens eine grundlegende Überarbeitung der Wanderwege. Mit<br />

anderen Worten: In den zugrundegelegten Annahmen über die Folgen einer<br />

Zeltplatzerweiterung entsteht eine jeweils andere Region. Die Studierenden erkennen dies erst<br />

im Nachhinein und diskutieren dann aus der konkreten Erfahrung heraus über das Problem<br />

der Regionalisierung. Sie merken bei der Gelegenheit, dass der Kompass und die<br />

Geländeaufnahme nur ein Instrument der Beobachtung und keineswegs ein Selbstzweck sind.<br />

Dies nennen wir verständnisintensives Lernen (Peter Fauser). Hätte der Lehrende dies alles<br />

vorher abgeklärt, wäre diese Erfahrung nicht entstanden, sie wäre als unproblematisch<br />

übersehen worden.<br />

Innovative Fachentwicklung. So ganz viel Neues kann der Geographielehrer von der<br />

Fachwissenschaft nicht erwarten; diese ist inzwischen viel zu speziell geworden und an<br />

Lehrerausbildung nicht originär interessiert. Ausnahmen mögen zuweilen eine Broschüre zum<br />

Klimawandel sein (wie sie zum Geographentag 2007 in Bayreuth von den Physischen<br />

Geographen der Humboldt-Universität Berlin verteilt worden ist 7 ) oder einzelne Beiträge in<br />

fachdidaktischen Zeitschriften, sofern sie auf erklärungsstarke Hintergrundkonzepte<br />

verwiesen, wie z.B. das Syndromkonzept 8 . Die Fachwissenschaft selbst befindet sich wieder<br />

und noch immer in einer Debatte über eine „Dritte Säule“ zur Verbindung natur- und<br />

sozialwissenschaftlicher Kompetenz in der Geographie 9<br />

7<br />

Endlicher, Wilfried/ Gerstengarbe, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.)2007): Der Klimawandel – Einblicke, Rückblicke<br />

und Ausblicke. Potsdam ( http://edoc.hu-berlin.de/miscellanies/klimawandel/)<br />

8<br />

Das Syndromkonzept ist ursprünglich vom Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen<br />

(WBGU) erdacht und seit 1994 in die Diskussion gebracht worden; danach ist es jahrelang im Rahmen des<br />

Bund-Länder-Programms „21 – Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ (Gerhard de Haan u.a.) für die<br />

Schule erprobt worden. Erst viel später ist es explizit in der Geographiedidaktik gelandet, vgl. Schindler,<br />

Joachim (2005): Syndromansatz. Ein praktisches Instrument für die Geographiedidaktik. Münster (Reihe Praxis<br />

Neue Kulturgeographie, LIT-Verlag) Auch hier hat es lange gedauert nach der ersten Vorstellung des Konzepts<br />

1994 in der Öffentlichkeit: Im selbsternannten Standardwerk „Geographie unterrichten lernen“ von Haubrich<br />

u.a. war hiervon im Jahre 2006 noch nichts zu lesen. Das neue Werk „Welt im Wandel“ widmet dem Konzept<br />

2007 dann einige Seiten, allerdings wiederum mit Verweis auf alte Literatur um 1996. Das nennen wir einen<br />

typischen time lag und gehen von einer Größenordnung von +/- 10 Jahren aus.<br />

9<br />

vgl. die Tagungen über integrative Projekte in der Geographie, sie sich u.a. mit dem Namen von Peter<br />

Weichhart (Wien) verbinden (www.univie.ac.at/peter.weichhart/TGPhHum/TgPHHOme.html), z.B. „Auf der<br />

Scuhe nach der „dritten Säule“. Gibt es Wege von der Rhetorik zur Pragmatik“ (verfügbar im Internet s.o.),<br />

DFG-Rundgespräch „Methodische und konzeptionelle Problmee der Gesellschaft-Umwelt-Forschung“<br />

17./18.2.2006 im IfK Leipzig, zuletzt „Umwelt als System – System als Umwelt? 15./16.6.2007 Bonn. Parallel<br />

4


Für unsere Zwecke in der Geographiedidaktik geht es natürlich nicht darum, sich Probleme<br />

der Paradigemenvielfalt an den Hals zu laden, die man ohne die Fachwissenschaft gar nicht<br />

hätte 10 . Es geht aber sehr wohl darum, sich in dieser Vielfalt orientieren zu können und<br />

begründet daraus auszuwählen. Hier wird vorgeschlagen, dies mit den konstruktivistischen<br />

Metatheorien zu tun 11<br />

. Dafür eignen sich je nach Fokus v.a. die soziologische Systemtheorie,<br />

die Handlungstheorie und die Diskursorientierung.<br />

Wenn man ein Thema im gesellschaftlichen Kontext auf seine Funktionsweise im<br />

Makromaßstab hin untersuchen möchte, z.B. die professionelle Behandlung des<br />

Klimawandels in den einzelnen gesellschaftlichen Funktionsbereichen (Wirtschaft, Politik,<br />

Wissenschaft, Medien, Erziehung, Religion u.a. nach Luhmann), ist man mit der Metatheorie<br />

der Systemtheorie gut ausgestattet 12<br />

. Will man dagegen im Meso- oder Mikromaßstab<br />

rekonstruieren, wie Entscheidungsträger sich in ihrem Handeln orientieren und dies durchaus<br />

auch bis auf die Ebene von Individuen ausdehnt, greift man in das Regal der<br />

Handlungstheorien. Will man zuvor noch klären, wie in einer Gesellschaft konkret und<br />

vielfältig kreuz und quer über ein Thema diskutiert wird, etwa im Spiegel der Medien, wird<br />

man sich diskursorientiert betätigen. Alle diese Theoriebereiche sind natürlich in gewisser<br />

Weise übergreifend, haben aber ihre spezifischen Stärken nacheinander; wenn die Makro-<br />

Systemtheorie mit der Aussparung der Individuen aufhört, beginnt die Handlungstheorie;<br />

diese wiederum wird sich an die Rekonstruktion von Meinungsbildung im gesellschaftlichen<br />

Diskurs anlehnen. Je nachdem, was man genau in den Fokus richten möchte.<br />

Wissenschaftspropädeutischer Habitus. Vor allem geht es bei dem so verstandenen<br />

Geographieunterricht um ein Ernstnehmen der entsprechenden Präambeln in den Lehrplänen,<br />

in denen immer wieder von Wissenschaftspropädeutik (oftmals sogar von<br />

Wissenschaftlichkeit/ wissenschaftlichen Verhaltensweisen die Rede ist. Dazu gehört, eine<br />

lohnende Problemstellung zu entdecken, und zwar in der Spannung von Wissen und<br />

Nichtwissen (man muss für eine solche Spannung also bereits viel Wissen haben, um zugleich<br />

erkennen zu können, wo sich eine Weiterarbeit lohnt). Wenn Schüler oder Studenten sich nur<br />

ein Thema „abholen“ wollen, für ein Referat oder eine Hausarbeit, sind sie zunächst nur<br />

Sachbearbeiter, aber keine Wissenschaftler. Alle Operationen im wissenschaftlichen<br />

Arbeitsprozess sollen im kleinen ebenfalls gehandhabt werden: Problementdeckung,<br />

Hypothesenbildung, Konzeptualisierung einer Untersuchung zur Hypothesenprüfung, factfinding,<br />

forschungslogisch saubere Bearbeitung der Arbeitsfragen, Interpretation der<br />

Ergebnisse, ggf. Revision der Hypothesen und der Empirie, schließlich Übergabe in den<br />

nichtwissenschaftlichen Kontext (Verwertung),<br />

dazu laufen Tagungen zur Neuen Kulturgeographie, zuletzt 2007 in Frankfurt (Tagung Nr. IV) und 2008 in Jena<br />

(Tagung Nr. V).<br />

10 Hartwig Haubrich (2007) bestreitet allerdings die Notwendigkeit einer wissenschaftstheoretisch tragfähigen<br />

Konzeption für die Re-Integration des Faches: „Das Schulfach Geographie leidet nicht unter einer der<br />

Fachwissenschaft analogen Zersplitterung und muss sich deshalb nicht auf Kosten der Lösung eigener Probleme<br />

um die Probleme der Fachwissenschaft kümmern.“ In: Geographie und ihre Didaktik“ 1/2007)<br />

11 vgl. <strong>Rhode</strong>-<strong>Jüchtern</strong>, <strong>Tilman</strong> (²2006): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte - 10 Werkstücke zu einer<br />

Geographiedidaktik der Unterscheidung. Wien (Reihe MGW Bd. 18), v.a. Kap. 1-3<br />

12 z.B. Luhmann, Niklas (1986, 4.Aufl. 2004): Ökologische Kommunikation – Kann sich die Gesellschaft auf<br />

ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden<br />

Luhmann, Niklas (1996, ³2004)): Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden<br />

Luhmann, Niklas/ Baecker, Dirk (²2004): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg<br />

Berghaus, Margot (2004): Luhmann leicht gemacht (Böhlau Verlag)<br />

5


Unsere Kartierungshandwerker auf La Gomera (s.o.) mussten ihre instrumentelle Tätigkeit in<br />

einem wissenschaftspropädeutischen Kontext stellen. Das konnten sie tun, weil sie die<br />

Erfahrung mit der – nicht aus sich heraus validen (wertvollen) – Messung selbst gemacht<br />

hatten und nun nach einer Passung mit der Problemstellung suchen mussten.<br />

Ähnlich ergeht es allen Kandidaten für eine Staatsexamensarbeit. In einer Reihe von<br />

Annäherungen wird die Arbeit aus einer vorläufigen Stichwortidee konzeptualisiert. Die<br />

Studenten erfahren, dass sie im Prinzip jedes Thema in der neuen Denkweise organisieren<br />

können, dass sie dafür aber die Reichweite der jeweiligen Theorie kennen müssen und sich<br />

auf eine Variante innerhalb des Konstruktivismus entscheiden müssen.<br />

Im folgenden findet sich eine Reihe von Themen von Examensarbeiten, die alle eines<br />

gemeinsam haben: In ihnen wird die verwendete Metamethode benannt (hier fett gedruckt)<br />

und in ihrer Passung zum Inhalt auch plausibel.<br />

„Europa wird gemacht“ – Annäherungen an eine europäische Identität<br />

Die Erfindung von Heimat in der Fremde – Das Beispiel Studierender im Ausland<br />

Peacekeeping als Entwicklungshilfe? Der Bundeswehreinsatz im Kongo. Eine Diskursanalyse<br />

Erzählte Räume – Reisebiographien junger Ostdeutsche<br />

Alternative Energien und Klimawandel – Der Diskurs über Pflanzen als Energieressource<br />

Ökologische Kommunikation als gesellschaftliches Vorsorgeprinzip am Beispiel der Deponie<br />

Großlöbichau<br />

Logos, paideia, poiesis als Fenster der Weltbeobachtung – Einblicke in die Bürgerkriege Afrikas<br />

Moscheen in Deutschland – Eine Diskursanalyse zum regionalkulturellen Milieu<br />

Das Dilemma der Energiefrage am Beispiel moderner Kohlekraftwerke<br />

Kartenlesekompetenz – Ein Beitrag zum konstruktivistischen Geographieunterricht<br />

Alltägliche Regionalisierungen von Todesorten in Deutschland<br />

Ein Beispiel aus dieser Liste: „Alternative Energien und Klimawandel – Der Diskurs über<br />

Pflanzen als Energiereserve“ 13<br />

. Der Verfasser ist im zweiten Fach Biologe und macht seine<br />

zweifache Fachkompetenz fachverbindend und –übergreifend nutzbar. Zur Zeit der Arbeit<br />

galten alternative Energien zweifelsfrei als fortschrittlich und als zielführend für die<br />

Minderung von klimaverändernden Gasen; es wurden politisch Beimischungen von<br />

Biokraftstoffen beschlossen, um am Symptom CO2-Ausstoß zu arbeiten. Die unbeabsichtigten<br />

Nebenfolgen, wie z.B. der rigorose Raubbau am Tropischen Regenwald in Brasilien für den<br />

Zuckerrohranbau zur Ethanolgewinnung einschließlich CO2-intensiver Brandrodung wurden<br />

dabei nicht thematisiert (ähnliches gilt für die Palmölgewinnung in Indonesien auf Kosten des<br />

Regenwaldes). Die Diskursanalyse legte dieses tiefgründige Defizit frei und zwar dadurch,<br />

13 Henning Mertens (2007): Alternative Energien und Klimawandel – Der Diskurs über Pflanzen als<br />

Energiereserve. (Veröff. i.V. als Bd. 5 in der Reihe „Praxis Neue Kulturgeographie“ 2008)<br />

6


dass die axiomatische Heiligsprechung des Biokraftstoffes im Diskurs des Jahres 2007 durch<br />

Nichtbemerken bzw. Verschweigen der Nebenfolgen deutlich wurde. Mit anderen Worten:<br />

Die Analyse befasst sich nicht nur mit dem Textkorpus selbst, sondern auch mit dem, was in<br />

ihm nicht vorhanden war (ähnlich sollte man im Geographieunterricht z.B. auch mit Bildern,<br />

Karten, Statistiken umgehen: „Was zeigt dieses Medium nicht, obwohl es wichtig ist oder sein<br />

könnte?“).<br />

Aus dem Symptom wurde ein Syndrom sichtbar gemacht. Die Forschung, hier: die<br />

Diskursanalyse bildete nicht nur reproduktiv einen Befund ab, sondern gab den Blick frei auf<br />

das Problemfeld des Klimawandels und den untauglichen Versuch, dieses eindimensional<br />

(CO2 Minderung beim Automotor) zu lösen. Würde man stattdessen auf Vermeidung (statt auf<br />

stofflichen Ersatz) setzen, böte sich z.B. ein Tempolimit mit einem Minderungseffekt von ca.<br />

2 Millionen t CO2 pro Jahr in Deutschland an. Hier wird aber plötzlich mit Nebenfolgen<br />

argumentiert: 2 Millionen Tonnen seien nur Peanuts, hingegen würden die US-Bürger keine<br />

deutschen Premium-Autos mehr kaufen, wenn diese in Deutschland nicht frei weg rasen<br />

dürfen. Damit wird die Diskursanalyse nicht nur offenbaren, was explizit diskutiert wird,<br />

sondern durch eine besondere Optik des Analytikers auch, was nicht diskutiert oder verdrängt<br />

wird. Das gehört zur kritisch-reflexiven Diskursanalyse wie der Schatten zum Baum.<br />

(Selbst)-Reflexion. Der vierte Standardbereich betrifft die Diagnose. In der<br />

Geographiedidaktik haben wir vorerst die Selbstreflexion im Lehrprozess ausgewählt, weil<br />

zunächst die Lehre selbst funktionieren muss, ehe man den Lernerfolg bei anderen<br />

kontrollieren kann. „Erziehung der Erzieher“ heißt eine alte reformpädagogische Parole dafür.<br />

Übliche Evaluationsbögen am Ende einer Veranstaltungsreihe erbringen allenfalls<br />

durchschnittlich erteilte Bewertungen („Dozent war vorbereitet: trifft zu – trifft gar nicht zu“),<br />

feinere Beobachtungen und Konsequenzen sind schwer daraus zu ziehen. Deshalb sind<br />

ergänzend Arrangements und Beobachtungen „unter dem rollenden Rad“ hilfreich, wie das<br />

Experiment mit der Tafel „Bitte HIER warten“, aufgestellt einige Meter vor dem<br />

Seminarraum.<br />

Tafel „Hier warten“<br />

Diese Tafel löst verschiedene Lesarten aus, von der völligen Ignoranz bis zum ratlosen<br />

Warten im Hintergrund. Am Ende stellten sich drei Gruppen von Reaktionen heraus: Eine<br />

Gruppe akzeptierte die Tafel als Verbotstafel und wartete auf weitere Anweisungen, eine<br />

Gruppe marschierte daran vorbei als wenn nichts wäre, eine dritte Gruppe durchschaute die<br />

Tafel als vermutliches Spiel und verhielt sich aufgeklärt-emanzipiert, indem sie durchging<br />

zum Seminarraum und zugleich die Tafel als Lerngelegenheit in einer Neuen<br />

Kulturgeographie thematisierte. Das genau war intendiert: Die Menschen reagieren auf<br />

räumlich situierte Informationen ganz unterschiedlich, vom kurzschlüssigen Gehorsam über<br />

eine unreflektierte Pragmatik bis hin zum bewussten und autonomen Handeln incl Reflexion.<br />

Rückmeldung an die Lehrenden war demnach, dass die theoretische Diskussion nicht<br />

einheitlich in der alltäglichen Praxis wieder erkannt wird, sondern je nach Denkweise und Art<br />

der Beobachtung differiert. Es ist nicht so sehr wichtig, diese Differenz mit einem Etikett zu<br />

versehen (z.B. die „Räumler“, die „Konditionierten“, die „Autonomen“), als sie überhaupt zu<br />

bemerken und als Problem der Passung von Theorie und alltäglichem Geographiemachen zu<br />

diskutieren. Instrument dafür ist die Irritation, das Herstellen/ Erkennen von Mehrdeutigkeit,<br />

das situative Arrangement; Beobachtungsgegenstand wird dann das Verhalten/ Handeln der<br />

Subjekte in einer polyvalenten Struktur. (Selbstverständlich gibt es weitere<br />

7


Standardarrangements zur Selbstevaluation und Reflexion wie z.B. die Bitte um Beurteilung<br />

der Plausibilität von Klausurfragen.)<br />

4. Lehrerfort- und weiterbildung<br />

Wenn es denn gelungen ist, die Dozenten selbstkritisch bei der Arbeit zu beobachten und die<br />

Lehramtstudenten in ihrem unterschiedlichen Habitus, und das beides in Richtung Passung<br />

zur Theorie (Neuen Kulturgeographie) anzuwenden, bleibt als nächstes Problem der Umgang<br />

mit den bereits fertigen und tätigen Lehrern. Die Denk- und Handlungsmuster des<br />

gewünschten aufgeklärten Geographielehrers bilden sich im Kontext mit<br />

• einer konstruktivistischen Lernkultur<br />

• einem wissenschaftspropädeutischen Habitus<br />

• der Bereitschaft und Fähigkeit zur Rezeption fachtheoretischer Diskurse<br />

• kontinuierlicher (Selbst)Reflexion<br />

Wenn die Schüler einen solchen Lehrer haben, haben sie Chancen auf eine umfassende<br />

Kompetenzentwicklung. Die Bildungsstandards der Schulfächer in Deutschland definieren<br />

diese fachübergreifend ähnlich; für die Geographie 14<br />

sind sie definiert als<br />

• Fachwissen<br />

• Räumliche Orientierung<br />

• Erkenntnisgewinnung/ Methoden<br />

• Kommunikation<br />

• Beurteilung/ Bewertung<br />

• Handlungsorientierung<br />

Auch dies muss also „passen“: die gewollte geographische Gesamtkompetenz gemäß<br />

Bildungsstandards bei den Schülern und die wirksame Kompetenz der Lehrer. Denn der Apfel<br />

fällt nicht weit vom Birnbaum ...<br />

Man kann natürlich Lehrer nicht einfach von alt in neu transformieren, sie müssen sich für<br />

Neues interessieren und selbstgesteuert damit umgehen. Man kann aber Impulse setzen in<br />

Form von Scheinwerfern, inmitten eines unermesslichen Kübels von Problemen und<br />

Alltagsroutinen. Ein solcher Scheinwerfer kann die Beschäftigung mit den Vier<br />

Raumdefinitionen nach dem „Curriculum 2000+“sein 15 . Dies muss attraktiv, also anziehend<br />

gemacht werden als eine neue Form der Raumbeobachtung und –analyse, und nicht etwa<br />

abschrecken durch eine theoretische Litanei. Attraktiv für Lehrer ist etwas insbesondere dann,<br />

wenn es einen plausiblen Gebrauchswert hat und wenn es Vorbilder gibt, die man gerne selbst<br />

erproben mag. Deshalb hat die Jenaer Geographiedidaktik eine Posterserie mit Begleitheft 16<br />

erarbeitet, in der die vier Raumdefinitionen nach „Curriculum 2000+“ am Beispiel des<br />

Hochwassers an der Elbe vorgeführt werden: (a) Der Containerraum, (b) die<br />

Lagebeziehungen, (c) die subjektiven Wahrnehmungen und (d) die soziale, technische,<br />

wirtschaftliche und politische Konstruiertheit.<br />

14<br />

Deutsche Gesellschaft für Geographie (2007): Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren<br />

Schulabschluss. Bonn (www.geographie.de/hgd)<br />

15<br />

Deutsche Gesellschaft für Geographie (2004): Curriculum 2000+. Grundsätze und Empfehlungen für die<br />

Lehrplanarbeit im Schulfach Geographie. Bonn (www.geographie.de/hgd)<br />

16<br />

Jenaer Geographiedidaktik (2007): Ein&Ausblicke. Raumkonzepte praktisch im Dialog. (www.unijena.de/didaktik_geo.html)<br />

8


Aber auch andere Scheinwerfer können im Rahmen von Vorträgen und kleineren Workshops<br />

eingesetzt werden, etwa zur Exkursionsdidaktik, zur Aufgabenkultur, zu Alternativen in der<br />

Leistungsbewertung etc.. Wichtig ist, dass immer ein neues Denken dahinter sichtbar wird, in<br />

der Fachorientierung, in der Lernkultur und in der Qualitätsentwicklung insgesamt. Auch<br />

sperrige Lehrer werden durch die Befürchtung erreichbar, dass anders ihr/unser Schulfach als<br />

belangloses Fossil enden würde (und damit übrigens auch ein großer Anteil der<br />

Hochschulgeographie wegen einbrechender Nachfrage) 17<br />

. Wichtig ist auch, dass diese<br />

Scheinwerferveranstaltungen als kollegiale Dienstleistung und nicht als hegemoniales<br />

Besserwissen erkannt und akzeptiert werden kann.<br />

Das Material dafür kann nicht nur in fertigen Folien bestehen, weil sonst die notwendige<br />

(auch nachholende) Entwicklung nur als Problem der Stundenplanung oder als Hilfe zur<br />

besseren Motivation der Schüler, kurz: als Methodenproblem erscheinen könnte. Es geht aber<br />

tatsächlich um eine Weiterbildung der Lehrerköpfe, auch um ihrer selbst willen.<br />

Eines der Formate dafür ist – neben Vorträgen, Internet- und homepage-Auftritten und<br />

Tagungen – nach wie vor das Printmedium. Die Jenaer Geographiedidaktik ist hier präsent in<br />

einer Vielzahl von Miszellen in den üblichen fachdidaktischen Zeitschriften mit jeweils einem<br />

relevanten Hefttitel 18 . Daneben entwickelt sich auch das Angebot über verstehbare<br />

Monographien 19<br />

, die nicht als Rezeptbücher daherkommen, sondern als Impulse zu einer<br />

theoriegeleiteten Praxis (das schließt ein, dass derartiges nicht ohne glaubhafte eigene Praxis<br />

des Autors/ der Autoren gelingen dürfte).<br />

Für den Kompetenzbereich Innovation, hier speziell den Anschluss an den<br />

fachwissenschaftlichen Diskurs, ist es unerlässlich, dass die Geographiedidaktik sich aktiv<br />

und symmetrisch (um das elende Wort von der „Augenhöhe“ zu vermeiden) zur<br />

Fachwissenschaft aufstellt; ein Ghetto aus theoretischer Unlust und diskursiver Unfähigkeit<br />

bremst und schwächt und spaltet das Fach (wobei es durchaus einige Didaktikvertreter gibt,<br />

die ganz im Gegenteil die Teilhabe am Theoriediskurs als Störung und Spaltung des<br />

mainstreams empfinden und teilweise offensiv verdammen; das kann explizit geschehen oder<br />

durch verkürzte Darstellung des theoretischen Hintergrunds der Fachdidaktik).<br />

Für den Anschluss an den theoretischen Diskurs hat die Jenaer Geographiedidaktik eine<br />

Schriftenreihe im LIT-Verlag ins Werk gesetzt, in der vornehmlich junge Geographen mit<br />

Interesse an einem weitgefassten und theoriegeleiteten Didaktikbegriff ihre Anwendungen<br />

vorstellen. So ist dort 2005 ein schmaler Band zum Syndromansatz erschienen, gleich danach<br />

ein dicker Band zur Reisedidaktik, 2006 ein Band zur handlungstheoretischen Geographie mit<br />

dem Titel „Tatorte“, 2007 ein Band zum Diskurs über die Frankfurter Hochhäuser unter dem<br />

Titel „Erzählte Räume“, mit der einleuchtenden Figur, Dinge nicht mehr einfach an-sich zu<br />

beobachten (also: das Hochhaus), sondern in ihren jeweiligen eigentümlichen Bedeutung 20<br />

17 Arnold Schultze hat bereits 1970 die „Erwähnungsgeographie“ beklagt, die „grauenhafte Dürftigkeit der<br />

schulischen Länderkunde“, die „dürftigste Faktenaufzählung“ und die „Sackgasse des Singulären“ (Schultze, A.<br />

(1070): Allgemeine Geographie statt Länderkunde. In: Geographische Rundschau, 22.Jg., Heft 1, 1-10<br />

18 z.B. Weltverstehen durch Perspektivenwechsel (Praxis Geographie XX), Versteckte Geographie (Praxis<br />

Geographie XX), Raumwahrnehmung und xxxxx,<br />

19 Im Falle des Autors etwa die Katena von „Raum als Text – Perspektiven einer konstruktiven Erdkunde“ Wien<br />

1995), „Den Raum lesen lernen“ (München 1996), „Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte – Zehn<br />

Werkstücke zu einer Geographie der Unterscheidung“ (Wien 2004, ²2006), „Geographiedidaktik der<br />

Unterscheidung – Denkfiguren und Begriffe“ (i.V. Leipzig 2008)<br />

20 Popper Zitat<br />

9


(Hochhaus als ...) 21<br />

Diese Bücher können im Niveau durchaus als Theoriebeitrag gelesen<br />

werden, haben dazu stets einen praktischen Bezug (aus und für die Praxis). Im Idealfall<br />

entwickelt sich so die Geographiedidaktik parallel mit der Fachwissenschaft und der<br />

Metatheorie und nicht mit einem time lag von vielen Jahren (wie leider die schulischen<br />

Lehrpläne; deutlich weniger gravierend die Schulbücher, diese nämlich suchen zunehmend<br />

mit Hilfe agiler Verlagsvertreter ihrerseits nach Trends und setzen hier Fakten).<br />

Es bleibt die selbstkritische Frage, ob sich die Geographiedidaktik nicht übernimmt, wenn sie<br />

das komplette Programm der KMK-Lehrerbildungsstandards übernimmt, dieses in<br />

Ausschnitten selbst theoretisch und praktisch gestaltet, die selbstreflexive<br />

Weltbildentwicklung künftiger Lehrer betreibt (statt nur auf die phantasierten Schüler zu<br />

blicken), Lehramtsanwärter selbst erst einmal in einen wissenschaftspropädeutischen Habitus<br />

versetzt und in den Besitz der Kompetenzen der Bildungsstandards für den mittleren<br />

Schulabschluss, erfahrene Lehrer vertrauensbildend und kompetent weiterbildet, bundesweit<br />

die konstruktivistische Metatheorie in Fachzeitschriften streut und in ungewöhnlichen<br />

Monographien, dazu noch eigene Theoriebeiträge liefert und tiefgründige Anwendungen.<br />

Die Selbstkritik lässt sich versinnbildlichen im selbstgewählten unmöglichen Wappentier. Der<br />

Leser und die Leserin mögen entscheiden, ob die Jenaer Geographiedidaktik wohl bereits zum<br />

größten Teil durch ist oder eher doch noch hinten dran.<br />

Kamel<br />

21<br />

Joachim Schindler (2005): Syndromansatz. Ein praktisches Instrument für die Geographiedidaktik. Münster<br />

2005<br />

Mirka Dickel (2005): Reisen. Zur Erkenntnistheorie, Praxis und Reflexion für die Geogrpahiedidaktik.<br />

Münster<br />

Mirka Dickel/ Detlef Kanwischer (Hrsg.)(2006): Tatorte. Neue Raumkonzepte didaktisch inszeniert. Münster<br />

2006<br />

Martin Scharvogel (2007): Erzählte Räume. Frankfurts Hochhäuser im diskursiven Netz der Produktion des<br />

Raumes. Münster<br />

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