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Leseprobe_Marmorstein und Eisen

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Kriminalroman<br />

Eva Maria Stiehl<br />

FAMILIENANGELEGENHEITEN


<strong>Marmorstein</strong> <strong>und</strong> <strong>Eisen</strong>


Eva Maria Stiehl<br />

<strong>Marmorstein</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Eisen</strong><br />

Familienangelegenheiten<br />

Kriminalroman


Lektorat: Teresa Profanter<br />

Umschlagbild: Nikola Stevanović<br />

Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Eva Maria Stiehl<br />

<strong>Marmorstein</strong> <strong>und</strong> <strong>Eisen</strong><br />

Familienangelegenheiten<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien 2017<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99012-424-6


„Einspruch, Euer Ehren! Es ist nicht akzeptabel, dass<br />

meinem Mandanten, obwohl ihm keinerlei Verschulden<br />

am Scheitern der Ehe nachgewiesen werden konnte, das<br />

Sorgerecht für seinen Sohn entzogen werden soll!“<br />

Empört sprang ich auf, dabei nicht bedenkend, dass<br />

ich einen kurzen Rock aus Leinen trug, welcher sich<br />

über meinen Schenkeln zusammengeschoben hatte <strong>und</strong><br />

meinem Klienten, dem Richter <strong>und</strong> dem gegnerischen<br />

Anwalt, einen ungehinderten Ausblick auf meine Beine<br />

erlaubte. Ersterer schluckte hörbar, der Zweite bekam<br />

einen roten Kopf <strong>und</strong> der Dritte grinste dreckig. Verdammt,<br />

das hatte auch noch gefehlt …<br />

Rasch zog ich meinen Rock hinunter <strong>und</strong> funkelte Sam<br />

Petersen, den Anwalt der zukünftigen Exfrau meines<br />

Mandanten, wütend an. Petersen war ein arroganter<br />

Mistkerl, der mich jedes Mal, wenn wir im Gerichtssaal<br />

aufeinandertrafen, geradezu beleidigend gönnerhaft<br />

<strong>und</strong> herablassend behandelte, nur weil ich eine Frau<br />

war. Doch wenn er glaubte, dass ich mich von so einem<br />

kleinen modischen Missgeschick aus der Fassung bringen<br />

ließ, dann sollte er sich getäuscht haben. Schließlich<br />

war ich schon viel zu lange Anwältin, um nicht zu<br />

wissen, wie es in dem Dschungel, den man gemeinhin<br />

Gerichtssaal nennt, für gewöhnlich zugeht.<br />

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„Mein Mandant hat sich nichts zuschulden kommen<br />

lassen“, setzte ich scheinbar völlig ungerührt fort. „Er<br />

ist bekannt für seine aufopfernde Arbeit als Arzt im<br />

Dienste seiner Patienten, er ist ein aktives Mitglied der<br />

Episkopalkirche <strong>und</strong> war seiner Frau stets ein treuer, fürsorglicher<br />

Ehemann beziehungsweise ein vorbildlicher<br />

Vater für seinen Sohn.“ Nur leider war er schwarz, während<br />

das kleine Luder, das jetzt versuchte, ihn bei der<br />

Scheidung über den Tisch zu ziehen <strong>und</strong> ihm alles wegzunehmen,<br />

was er besaß, sein Kind inbegriffen, so weiß<br />

war wie frisch gefallener Schnee <strong>und</strong> aussah wie Dornröschen.<br />

Das hatte vor Gericht noch nie seine Wirkung<br />

verfehlt, auch wenn Hinweise dafür vorlagen, dass sie<br />

während ihrer Ehe mit allem ins Bett gestiegen war, was<br />

sich nicht rechtzeitig auf die Bäume retten hatte können.<br />

Aber den letzten Satz sprach ich natürlich nicht laut aus,<br />

ich dachte ihn nur. Wem die Sympathie des Richters<br />

galt, wurde allerdings jedes Mal deutlich, wenn er das<br />

blonde Flittchen nur anschaute. Mein Mandant sollte<br />

klar ersichtlich über den Tisch gezogen werden, aber<br />

nicht mit mir, Gentlemen … Wenn ich bei dieser Verhandlung<br />

noch das Geringste mitzureden hatte, dann<br />

würde mein Klient seinen Sohn nicht verlieren – oder<br />

ich wollte nicht länger Rachel <strong>Marmorstein</strong> heißen!<br />

So lautet nämlich mein Name: Rachel Judith <strong>Marmorstein</strong>,<br />

obwohl ich immer nur einen Vornamen benutze.<br />

Als ich als Anwältin anfing, habe ich kurz überlegt, mich<br />

„R. J.“ zu nennen, bin aber dann davon abgekommen.<br />

Wer will denn schon so heißen wie ein sprichwörtlich<br />

gewordener Fernsehserienfiesling, nur verkehrt herum?<br />

Also ich jedenfalls nicht.<br />

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Ich mag meinen Vornamen. „Rachel“, das klingt so<br />

nach einer Heldin aus dem Alten Testament … Dumme<br />

Menschen behaupten übrigens, ich sähe ja gar nicht<br />

jüdisch aus, was erstens beleidigend ist <strong>und</strong> zweitens<br />

nicht stimmt. Mit meinen schwarzen, gewellten Haaren,<br />

der Nase, die die von Barbra Streisand winzig erscheinen<br />

lässt, der olivfarbenen Haut <strong>und</strong> den dunklen<br />

Augen, die ich – wenigstens wenn ich nicht in der Öffentlichkeit<br />

bin – wegen Kurzsichtigkeit hinter einer<br />

Brille verstecken muss, habe ich wirklich nichts, aber<br />

auch schon gar nichts mit dem klassischen amerikanischen<br />

Schönheitsideal von „blond- blauäugig-doof“ gemeinsam.<br />

Außerdem bin ich ziemlich klein <strong>und</strong> neige<br />

zur Pummeligkeit. Ich bin also das, was man auf Jiddisch,<br />

der faszinierenden Sprache meiner europäischen<br />

Ahnen, die ich leider viel zu wenig beherrsche, als<br />

„zaftig“ bezeichnet.<br />

Aber trotzdem bin ich mit mir selbst durchaus zufrieden<br />

<strong>und</strong> finde, dass ich mich für meine ein<strong>und</strong>dreißig<br />

Jahre ziemlich gut gehalten habe. Was meine Figur betrifft,<br />

so ist im Bereich des Balkons noch alles dort, wo<br />

es hingehört, <strong>und</strong> auch das Kellergeschoß hängt mir<br />

noch nicht bis zu den Knien, wenn Sie verstehen, was<br />

ich meine. Ich glaube, ich habe einfach gute Gene, denn<br />

meine Momma, Lena <strong>Marmorstein</strong>, geborene Cohen,<br />

ist mit ihren sechs<strong>und</strong>fünfzig Jahren noch immer eine<br />

außerordentlich attraktive Frau, auch wenn sie ebenfalls<br />

ein paar Pf<strong>und</strong>e zu viel auf den Hüften hat. Und mein<br />

Vater, Shmuel <strong>Marmorstein</strong>, den ich nur „Tate“ nenne,<br />

sieht aus wie das, was er auch ist: nämlich ein Rabbi wie<br />

aus dem Bilderbuch. So wie ich ist auch er nicht groß,<br />

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aber er wirkt unglaublich imposant, besonders wenn<br />

er in der Synagoge die traditionellen Gewänder trägt.<br />

Seine Haare <strong>und</strong> sein Bart sind schon stark von Grau<br />

durchzogen, aber seine Augen hinter der goldgefassten<br />

Brille blitzen so lebhaft, warm <strong>und</strong> klug wie die eines<br />

viel jüngeren Mannes. Und die Damen in seiner Gemeinde<br />

sind deshalb auch alle hinter ihm her wie der<br />

Teufel hinter einer armen Seele.<br />

Wir sind übrigens keine orthodoxen Juden, sondern<br />

gehören einer reformierten, weltlich orientierten Strömung<br />

an. Ich könnte doch niemals so leben, wie ich es<br />

tue, geschweige denn als Anwältin arbeiten, wenn ich<br />

mich ständig an die rigiden Vorschriften des konservativen<br />

Judentums halten müsste. Stellen Sie sich nur<br />

einmal vor, ich müsste zum Beispiel jeden Freitag bei<br />

Sonnenuntergang alles liegen <strong>und</strong> stehen lassen, was ich<br />

gerade tue, <strong>und</strong> zu Fuß von meinem Büro in Manhattan<br />

nach Brooklyn zurückgehen, weil die strengen Sabbatgesetze<br />

es sogar verbieten, irgendeine Art von Transportmittel<br />

zu benutzen! Oder ich könnte niemals mit<br />

einem Klienten essen gehen, weil ich nichts zu mir nehmen<br />

dürfte, was nicht den Vorschriften entsprechend<br />

„koscher“ zubereitet worden ist … <strong>und</strong>enkbar, nicht<br />

wahr? Aus diesem Gr<strong>und</strong> bin ich heilfroh, dass wir ein<br />

normales, der Zeit entsprechendes Leben führen <strong>und</strong><br />

das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert auch an unserer Familie nicht vorübergegangen<br />

ist, obwohl mein Tate ein Rabbi ist.<br />

Ich bin gerne Jüdin, ich mag unsere Religion, auch<br />

wenn sie manchmal ganz schön anstrengend sein kann<br />

mit ihren unzähligen, nicht immer ganz verständlichen<br />

Geboten <strong>und</strong> Verboten, <strong>und</strong> es würde mir niemals ein-<br />

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fallen, aus freien Stücken beispielsweise zum Christentum<br />

zu konvertieren. Den Katholiken geht es ja in<br />

Bezug auf starre Regeln <strong>und</strong> Dogmen auch nicht viel<br />

besser als uns, <strong>und</strong> Weihnachten wird ohnehin überbewertet<br />

<strong>und</strong> ist nur mehr ein Fest des Kommerzes <strong>und</strong><br />

Konsums, finde ich zumindest. Etwas, das mir übrigens<br />

besonders gut gefällt am Judentum, ist der starke familiäre<br />

Zusammenhalt. Die Familie, oder wie es auf Jiddisch<br />

heißt, die „Mischpoche“, ist ungeheuer wichtig,<br />

<strong>und</strong> wir <strong>Marmorstein</strong>s sind ein ideales Beispiel dafür.<br />

Ich habe drei Schwestern, Sarah, Sadie <strong>und</strong> Hannah, sowie<br />

einen Bruder namens Moshe, der ein Rabbiner geworden<br />

ist wie unser Vater. Ich bin übrigens das „Nesthäkchen“,<br />

alle meine Geschwister sind älter als ich. Tate<br />

wiederum hat fünf Geschwister <strong>und</strong> Momma sechs,<br />

die allesamt verheiratet sind, Kinder <strong>und</strong> zum Großteil<br />

auch schon Enkel haben. Von meinen Geschwistern<br />

sind Moshe, Sarah <strong>und</strong> Hannah auch schon verheiratet<br />

<strong>und</strong> haben Kinder. Kurz <strong>und</strong> gut, langweilig wird einem<br />

bei so einem großen Familienclan nie. Das können<br />

Sie mir glauben. Aber wir <strong>Marmorstein</strong>s lieben einander<br />

bis zum Umfallen, wir sind immer füreinander da,<br />

<strong>und</strong> jeder weiß, wenn er etwas braucht oder in Not ist,<br />

sind die anderen zur Stelle. Über die Mischpoche geht<br />

eben nichts.<br />

Die Einzigen von den <strong>Marmorstein</strong>-Mädchen, die noch<br />

nicht den „Mann fürs Leben“ gef<strong>und</strong>en haben, das<br />

sind Sadie <strong>und</strong> ich. Sadie deswegen, weil sie seit einem<br />

Reitunfall als Kind ein verkürztes Bein hat, wegen<br />

ihres Hinkens unter Komplexen leidet <strong>und</strong> krankhaft<br />

schüchtern ist, <strong>und</strong> ich … ja, warum bin ich eigentlich<br />

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noch Single? Meine Momma fragt mich das jedes Mal,<br />

wenn ich sie <strong>und</strong> Tate besuche, aber ich weiß eigentlich<br />

keine Antwort darauf. Vielleicht liegt es einfach daran,<br />

weil der einzige Mann, der für mich in Frage käme, in<br />

mir nichts anderes sieht als eine tüchtige Kollegin <strong>und</strong><br />

Partnerin in seiner Kanzlei.<br />

Die Arbeit ist mir ungeheuer wichtig, wichtiger fast als<br />

ein erfülltes Privatleben, <strong>und</strong> ich bin zutiefst froh, dass<br />

meine Eltern immer aufgeklärt <strong>und</strong> modern genug waren,<br />

nicht der antiquierten Vorstellung anzuhängen, ein<br />

Mädchen müsse nichts lernen <strong>und</strong> brauche keine Ausbildung,<br />

weil es ohnehin heiratet. Sarah <strong>und</strong> Hannah<br />

haben sich aus freien Stücken dafür entschieden, nur<br />

Hausfrau <strong>und</strong> Mutter zu sein. Sarah ist mit einem<br />

Psycho analytiker verheiratet <strong>und</strong> Hannah mit einem<br />

Kinderarzt, die beide so erfolgreich sind, dass sie schon<br />

aus Prestigegründen Wert darauf legen, dass ihre Frauen<br />

nicht arbeiten. Für mich käme das niemals in Frage.<br />

Ich wollte immer einen eigenen Beruf haben, <strong>und</strong> deshalb<br />

war ich meinen Eltern auch dankbar, dass sie mir<br />

keine nennenswerten Steine in den Weg gelegt haben,<br />

als ich mich dazu entschloss, Jura zu studieren.<br />

Warum ich mich ausgerechnet für die Juristerei entschieden<br />

habe? Nun, so ganz genau weiß ich das eigentlich<br />

auch nicht. Ich würde gerne sagen, es war wegen meiner<br />

glühenden Liebe zur Gerechtigkeit, aber die Wahrheit<br />

ist, dass ich schon als Kind die Streitereien zwischen<br />

meinen Geschwistern geschlichtet habe, obwohl ich die<br />

Jüngste war. Für meine Puppen habe ich mit Feuereifer<br />

spannende Gerichtssaalszenarien entworfen <strong>und</strong> diese<br />

dann mit verteilten Rollen st<strong>und</strong>enlang ausagiert. Als<br />

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ich älter war, habe ich Kriminalromane, in denen es um<br />

schlaue Anwälte ging, wie zum Beispiel den unsterblichen<br />

Perry Mason, geradezu verschlungen.<br />

Für mich wäre ein anderer Beruf niemals auch nur<br />

entfernt in Frage gekommen, <strong>und</strong> deshalb war es für<br />

mich nach der Highschool bereits klar, dass ich Jura<br />

studieren würde. Meine Träume, eine berühmte Strafverteidigerin<br />

zu werden, wurden allerdings nach dem<br />

Ende des Studiums von der Realität eingeholt. Ich war<br />

daher heilfroh, als mir ein Fre<strong>und</strong> meines Vaters, Sam<br />

Mandelbaum, einen Platz als Juniorpartnerin in seiner<br />

Kanzlei für Familien- <strong>und</strong> Scheidungsrecht anbot. Bald<br />

stellte ich fest, dass auch diese Art von Fällen durchaus<br />

spannend war. Meine tägliche Arbeit erfüllte mich<br />

mit Befriedigung, weil ich dazu beitragen konnte, dass<br />

Menschen in persönlichen Notsituationen geholfen<br />

wurde <strong>und</strong> sie zu ihrem Recht kamen. Ich konnte mir<br />

bald nicht mehr vorstellen, auf einem anderen Gebiet<br />

tätig zu sein, <strong>und</strong> so kam es schließlich dazu, dass ich an<br />

jenem Tag vor Gericht stand, um meinem Mandanten,<br />

dem Internisten Dr. Isaiah Lincoln, dabei zu helfen,<br />

von seiner zukünftigen Exfrau nicht nur bei der Scheidung<br />

nicht um alles gebracht zu werden, was er besaß,<br />

sondern vor allem nicht das Sorgerecht für sein einziges<br />

Kind zu verlieren.<br />

Sam Petersen, der Anwalt der gegnerischen Partei,<br />

lehnte sich jetzt gerade in seinem Stuhl zurück, verschränkte<br />

die Hände über seinem dicken Bauch <strong>und</strong><br />

grinste selbstzufrieden. Er glaubte wohl, den Fall schon<br />

gewonnen zu haben. Das Argument, aufgr<strong>und</strong> dessen<br />

meinem Mandanten das Sorgerecht für seinen Sohn<br />

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entzogen werden sollte, lautete, dass er durch seine<br />

Tätigkeit als Arzt keine Zeit hätte, sich um den Jungen<br />

zu kümmern. Während sich die Mutter, das blonde<br />

Gift, das auf den bezeichnenden Namen „Bambi“ hörte,<br />

den ganzen Tag nur seiner Aufzucht widmete. Oder<br />

auch nicht.<br />

„Euer Ehren, ich hätte da ein paar Fragen an Mrs. Lincoln“,<br />

meldete ich mich mit gedämpfter Stimme zu<br />

Wort. Petersen <strong>und</strong> seine Klientin sollten ruhig glauben,<br />

ich hätte nichts in der Hand <strong>und</strong> würde mich bereits<br />

geschlagen geben. Der Richter nickte, etwas ungnädig<br />

wie mir schien, aber natürlich durfte er mir nicht verweigern,<br />

auf das Argument des gegnerischen Anwalts<br />

zu reagieren. Ich stand also auf <strong>und</strong> baute mich vor der<br />

Bank, auf der die blonde Bambi mit ihrem Rechtsvertreter<br />

saß, in meiner vollen, zugegebenermaßen nicht<br />

sehr imposanten Größe auf. „Mrs. Lincoln“, sagte ich<br />

dann in trügerisch sanftem Ton, „erinnern Sie sich noch<br />

an den 17. Juni des heurigen Jahres? Können Sie dem<br />

Gericht sagen, was an diesem Tag passiert ist?“<br />

Die Blondine schüttelte unwillig den Kopf. Zwischen<br />

ihren Augenbrauen bildete sich eine unschöne Zornesfalte,<br />

welche ihr Dermatologe ihr wohl um viel Geld<br />

würde wegspritzen müssen. Das kleine Biest wusste<br />

offenbar ganz genau, wovon ich sprach, wollte es aber<br />

nicht zugeben. „Dann lassen Sie mich Ihrem Gedächtnis<br />

auf die Sprünge helfen“, sprach ich mit seidenweicher<br />

Stimme. „An diesem Tag hatte Ihr Sohn, Michael<br />

Lincoln, in der Vorschule einen Unfall. Er stürzte beim<br />

Spielen so unglücklich, dass er sich die linke Hand<br />

brach. Erinnern Sie sich jetzt wieder?“<br />

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Bambi Lincoln nickte ungnädig. So etwas konnte sie ja<br />

wohl kaum leugnen, wenn sie als gute Mutter durchgehen<br />

wollte. „Und sind Sie an jenem Tag in die Vorschule<br />

gefahren, um Ihr Kind abzuholen <strong>und</strong> zu einem<br />

Arzt zu bringen?“, fragte ich weiter, wohl wissend, dass<br />

es nicht so gewesen war.<br />

Die blonde Frau quetschte widerwillige ein „Nein“ aus<br />

einem M<strong>und</strong>winkel, <strong>und</strong> der Richter beugte sich interessiert<br />

vor. „Und warum waren Sie nicht da, um Ihren<br />

Sohn zu holen?“, bohrte ich weiter, jetzt mit schon viel<br />

weniger seidiger Stimme, <strong>und</strong> die zukünftige Exfrau<br />

meines Mandanten, die wohl zu ahnen begann, dass ihr<br />

die Felle davonschwammen, zuckte die Achseln. „Weiß<br />

ich nicht mehr“, murmelte sie.<br />

„Ach, das wissen Sie also nicht mehr?“, fragte ich scheinheilig<br />

<strong>und</strong> zog gleichzeitig die Augenbrauen hoch. „Ist<br />

es denn nicht so, Mrs. Lincoln, dass Sie an diesem Tag<br />

bei einer Massage waren <strong>und</strong> die Vorschule vergeblich<br />

versucht hat, Sie zu erreichen, weil Sie Ihr Mobiltelefon<br />

ausgeschaltet hatten?“ Die blonde Bambi zuckte jetzt<br />

schuldbewusst zusammen, <strong>und</strong> der Richter runzelte die<br />

Stirn. Das alleinige Sorgerecht konnte sie sich bereits<br />

abschminken, wenn der kleine Michael nicht sogar zur<br />

Gänze meinem Mandanten zugesprochen werden würde.<br />

„Stimmt es nicht, dass die Vorschule, weil Sie nicht erreichbar<br />

waren, schließlich Ihren Mann angerufen hat<br />

<strong>und</strong> er in seiner Praxis alles liegen <strong>und</strong> stehen ließ, um<br />

seinem verletzten Sohn zu Hilfe zu eilen?“, bohrte ich<br />

beharrlich weiter. „Verhielt es sich nicht so, dass Sie an<br />

jenem Tag erst St<strong>und</strong>en nach dem Unfall Ihres Sohnes<br />

nach Hause kamen, nachdem das Kind längst im<br />

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Kranken haus versorgt worden war <strong>und</strong> sich in der Obhut<br />

seines Vaters befand, <strong>und</strong> dass Sie keine Ahnung hatten,<br />

was während Ihrer Abwesenheit passiert war, weil<br />

Sie nur Ihr eigenes Wohlbefinden im Kopf hatten?“<br />

Petersen sprang auf. „Euer Ehren, das geht zu weit!“,<br />

schnarrte er. Doch der Richter winkte ab. „Ich möchte<br />

das jetzt hören“, erklärte er. „Also, Mrs. Lincoln, beantworten<br />

Sie bitte die Frage. Verhält es sich so, wie<br />

Counselor <strong>Marmorstein</strong> gesagt hat?“ Bambi, die jetzt<br />

keine Ähnlichkeit mit einem scheuen Reh mehr hatte,<br />

sondern eher einer egoistischen Furie glich, knirschte<br />

vor Zorn mit den Zähnen, konnte aber an der Wahrheit<br />

nicht länger vorbei. Ihr Nicken war nur angedeutet <strong>und</strong><br />

ihr „Ja“ kaum zu verstehen. Trotzdem hatte der Richter<br />

es gehört. „Ich habe vergessen, dass mein Telefon ausgeschaltet<br />

war“, maulte sie dann, „so etwas kann doch<br />

einmal passieren.“<br />

Nun, nicht wenn man das alleinige Sorgerecht für ein<br />

Kind anstrebte. Dann nicht. „Euer Ehren, die Leiterin<br />

der Vorschule, Mrs. Magda Webber, ist bereit auszusagen,<br />

dass Mrs. Lincoln bei mehr als nur einer Gelegenheit<br />

ihren Sohn zu spät oder sogar gar nicht abgeholt hat,<br />

weil sie vergaß oder mit anderen Dingen beschäftigt war,<br />

sodass das Kind in der Vorschule warten musste, bis sein<br />

Vater seine Arbeit verlassen konnte“, stellte ich kühl fest.<br />

Auf der Stirn des Richters bildeten sich tiefe Falten.<br />

„Hochinteressant“, grollte er. „Und was bringt Sie<br />

dann dazu, Mrs. Lincoln, das alleinige Sorgerecht für<br />

Ihr Kind zu beantragen, wenn Sie doch offensichtlich<br />

bereits während Ihrer Ehe mit der Aufgabe überfordert<br />

waren, sich um den kleinen Michael zu kümmern?“<br />

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Die hübsche Bambi lief dunkelrot an <strong>und</strong> senkte den Kopf.<br />

Sam Petersen, der nicht so dumm war nicht zu erkennen,<br />

wann er geschlagen war, beugte sich zu seiner Klientin<br />

hinüber <strong>und</strong> flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Blondine<br />

machte zuerst ein Gesicht, als habe sie in eine Zitrone<br />

gebissen, aber dann nickte sie widerwillig. „Euer Ehren,<br />

meine Mandantin möchte ihren Antrag auf Erteilung<br />

des Sorgerechts für den minderjährigen Michael Lincoln<br />

zurückziehen“, tönte Petersen dann. „Wir sind bereit,<br />

einer gemeinschaftlichen Regelung zuzustimmen.“<br />

Der Richter nickte. „Das wird auch nötig sein“,<br />

brummte er, <strong>und</strong> ich wäre am liebsten in ein Siegesgeheul<br />

ausgebrochen. Es war geschafft, die leidige<br />

Sache mit dem Sorgerecht war vom Tisch, <strong>und</strong> damit<br />

war ein wichtiger Teil des Scheidungsverfahrens zu unseren<br />

Gunsten ausgegangen. Was das Finanzielle <strong>und</strong><br />

die Aufteilung des Besitzes betraf, hatte ich noch ein<br />

ordentliches Stück Weg vor mir. Aber der erzielte Erfolg<br />

gab mir Auftrieb <strong>und</strong> die Hoffnung, dass auch der<br />

Rest der Aufgabe, mit der Dr. Lincoln mich im Rahmen<br />

seines Scheidungsverfahrens betraut hatte, positiv<br />

zu erledigen sein würde.<br />

Auch mein Mandant strahlte jetzt über das ganze Gesicht<br />

<strong>und</strong> drückte anerkennend meine Hand. „Gute Arbeit,<br />

Miss <strong>Marmorstein</strong>!“, flüsterte er, <strong>und</strong> ich lächelte.<br />

Für Momente wie diese bin ich Anwältin geworden,<br />

<strong>und</strong> ich bereute meine Berufswahl in diesem Augenblick<br />

weniger als je zuvor.<br />

Der Richter vertagte jetzt die Verhandlung auf den<br />

nächsten Tag, <strong>und</strong> Bambi Lincoln erhob sich, warf einen<br />

giftigen Blick in meine Richtung <strong>und</strong> rauschte dann aus<br />

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dem Saal. Petersen folgte ihr auf dem Fuße, so schnell es<br />

ihm seine Leibesfülle erlaubte, <strong>und</strong> im Unterschied zu<br />

seiner Mandantin würdigte er weder meinen Klienten<br />

noch mich auch nur eines einzigen Blickes. Ich musste<br />

ein Schmunzeln unterdrücken. Der Kampf gegen Haifische<br />

in teuren Maßanzügen, wie es der ebenso fette<br />

wie zwielichtige Staranwalt <strong>und</strong> Scheidungsspezialist<br />

Sam Petersen war, machte mir immer großen Spaß, <strong>und</strong><br />

die gewonnene Schlacht von heute steigerte noch den<br />

Enthu siasmus, mit dem ich vorhatte, am nächsten Tag<br />

an die verbliebenen Aufgaben heranzugehen. Der Krieg<br />

war noch nicht gewonnen, das war mir schon klar, aber<br />

ein erster wichtiger Sieg war errungen worden, <strong>und</strong> ich<br />

hatte deshalb allen Gr<strong>und</strong>, mit mir selbst <strong>und</strong> meiner<br />

Leistung voll <strong>und</strong> ganz zufrieden zu sein.<br />

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