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IM VORFRÜHLING DES JAHRES 1492 eroberten die Heere der<br />
katholischen Königreiche des Nordens nach blutigen Kämpfen die<br />
Stadt Granada im äußersten Süden Spaniens, den letzten Stützpunkt<br />
der Jahrhunderte währenden maurischen Herrschaft. Gleich nach der<br />
Übergabe dieser stolzen Stadt kamen die Vertreter der einflussreichen<br />
jüdischen Gemeinde zusammen, um den vom König und von der Königin<br />
Spaniens entsandten Boten zu empfangen. Feierlich, gleichzeitig<br />
aber lässig, als handele es sich um die Namensänderung eines Platzes<br />
in der Stadt, hielt der königliche Nachrichtenüberbringer das Edikt<br />
über die Vertreibung in seinen Händen, das Dokument, das nicht nur<br />
für die jüdischen Einwohner Spaniens, sondern für den Bestand der<br />
Judenheit überhaupt entscheidend werden sollte.<br />
Die in kostbare Gewänder gekleideten Greise mit langen weißen<br />
Bärten schwiegen und warteten wie versteinert auf ihren Stühlen.<br />
Niedergeschlagen wie nie zuvor, richteten sie ihre Blicke in die Ferne,<br />
leer und ziellos wie Sterbende, die diese Welt verlassen und nicht<br />
wissen, was sie in der nächsten erwartet. Die versammelten jüdischen<br />
Rabbiner, Gelehrten, Philosophen, Finanziers, Übersetzer, Heiler,<br />
Ärzte und Berater ahnten, dass sie alle wie Sterbende ihre Welt, das<br />
geliebte Spanien, verlassen und in eine andere, ungeliebte, weil fremde<br />
Welt vertrieben würden. Ihre Vorahnungen waren nicht Zeichen<br />
greisenhafter Angst, keine grundlosen und willkürlichen Vermutungen,<br />
sie wurden vielmehr durch zahllose Beweise bekräftigt und durch<br />
entsetzliche Tatsachen bestätigt. Seit einigen Jahren stach ihnen der<br />
Geruch von auf Scheiterhaufen brennendem jüdischem Fleisch mit den<br />
aufziehenden Rauchwolken in die Nase; ihre Freunde und Verwandten<br />
verschwanden in den unterirdischen Verließen der Inquisition, die<br />
Schmerzensschreie, unter Folter ausgestoßen, bis sie gestanden oder<br />
starben, drangen an jedermanns Ohr; das Vermögen derer, die etwas<br />
besaßen, wurde beschlagnahmt; die Angst vor einer durch Druck und<br />
Drohungen erzwungenen Denunziation erfasste alle und griff wie<br />
eine Seuche um sich; ein Netz von Lügen, Verrat, Unterstellungen,<br />
erpressten Geständnissen und geistiger Tortur zog sich unerbittlich<br />
um jeden Juden oder jüdischen Konvertiten zu, der, um sein Leben<br />
und die Heimat zu retten, sich zur Taufe genötigt sah; die Furcht der<br />
Getauften, als Judaisierer verdächtigt zu werden, die den katholischen<br />
Glauben nur zum Schein angenommen hatten, heimlich im Herzen<br />
aber Juden geblieben waren, wuchs täglich allein dadurch, dass viele<br />
dessen bezichtigt und in der Folge getötet wurden. Mit einem Wort,<br />
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