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I
die legende der luna levi
Gordana Kuić<br />
DIE LEGENDE DER LUNA LEVI<br />
Aus dem Serbischen von<br />
Mirjana und Klaus Wittmann
Lektorat: Elvira M. Gross<br />
Korrektorat: Katharina Preindl<br />
Layout: Nikola Stevanović<br />
Druck und Bindung: Interpress, Budapest<br />
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München<br />
unter Verwendung der Bilder von John William Godward:<br />
An Italian Girl’s Head (1902),<br />
Bridgeman Images/Jean Antoine Théodore Gudin:<br />
An extensive View over Constantinople and the Golden Horn (1840)<br />
Gordana KuiĆ: Die Legende der <strong>Luna</strong> <strong>Levi</strong><br />
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann<br />
Titel der Originalausgabe: Legenda o Luni <strong>Levi</strong>, © Gordana KuiĆ 1999<br />
Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten<br />
© HOLLITZER Verlag, Wien 2016<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99012-297-6 hbk<br />
ISBN 978-3-99012-298-3 pdf<br />
ISBN 978-3-99012-299-0 epub
Il faut que le roman raconte.<br />
Ein Roman muss erzählen.<br />
STENDHAL<br />
Für meine Tante, Klara <strong>Levi</strong>
Prolog
8
IM VORFRÜHLING DES JAHRES 1492 eroberten die Heere der<br />
katholischen Königreiche des Nordens nach blutigen Kämpfen die<br />
Stadt Granada im äußersten Süden Spaniens, den letzten Stützpunkt<br />
der Jahrhunderte währenden maurischen Herrschaft. Gleich nach der<br />
Übergabe dieser stolzen Stadt kamen die Vertreter der einflussreichen<br />
jüdischen Gemeinde zusammen, um den vom König und von der Königin<br />
Spaniens entsandten Boten zu empfangen. Feierlich, gleichzeitig<br />
aber lässig, als handele es sich um die Namensänderung eines Platzes<br />
in der Stadt, hielt der königliche Nachrichtenüberbringer das Edikt<br />
über die Vertreibung in seinen Händen, das Dokument, das nicht nur<br />
für die jüdischen Einwohner Spaniens, sondern für den Bestand der<br />
Judenheit überhaupt entscheidend werden sollte.<br />
Die in kostbare Gewänder gekleideten Greise mit langen weißen<br />
Bärten schwiegen und warteten wie versteinert auf ihren Stühlen.<br />
Niedergeschlagen wie nie zuvor, richteten sie ihre Blicke in die Ferne,<br />
leer und ziellos wie Sterbende, die diese Welt verlassen und nicht<br />
wissen, was sie in der nächsten erwartet. Die versammelten jüdischen<br />
Rabbiner, Gelehrten, Philosophen, Finanziers, Übersetzer, Heiler,<br />
Ärzte und Berater ahnten, dass sie alle wie Sterbende ihre Welt, das<br />
geliebte Spanien, verlassen und in eine andere, ungeliebte, weil fremde<br />
Welt vertrieben würden. Ihre Vorahnungen waren nicht Zeichen<br />
greisenhafter Angst, keine grundlosen und willkürlichen Vermutungen,<br />
sie wurden vielmehr durch zahllose Beweise bekräftigt und durch<br />
entsetzliche Tatsachen bestätigt. Seit einigen Jahren stach ihnen der<br />
Geruch von auf Scheiterhaufen brennendem jüdischem Fleisch mit den<br />
aufziehenden Rauchwolken in die Nase; ihre Freunde und Verwandten<br />
verschwanden in den unterirdischen Verließen der Inquisition, die<br />
Schmerzensschreie, unter Folter ausgestoßen, bis sie gestanden oder<br />
starben, drangen an jedermanns Ohr; das Vermögen derer, die etwas<br />
besaßen, wurde beschlagnahmt; die Angst vor einer durch Druck und<br />
Drohungen erzwungenen Denunziation erfasste alle und griff wie<br />
eine Seuche um sich; ein Netz von Lügen, Verrat, Unterstellungen,<br />
erpressten Geständnissen und geistiger Tortur zog sich unerbittlich<br />
um jeden Juden oder jüdischen Konvertiten zu, der, um sein Leben<br />
und die Heimat zu retten, sich zur Taufe genötigt sah; die Furcht der<br />
Getauften, als Judaisierer verdächtigt zu werden, die den katholischen<br />
Glauben nur zum Schein angenommen hatten, heimlich im Herzen<br />
aber Juden geblieben waren, wuchs täglich allein dadurch, dass viele<br />
dessen bezichtigt und in der Folge getötet wurden. Mit einem Wort,<br />
9
die versammelten Würdenträger der jüdischen Gemeinde Granadas<br />
waren sich der Tatsache bewusst, dass ihr ganzes Volk einer einzigartigen<br />
gezielten Erniedrigung und Ausrottung ausgesetzt war.<br />
Traurig und voller Gram dachten die Greise schweigend an das<br />
fünfzehnhundertjährige Leben auf der Pyrenäischen Halbinsel, wohin<br />
sie zur Zeit des großen Römischen Reiches gelangt waren. Uralte<br />
Schriften zeugten von ihrem Aufstieg und von der Blüte ihrer Kultur<br />
im goldenen Zeitalter des Kalifats, als sie gemeinsam mit arabischen<br />
Denkern die Werke von Philosophen, Astronomen und Astrologen des<br />
antiken Griechenland studierten, die berühmten Kalifen berieten, voller<br />
Stolz die Posten von Staatsmännern, Bankiers, Emissären und Baumeistern<br />
bekleideten, zwischenstaatliche Verhandlungen, gelegentlich<br />
aber, den Plänen großer Militärstrategen folgend, auch Kriege führten<br />
und die Gedanken- und Redefreiheit sowie das elementare Menschenrecht,<br />
den eigenen Glauben auszuüben, genossen. Sie wurden geboren,<br />
wuchsen auf, heirateten und starben im Einklang mit den Geboten,<br />
die Gott Moses auf dem Berge Sinai gab, nachdem dieser die Kinder<br />
Israels aus der ägyptischen Sklaverei hinausgeführt hatte. Freilich sündigten<br />
sie auch, denn der Allmächtige schenkte von allen Lebewesen,<br />
die er schuf, nur dem Menschen allein die Freiheit, zwischen Gut und<br />
Böse zu wählen, eine verhängnisvolle Möglichkeit der Entscheidung,<br />
derentwegen die Menschen in ihrem irdischen Leben bitterer büßen<br />
mussten als der Löwe, der Adler oder die Schlange. Sündigten sie, so<br />
ereilte sie die Strafe des Schöpfers, die sein auserwähltes Volk schlimmer<br />
und heftiger traf als jedes andere. Die Juden, über die ganze Welt<br />
verstreut, lebten daher in der ewigen Erwartung des Messias, des Retters<br />
und Erlösers aller Sünder, und der darauffolgenden Rückkehr in<br />
ihre Urheimat, in das himmlische Jeruschalajim. Und so fragten sich<br />
die weisen Greise, wer sie nun aus Spanien hinausführen würde, falls<br />
es zum Schlimmsten kommen sollte, falls der König Ferdinand der<br />
Zweite von Aragón und die Königin Isabella von Kastilien das vorbereitete<br />
Dekret über die Vertreibung wirklich unterschrieben hatten.<br />
Würde Rabbi Don Isaak Abrabanel, der Finanzminister am spanischen<br />
Hof, der Klügste unter den Klügsten, der Beharrlichste unter den Beharrlichen<br />
und der Reichste unter den Reichen, die Rolle eines neuen<br />
Moses übernehmen? Hatte Gott Vater ihm diese Rolle zugewiesen?<br />
Wusste der Allmächtige überhaupt, was für ein Ungemach die Kinder<br />
Abrahams erwartete? Hatte Er all dieses Leid, das man mit den Augen<br />
erspäht, mit den Ohren vernimmt, mit den Fingern ertastet, mit<br />
10
der Nase erschnuppert, sowie alles, was man mit menschlichen Sinnen<br />
nicht wahrnimmt, wiewohl es existiert, hatte Er es ihnen zugedacht?<br />
Hatten sie aufgrund ihrer Sünden dieses Grauen verdient? Würde sich<br />
den Juden nach dieser schlimmsten von allen entsetzlichen Vertreibungen<br />
endlich der Sinn des Weltalls offenbaren oder würde dieses<br />
infolge des göttlichen Zorns über das menschliche Studium der Gestirne<br />
einfach auseinanderfallen? Würde Gott Mitleid mit ihnen haben<br />
und ihnen erneut den Weg ihrer Mission auf Erden weisen? Würde er<br />
wieder das Meer teilen? Das Feuer gegen die Feinde Israels entfachen?<br />
All dies, dachten die Greise, sei möglich, doch wenig wahrscheinlich.<br />
Trotz allem glimmte im Versammlungsraum des Jüdischen Rats<br />
noch die Hoffnung auf eine glückliche Lösung der Judenfrage in Spanien,<br />
denn die Führer der Juden in Granada wussten noch nicht, wie<br />
die Audienz Abrabanels beim königlichen Paar ausgegangen war. Der<br />
berühmte Würdenträger hatte diese Aufgabe auf sich genommen in<br />
der Erwartung, dass spontane Gier über die stete Idee von einem ethnisch<br />
sauberen katholischen Staat siegen und damit diese menschliche,<br />
ja auch königliche Schwäche die spanischen Juden vor der gnadenlosen<br />
Vernichtung retten würde. Der Rabbi Isaak bot dem königlichen<br />
Paar nämlich die ungeheure Summe von dreißigtausend Dukaten für<br />
ein schwaches, aber schicksalsträchtiges Kopfnicken oder für ein leises<br />
„Nein“ oder für einen Aufschub, mit einem Wort, für die Nichtunterzeichnung<br />
des Vertreibungsdekrets, auf dem die Inquisition beharrte.<br />
Könige seien auch Menschen, die Riesensumme würde ihren<br />
Entschluss ins Wanken bringen, dachten reiche jüdische Männer, und<br />
auch viele Lehrer schlossen sich ihrer Meinung an. Herrscher seien<br />
nicht nur einfach Menschen, sondern oft auch gierige Menschen. Die<br />
Katholiken seien auch Menschen und falls sie nicht starrköpfig waren,<br />
hegten auch sie eine große Liebe für das Gold.<br />
Erst später sollte die Versammlung in Granada die Kunde erreichen,<br />
die alle Vermutungen und alle Ängste bestätigte. Die jüdischen Weisen<br />
hatten sich nicht geirrt: Der König und die Königin waren bereit,<br />
ihre Unterschriften zu verkaufen oder besser gesagt, den Juden<br />
zu gestatten, sie ihnen abzukaufen. Nach seiner langen, überzeugenden<br />
und gut verfassten Rede, die sich durch Vernunft, Logik, aber<br />
auch durch ergebene Unterwürfigkeit auszeichnete, bemerkte Rabbi<br />
Isaak ein Nachgeben – zuerst in den Augen Seiner Majestät, dann im<br />
Blick Ihrer Majestät, mit dem sie die Goldstücke liebkoste. Und gerade<br />
als er voller Zufriedenheit feststellen wollte, die Sache sei gelaufen,<br />
11
wurde dieser grandiose Akt, dieses historische Unterfangen vereitelt.<br />
Versteckt hinter einer geheimen Tür, die als eine schöne Jagdszene<br />
des berühmten Künstlers Asperos de Camarilla getarnt war, hatte der<br />
Großinquisitor Tomás de Torquemada, ein beharrlicher und unerschütterlicher<br />
Prüfer und unverbesserlicher Zweifler, der mehrstündigen<br />
Unterhaltung gelauscht. Im entscheidenden Moment, als Rabbi<br />
Isaaks sorgenvolles Gesicht von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln<br />
erhellt wurde, stürmte der Großinquisitor in den Raum, mit beiden<br />
Händen ein Kruzifix über sein Haupt haltend. Neben dem durchdringenden<br />
Rauschen seiner prachtvollen Gewänder vernahm man seine<br />
noch durchdringenderen Worte:<br />
„Der Verräter Judas verkaufte den Erlöser für dreißig Silberlinge,<br />
und Eure Majestäten sind bereit, dies für dreißigtausend Dukaten zu<br />
tun! Hier, nehmt ihn und verkauft ihn! Diese Tat erkläre ich zu einem<br />
erneuten Verrat am Gottessohn!“ Dabei knallte er das Kruzifix auf<br />
den Tisch und stürzte hinaus.<br />
Das erschrockene Königspaar erwies sich sodann als Sklave eines<br />
noch viel bedeutenderen Reiches als des ihren, nämlich der mächtigen<br />
katholischen Kirche. Ohne viel zu zögern, setzten die völlig verwirrten<br />
und verstörten Könige ihre Unterschriften nunmehr unter zwei<br />
statt nur unter ein Edikt: Das erste betraf die Ausweisung der Juden<br />
aus ganz Spanien bis zum 31. Juli 1492, das zweite das Auslaufen der<br />
Schiffe unter dem Kommando von Christoph Kolumbus am 3. August<br />
desselben Jahres.<br />
Die Kunde über das erste Edikt erreichte das prächtige Gebäude der<br />
jüdischen Gemeinde im Herzen der wunderschönen Stadt Granada,<br />
lässig gehalten in der Hand eines Boten, der, sobald seine offizielle Begleitung<br />
die schwere Tür geöffnet hatte, nach einer kurzen und höflichen<br />
Begrüßung ohne Umschweife den verhängnisvollen Text vorlas,<br />
ungeachtet der Unruhe, des Stimmengewirrs und Murmelns der besorgten,<br />
ja verzweifelten jüdischen Würdenträger, die sich plötzlich in<br />
gewöhnliche Greise mit zittrigen Gliedern und tränenerfüllten Augen<br />
verwandelt hatten:<br />
✳ ✳ ✳<br />
„Die Könige Don Fernando und Doña Isabella von Gottes Gnaden,<br />
Herrscher von Kastilien, León, Aragón und weiteren königlichen Herrschaftsgebieten,<br />
grüßen Unseren lieben Thronfolger, den Prinzen Juan,<br />
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die Fürsten, die Priester und die jüdischen Gemeinden dieser Stadt sowie<br />
aller Städte, Dörfer und Weiler Unserer Königreiche und Herrschaftsgebiete.<br />
Ihr sollt wissen: Wir sind gut unterrichtet darüber, dass es in Unseren<br />
Herrschaftsgebieten schlechte Christen, Judaisierer, gibt, die<br />
gegen Unseren heiligen katholischen Glauben sind. Diese bewiesene<br />
und unwiderlegbare Tatsache ist in dem Jahrhunderte währenden Zusammenleben<br />
von Christen und Juden begründet. Deshalb hatten Wir<br />
mit dem Gesetz von 1480 die Trennung der erwähnten Juden von den<br />
Christen in allen Städten, Dörfern und Weilern Unserer Königreiche<br />
und Herrschaftsgebiete angeordnet in der Hoffnung, dass damit dieser<br />
weitverbreiteten und überaus gefährlichen Erscheinung Einhalt geboten<br />
würde. Ferner setzten Wir vor zwölf Jahren in Unseren Königreichen<br />
und Herrschaftsgebieten die Inquisition ein. Ihr ist zu verdanken,<br />
dass seitdem viele Sünder entlarvt wurden, die sich den Christen und<br />
deren Kindern zu nähern versuchten.<br />
So wurde der große Schaden offenbar, den die Christen durch ihre<br />
Kontakte und Gespräche mit Juden erlitten haben. Es wurde aufgedeckt,<br />
dass die Juden immer wieder mit allen ihnen zu Verfügung stehenden<br />
Mitteln versuchten, die christlichen Gläubigen von Unserer<br />
heiligen katholischen Kirche abzubringen und sie ihrem Glauben zuzuführen,<br />
um sie zu unterjochen und mit ihren schädlichen Lehren zu<br />
vergiften. Sie unterrichteten die Christen in ihren Ritualen und religiösen<br />
Bräuchen, schenkten ihnen und ihren Kindern Bücher, damit sie<br />
daraus ihre Gebete aufsagten, daraus lernten, ihre Fastenzeiten einzuhalten,<br />
ihre Bibel zu studieren und andere Menschen über ihre Feiertage<br />
zu unterrichten. Sie gaben ihnen ungesalzene Brote und Fleisch von<br />
rituell geschlachteten Tieren, machten sie mit ihren Speisevorschriften<br />
bekannt und forderten sie auf, das Gesetz Mose zu beachten und sich<br />
nach ihm zu richten, da es, wie sie schamlos behaupteten, außer ihrem<br />
keinen anderen wahren Glauben gebe. All das wurde aufgrund von<br />
Erklärungen und Geständnissen sowohl der Juden selbst als auch derer,<br />
die von ihnen betrogen und bestochen wurden, bewiesen. Dadurch<br />
wurde Unserer heiligen katholischen Kirche ein ungeheurer Schaden<br />
zugefügt.<br />
Wir wissen, dass das einzig wirksame Mittel gegen dieses Ungemach<br />
die Trennung der Juden von den Christen ist, weswegen Wir sie<br />
aus Unserem Königreich verbannen müssen. Bis jetzt waren Wir der<br />
Meinung, dass es genügte, sie aus den Städten, Dörfern und Weilern<br />
13
Andalusiens auszuweisen, wo sie, wie erwähnt, einen großen Schaden<br />
angerichtet hatten. Wir dachten, das würde den Juden in anderen Städten,<br />
Dörfern und Weilern Unserer Königreiche und Herrschaftsgebiete<br />
als Mahnung dienen, nicht mehr so sündhaft wie oben beschrieben<br />
zu handeln.<br />
Deshalb bestraften Wir die Juden, deren Verbrechen gegen Unseren<br />
heiligen katholischen Glauben offenkundig waren. Zu Unserem Bedauern<br />
genügten diese Strafen nicht, denn Wir entdeckten Juden, die allerorts<br />
mit ihren bösen Absichten fortfuhren. Um eine weitere Gefährdung<br />
Unseres heiligen Glaubens zu verhindern und mit Rücksicht auf<br />
die menschlichen Schwächen und die ständigen, gegen uns gerichteten<br />
diabolischen Versuchungen, beschlossen Wir, dieses Übel an der Wurzel<br />
zu packen und die Juden aus Unseren Königreichen auszuweisen.<br />
In Beratungen mit dem Priestertum, dem höheren und dem niedrigeren<br />
Adel, den Gelehrten und den redlichen Menschen aus Unserem<br />
Rat sowie im Einverständnis mit ihnen beschlossen Wir deshalb, einen<br />
Befehl zur Vertreibung aller Juden und Jüdinnen aus Unseren Königreichen<br />
zu erlassen. Zu diesem Zweck geben Wir dieses Edikt bekannt,<br />
das lautet: Wir befehlen allen Juden und Jüdinnen, die in Unseren<br />
Königreichen und Herrschaftsgebieten leben, wohnen, weilen oder<br />
sich aus irgendeinem anderen Grund dort aufhalten, bis zum Ende<br />
des Monats Juli dieses Jahres zusammen mit ihren Söhnen und Töchtern,<br />
Dienern, jüdischen Verwandten, ob jung oder alt, ob neugeboren<br />
oder dem Sterben nahe, Unsere Königreiche und Herrschaftsgebiete<br />
zu verlassen. Sie dürfen nie mehr zurückkehren noch aus irgendeinem<br />
Grund durch Unsere Länder fahren. Bei Nichtbeachtung drohen ihnen<br />
die Todesstrafe und die Konfiszierung ihres gesamten Vermögens<br />
zugunsten Unseres Hofes. Diese Strafen erfolgen ohne Gerichtsurteil.<br />
Wir befehlen und stellen klar: Niemand in Unseren Königreichen,<br />
gleich welche gesellschaftliche Stellung und Einfluss er hat, darf offen<br />
oder heimlich einen Juden oder eine Jüdin in seinem Haus bewirten, in<br />
Schutz nehmen oder verteidigen. Dies gilt vom obengenannten Tag,<br />
dem Ende des Monats Juli dieses Jahres, an bis in alle Ewigkeit. Demjenigen,<br />
der einem Juden oder einer Jüdin Unterschlupf bietet, droht<br />
eine Strafe, die darin besteht, dass ihm sein Vermögen, seine Vasallen,<br />
Schlösser und Burgen, alles, was man besitzen oder erben kann, unverzüglich<br />
und ohne Gerichtsurteil genommen wird.<br />
Damit die Juden und Jüdinnen von nun an bis zum Ende des Monats<br />
Juli über ihre Güter verfügen können, nehmen Wir sie in Unseren<br />
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königlichen Schutz. Sie dürfen sich in dieser Zeit frei bewegen zwecks<br />
Verkauf, Tausch oder Schenkung ihrer beweglichen Güter oder Ländereien.<br />
In dieser Zeit ist jede Gewalt, Schaden oder Unrecht gegenüber<br />
diesem Volk und seinem Vermögen rechtswidrig.<br />
Mit diesem Edikt erlauben Wir den Juden und den Jüdinnen, ihr<br />
Eigentum aus Unseren Königreichen und Herrschaftsgebieten auf dem<br />
Land- oder Seeweg auszuführen, sofern es sich nicht um Gold, Silber<br />
oder Prägemünzen handelt oder um einen Gegenstand, dessen Ausfuhr<br />
laut den Gesetzen dieses Landes verboten ist.<br />
Damit es allen kundgetan wird, befehlen Wir, dass dieses Edikt auf<br />
den öffentlichen Plätzen dieser Stadt und in allen größeren Städten,<br />
Dörfern und Weilern Unseres Herrschaftsgebiets von einem amtlichen<br />
Ausrufer in Anwesenheit eines staatlichen Schreibers verlesen wird.<br />
Es ist niemandem erlaubt, sich diesem Edikt zu widersetzen.<br />
Verkündet in Unserer Stadt Granada am 31. März im Jahre Unseres<br />
Herrn Jesus Christus 1492.<br />
Ich, der König, ich, die Königin.<br />
Ich, Juan de Coloma, der Sekretär Unserer Herren, des Königs und<br />
der Königin, schrieb alles so auf, wie mir befohlen wurde.“<br />
✳ ✳ ✳<br />
Und so bereiteten sich Hunderttausende spanische Juden auf die Vertreibung,<br />
auf lange Reisen in die Fremde vor. Sie verließen die trockene<br />
und durstige andalusische Erde und die schattenlose kastilische<br />
Hochebene, nahmen aber die traurigen Melodien ihrer uralten Romanzen<br />
mit. Reiche und Arme waren jetzt gleichgestellt, weil die<br />
Reichen ihr ganzes Vermögen für ein Maultier hergegeben hatten und<br />
nur das mitnahmen, was für die Armen das ganze Vermögen ausmachte:<br />
die Thora, den Tallit, den Gebetsschal, etwas Wegzehrung, eine<br />
Kiste mit Kleidern und einige Erinnerungsstücke, falls sie nicht aus<br />
Edelmetallen gefertigt waren. Die Vertriebenen hinterließen zahllose,<br />
wie plötzlich aus dem Boden gewachsene Hügel aus Perlmuttmedaillons,<br />
silbernen Gebetsgefäßen, goldenen Bechern, mit Perlenschnüren<br />
durchwebten Stoffen, Broschen aus Elfenbein und Servierplatten aus<br />
Ebenholz.<br />
Sich windende Menschenkolonnen durchzogen den gelben Boden<br />
Spaniens, der Mutter und Stiefmutter der Juden, wie ein Netz von<br />
Wasserläufen, die schließlich ins Meer mündeten, denn niemand woll-<br />
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te ihnen auf dem Landweg Obdach bieten. Wie ein Chronist dieser<br />
unseligsten aller unseligen Zeiten vermerkte, ergossen sich die Juden<br />
über die Straßen, Felder, Berge, Wälder, das Brachland und die Olivenhaine<br />
ihrer Heimat, die man ihnen über Nacht zur Fremde erklärt<br />
hatte, die sie aber doch für immer im Herzen bewahrten. Auf dem<br />
Weg in die Verbannung strauchelten manche, andere halfen ihnen<br />
sich zu erheben, manche erkrankten, manche starben, manche wurden<br />
sogar geboren. Erschüttert ob ihres großen Leids rieten ihnen manche<br />
Christen, sich taufen zu lassen, was wegen der unaussprechlichen<br />
Qualen einige auch taten. Von Hunger und Durst geplagt, zogen die<br />
Menschen tagelang zur Küste, zu den Häfen, von wo aus Schiffe sie<br />
nach Osten oder nach Süden bringen sollten. Während sie sich unter<br />
Mühen zum Meer schleppten, beweinten sie die Toten und weinten<br />
auch wegen der Neugeborenen. Sie pflegten die Kranken und wiegten<br />
die Kinder. Dinge fielen ihnen aus den Händen, und sie ließen sie, unter<br />
ihrer Last gebeugt, am Straßenrand liegen …<br />
Und da, während in Sepharad Schmerzensschreie und Hilferufe bis<br />
zum Himmel schallten, befahl der alte Rabbi Solomon Ruben ben Israel<br />
aus Toledo den Frauen, den Mädchen, den trauernden Witwen und<br />
den jungen Bräuten zu singen und den jungen wie alten Männern Flöten<br />
und Tamburine erklingen zu lassen. So vernahm man eine langgezogene,<br />
wehmütige Weise in der schneidenden spanischen Sprache, die<br />
seit Urzeiten ihre Muttersprache war. Das Lied sprach von der Liebe<br />
zu dem Land, das sie ihres nannten und dennoch mit Freude verlassen<br />
würden, nur um einen Blick auf die Mauer des zerstörten Tempels in<br />
Jeruschalajim zu werfen. Begleitet vom Sterben und Geborenwerden,<br />
bemerkte Rabbi Solomon, würden die Kinder Israels mit gebrochenem<br />
Herzen und mit dem Lied auf den Lippen auf einer weiteren Reise ins<br />
Unbekannte die Häfen von Cádiz, Tortosa und Barcelona erreichen,<br />
dabei Gott in ihren Gebeten um Gnade anflehen und auf das Wunder<br />
hoffen, dass Er ihre Vertreibung in eine Heimkehr verwandle, dass sie<br />
aus dem goldenen Spanien kommend in das goldene Jeruschalajim gelangten,<br />
dass der Allmächtige sie auf diese Weise rette. Aber ihre Bitte<br />
wurde nicht erhört, dieses Mal sollte kein Wunder geschehen.<br />
Das über den größten Teil Iberiens herrschende Königspaar säuberte<br />
unter grausamen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ganz Spanien:<br />
Kastilien und Valencia, Katalonien, Aragón und Andalusien; alle<br />
seine Städte: Ávila, Zaragoza, Barcelona, Gerona, Tortosa, Tarragona,<br />
Toledo, Madrid, Segovia, Salamanca, Burgos, Córdoba, Granada, Se-<br />
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villa, Málaga, Ciudad Real, Cartagena, León, Lérida, Teruel, Allariz,<br />
Monzón und Gibraltar, wo der afrikanische und der europäische Kontinent<br />
sich beinahe berühren; alle seine Flüsse: Guadalquivir, Ebro,<br />
Tajo, Duero; die Inseln Mallorca, Menorca und Ibiza sowie alle Gebirgszüge,<br />
Hochebenen, Olivenhaine, Weinberge, Landgüter, Schlösser<br />
und Türme. Die Erde färbte sich rot vom Blut, aber ihnen schien<br />
sie milchig weiß wie der Meeresschaum, der sich endlich des trüben<br />
jüdischen Morasts entledigt hatte. Ferdinand und Isabella reinigten ihr<br />
katholisches Königreich: Sie erschlugen und vertrieben alle Juden, aber<br />
auch alle Araber, in Spanien Mauren genannt.<br />
Der letzte maurische Herrscher von Granada, Muhammad XII.,<br />
Führer der Söhne des Roten, hatte im Jahre 1487 nach dem christlichen<br />
Kalender mehrere Emissäre zum mächtigen türkischen Sultan Bayezid<br />
entsandt, der, obwohl damals in den karamanischen Krieg verwickelt,<br />
dennoch Boten empfing und ausschickte. Der alte maurische Führer<br />
bat Bayezid inständig und unterwürfig um Hilfe, weil Ferdinand von<br />
Aragón und Kastilien ihn immer stärker und rücksichtsloser aus seinen<br />
angestammten Besitztümern zu verdrängen suchte. Bayezid schickte<br />
umgehend eine Seeflotte, die zwar die Küsten Spaniens plünderte,<br />
dem katholischen Vordringen jedoch keinen Einhalt gebot.<br />
Damals vermerkte der weißbärtige türkische Historiker Amin ben<br />
Assad: „Als der berühmte Sultan Bayezid von den Missetaten erfuhr,<br />
welche die Könige des ungläubigen, giaurischen Spanien an den unschuldigen<br />
jüdischen Einwohnern verübten, empfand er Mitleid mit<br />
den Vertriebenen. Und nachdem bekannt geworden war, dass sie nach<br />
einem ruhigen Ort für ihre geschundenen Füße suchten, schickte er<br />
Hunderte Boten in alle vom Glanz der Osmanischen Herrschaft erleuchteten<br />
Gegenden von Persien bis zum nördlichen Balkan. So<br />
verkündeten Tausende Gemeindeausrufer den von der Hand seines<br />
Lieblingsschreibers Ismail aufgezeichneten Ferman des Sultans, worin<br />
verfügt wurde, dass „keiner von Bayezids sklavischen Würdenträgern,<br />
Beylerbeys, Agas, Paschas, Sandschakbeys, Festungsverwaltern,<br />
Alaibeys, Muftis und Kadis, dass niemand, angefangen vom letzten<br />
Gardisten, Reiter oder Wachmann bis hin zum Großwesir, es wagen<br />
dürfe, Juden abzuweisen, sondern vielmehr gehalten sei, sie mit Wohlwollen<br />
zu empfangen.“<br />
Weitere Ereignisse verzeichnete für die nachfolgenden Generationen<br />
der gelehrte Historiker und Rabbiner Elijah Capsali aus Kreta,<br />
der im unglücksseligen Sommer des Jahres 5252 nach dem jüdischen<br />
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Kalender von seinem Aussichtsturm aus die Schiffe beobachtete, die<br />
unter der Last vieler seiner Landsleute tief im Wasser liegend das blaue<br />
Große Meer von Westen nach Osten überquerten: „Todesangst vor<br />
dem großen Padischah und Sultan Bayezid, dem mächtigsten Mann<br />
der Welt, erfasste seine Untertanen aller Glaubensbekenntnisse, Türken,<br />
Araber, Armenier, Griechen, Cincaren und Slawen, und sie alle<br />
hießen die Juden willkommen und gewährten ihnen Unterschlupf und<br />
Schutz. So kamen Tausende und Abertausende vertriebene Kinder Abrahams<br />
ins Reich des Ostens und erfreuten das türkische Imperium<br />
von Safed bis Istanbul, von Saloniki bis Sarajevo mit ihrer traurigen,<br />
jedoch nutzbringenden Anwesenheit. Sie gründeten zahlreiche rechtmäßige<br />
Gemeinschaften und unterstützten großzügig ihre Landsleute,<br />
die auf dem Weg nach Istanbul von einer Stadt zur anderen, von einem<br />
Land zum anderen zogen. Bei diesem großen Umzug kehrten auch<br />
viele in ihre Urheimat Israel zurück, so wie der Prophet Jeremias es<br />
vorausgesagt hatte.“<br />
Weiter vermerkte der emsige Chronist: „Der mächtige Bayezid, der<br />
große Heerführer und scharfsinnige Mann, spottete über das engstirnige<br />
Königspaar, welches im Namen seines Glaubens die Wertvollsten<br />
seiner Untertanen aus dem Land trieb, obwohl es um deren Fleiß,<br />
Klugheit, Belesenheit, Sprachkenntnisse, kaufmännische Gabe und<br />
Verhandlungsgeschick sowie um deren Fähigkeit, Geld zu verdienen<br />
und Abgaben und Kopfgelder ohne Widerrede innerhalb abgemachter<br />
Fristen zu entrichten, sehr wohl wusste. Der weise Herrscher erkannte,<br />
dass deren Bedürfnisse sich mit seinen deckten: Sie suchten nach<br />
einem neuen Ausgangspunkt ihrer ewigen Reise, er trachtete danach,<br />
für sein geschäftiges und aufstrebendes Reich eine neue Quelle des<br />
Wissens, der Tüchtigkeit und des Erwerbs zu erschließen.“<br />
Das hatte der Chronist für die nachfolgenden Generationen aufgeschrieben,<br />
und seine Worte wurden wahr.<br />
18