Magazin-2020-3
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BLACK LIVES MATTER
«Hört auf, uns zu töten»: Jung und älter an einer friedlichen Kundgebung gegen
Gewalt in Salvador. Foto CIPÓ
ein toter Bandit», lautet ein weit verbreiteter Leitsatz.
In den Favelas reicht die ungeschickte Reaktion
bei einer Strassenkontrolle aus, damit der Polizist
oder die Polizistin die Waffe zückt. Wer im
Armenviertel lebt, steht unter Generalverdacht, ins
illegale Drogengeschäft verwickelt zu sein.
Das Erbe der Sklaverei
Der Blick zurück in die Geschichte führt zu einer
weiteren Ursache für die menschenfeindliche Sicherheitspolitik
in Südamerikas bevölkerungsreichstem
Staat. Brasilien war das letzte Land in der westlichen
Welt, das die Sklaverei abschaffte. Auf dem
Papier erfolgte dies im Jahr 1888, tatsächlich sind
die Auswirkungen der systematischen Diskriminierung
von Andersfarbigen jedoch bis heute deutlich
zu spüren, auch wenn inzwischen eine afrobrasilianische
Mittelschicht herangewachsen ist: Der
strukturelle Rassismus und die extreme Ungleichheit
zwischen der reichen, überwiegend weissen
Minderheit und der oftmals in Armut lebenden
farbigen Mehrheit sind enorm.
In den riesigen Armenvierteln, die ihrerseits aus
den improvisierten Siedlungen ehemaliger Sklavinnen
und Sklaven entstanden sind, kommt der
Rechtsstaat bis heute nicht wirklich zum Tragen.
Wer aus der Favela kommt, wird nach wie vor systematisch
benachteiligt. Die rassistische Logik der
Entmenschlichung aus der Kolonialzeit wirft immer
noch ihren langen Schatten. Die staatliche
Gewalt gegen die Bevölkerung in den Favelas löst
kaum öffentliche Empörung aus.
Korrektur-Initiative gegen Waffengewalt
Der Waffenexport der Schweiz boomt, auch in
Länder wie Brasilien. Angesichts der grassierenden
Gewalt in Brasilien fordert terre des hommes
schweiz: Keine Kriegsmaterialausfuhr in Länder,
welche die Menschenrechte systematisch und
schwerwiegend verletzen! Gemeinsam mit anderen
zivilgesellschaftlichen Organisationen setzen
wir uns für die eidgenössische Volksinitiative «Gegen
Waffenexporte in Bürgerkriegsländer», kurz
Korrektur-Initiative ein. Sie will die Kriterien für
Waffenexporte neu auf Gesetzesebene verankern.
Statt wie bisher bloss in der Kriegsmaterialverordnung,
soll das Parlament die Kriterien neu im
Kriegsmaterialgesetz und der Verfassung festlegen.
Am 24. Juni 2019 reichte die Allianz gegen
Waffenexporte in Bürgerkriegsländer die Initiative
mit 126 355 gültigen Unterschriften ein. Die
Korrektur-Initiative kommt voraussichtlich frühestens
in einem Jahr zur Abstimmung. red
> Weitere informationen:
www.terredeshommesschweiz.ch/waffenhandel
Jugendliche von CIPÓ werden aktiv
Deshalb braucht es zivilgesellschaftliche Initiativen
wie CIPÓ. Unsere Partnerorganisation in Salvador
da Bahia zeigt Jugendlichen die Ursachen und Zusammenhänge
von Gewalt auf, damit sie sich mit
friedlichen Mitteln gemeinsam gegen die Stigmatisierung
der Menschen in den Favelas wehren. In
einem eigens entwickelten Ausbildungsprogramm
setzen sich die jungen Aktivistinnen und Aktivisten mit
den historischen Wurzeln ihrer Ungleichbehandlung
auseinander. Sie erfahren, weshalb Menschen
afrobrasilianischer Herkunft in den nationalen Medien
und in der Politik unterrepräsentiert sind.
Mit ihren beharrlichen öffentlichen Protesten für
eine gerechte Gesellschaft haben die Jugendlichen
von CIPÓ einen Teilerfolg erzielt: Schwarze Teenager
sind im Parlament des Bundesstaates Bahia angehört
worden. Sie appellierten an die Abgeordneten,
eine Untersuchungskommission zu Fällen von
Polizeigewalt einzurichten. Deren juristische Aufarbeitung
ist ein wichtiger Schritt, damit Brasilien
sein unmenschliches Law-and-Order-Regime langfristig
überwindet.
Andrea Zellhuber, Fachstelle Gewaltprävention
> Unsere Projekte in Brasilien:
www.terredeshommesschweiz.ch/brasilien
Mit unseren Projekten in Brasilien engagieren wir uns zu den Themen
Gewaltprävention sowie Bildung und Einkommen für Jugendliche.
terre des hommes schweiz leistet damit einen Beitrag an das UNO-
Entwicklungsziel 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen.
PARTNERPROJEKT IN BRASILIEN
«Eine Wunde, die niemals heilt»
In der Favela lauert der Tod durch Waffengewalt
an jeder Ecke. Manchmal stecken
Kriminelle dahinter, oft auch die
Polizei. Das Interview einer jungen freiwilligen
Mitarbeiterin mit einer trauernden
Mutter, die beide im Projekt «Mütter
der Sehnsucht» in Recife mitwirken.
Danke, Regiane, dass Sie Ihre Geschichte
erzählen. Bitte schildern Sie, was vor
sechs Jahren passierte.
Es war während des Karnevals, kurz vor
Mitternacht. Ich war damals Mitte vierzig.
Mein Sohn war zu Besuch bei mir zu
Hause und machte sich gerade auf den
Weg, als es an der Tür klingelte. Zwei Jugendliche
fragten nach Bier. Als er ihnen
die Getränke brachte, schossen sie
ihn nieder. Erst später erfuhr ich: Hinter
seiner Ermordung steckte eine Person,
die meinem Sohn Geld geliehen hatte,
das er noch nicht zurückzahlen konnte.
Der Schuldner hat daraufhin die beiden
Auftragsmörder auf ihn angesetzt.
Wie ging es Ihnen, als Sie Ihren getöteten
Sohn fanden?
Ich machte völlig zu, mein Leben hatte
keinen Sinn mehr. Es war, als ob ich einen
Teil meiner selbst verloren hatte.
Mein Sohn war immer für mich da gewesen.
Er schaute regelmässig bei mir
vorbei, half beim Einkaufen oder kochte
uns ein gemeinsames Essen. Er sorgte
dafür, dass ich nicht wieder dem Alkohol
verfiel. Ich danke Gott dafür, dass ich
nach seinem gewaltsamen Tod zu «Mütter
der Sehnsucht» gefunden habe.
Wie hat Ihnen das Projekt geholfen?
Ich war damals am Ende und wollte
nicht mehr weitermachen. Ich funktionierte
zwar und ging nach wie vor arbeiten.
Aber wenn ich nach Hause kam,
hielt ich es fast nicht mehr aus – diese
Leere! Ich begann zu trinken. Heute
bin ich zwar wieder trocken, doch der
Verlust meines Kindes ist eine Wunde,
die niemals heilt. Immer wieder überkommt
mich eine tiefe Trauer. Wenn
ich dann wieder Kraft geschöpft habe,
unterstütze ich die anderen Mütter bei
ihrer Trauerarbeit.
Wie war Ihr erster Kontakt mit «Mütter
der Sehnsucht»?
Als ich das erste Mal zu einem Treffen
kam, wollte ich sogleich wieder umkehren.
Ich dachte, niemand kann nachempfinden,
wie gross mein Schmerz
ist. Doch dann merkte ich, dass wir in
der Gruppe alle ähnlich Schlimmes
erlebt haben und ebenbürtig sind.
Auch die Freiwilligen im Projekt, Jugendliche
und junge Erwachsene, haben
mich immer sehr unterstützt. Sie
fragen uns Mütter, wie es uns geht. Jetzt
in der Coronakrise rufen sie uns regelmässig
an. Sie ermutigen uns, wieder
Lebensfreude zu verspüren und sind oft
unsere einzige Vertrauensperson im Alter
unserer verstorbenen Kinder.
Und was tun Sie, wenn die Trauer Sie
wieder überkommt?
Wenn ich am Boden bin, weiss ich: Ich
bin nicht allein.
Interview: Raiane Maria; Übersetzung: Gael Itembila
Giger; Bearbeitung: aw
Mütter der Sehnsucht
Unsere Partnerorganisation in Recife,
die Grupo Comunidade Assumindo
Suas Crianças (GCASC), arbeitet in der
Selbsthilfegruppe «Mütter der Sehnsucht»
(mães de saudade) mit Müttern
aus den Armenvierteln, deren Söhne
durch Waffengewalt ermordet wurden.
In ihrem Schmerz und ihrer Trauer
untereinander verbunden, verlangen
sie nach Aufklärung und Gerechtigkeit:
Denn Straflosigkeit ist in solchen
Fällen die Regel. Jugendliche
von GCASC begleiten die Mütter. Gemeinsam
setzen sie sich mit den tieferen
Ursachen der Gwalt auseinander.
Mit vereinten Kräften fordern sie
von der Politik eine menschlichere
Sicherheitspolitik und Sozialprogramme
für Heranwachsende in den
Favelas. Andrea Zellhuber
> Weitere Informationen zu GCASC:
www.terredeshommesschweiz.ch/gcasc
Solidarisch wider das Unrecht: Die Jugendlichen und Mütter von GSASC setzen sich mit
den Ursachen der Gewalt auseinander. Foto Annette Mokler
6 magazin terre des hommes schweiz Nr. 3 2020 magazin terre des hommes schweiz Nr. 3 2020
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