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Die «Sarasin-Debatte» im Tages-Anzeiger Wieso die ... - ZHSF

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enhintergrunds durch eine höhere Anzahl von Schulstunden kompensieren». Soll man<br />

denn <strong>die</strong> schulisch Schwachen, oft schulmüden Jugendlichen mit Herkunft Balkan,<br />

Portugal oder Türkei, deren bildungsferne Eltern vor einer Generation von unserer<br />

Landwirtschaft, vom Gastgewerbe und vom Bau als Ungelernte rekrutiert worden<br />

sind, durchs Gymnasium pushen? Jeder Oberstufenlehrer schüttelt den Kopf. Einer<br />

von zehn schafft den sozialen Aufstieg über <strong>die</strong> Schulen. Aber <strong>die</strong> einmalige Stärke<br />

der Berufslehre und der Attestlehre liegt eben gerade darin, dass auch 80 Prozent der<br />

Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten, <strong>die</strong> oft eine hohe praktische Intelligenz<br />

mitbringen, dank der berufspraktischen Qualifizierung in den Arbeitsmarkt integriert<br />

werden können. Dadurch gewinnen sie mehr Selbstvertrauen und können sogar beruflich<br />

aufsteigen. Genau <strong>die</strong>se Integration schaffen <strong>die</strong> vollschulischen und gymnasialen<br />

Ausbildungsgänge in den andern Ländern nicht!<br />

Viertens: <strong>Die</strong> Schweiz bildet nicht zu wenig Akademiker aus. Sie hat klar zu wenig<br />

Mediziner, weil <strong>die</strong> Fehlkonstruktion des Numerus Clausus’ drei von vier stu<strong>die</strong>nwilligen<br />

MaturaabsolventenInnen vom Medizinstudium fernhält. Sie hat auch<br />

klar zu wenig Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschafter und Hochschulinformatiker,<br />

weil <strong>die</strong> sprachlastigen Maturitätsverordnungen jenen (meist männlichen)<br />

Jugendlichen, <strong>die</strong> notenmässig mit der Sprachorientierung nicht zurechtkommen, das<br />

Gymnasium verbauen. <strong>Die</strong> sprachlastige Gymnasialbildung wirkt selektiv. Dort sind<br />

<strong>die</strong> Hürden gegen <strong>die</strong> Naturwissenschaften eingebaut. Damit fallen <strong>die</strong> Vorwürfe Sarasins<br />

auf Gymnasium zurück.<br />

Fünftens: <strong>Die</strong> Schweiz hat aber ein Problem mit den Universitäten, nämlich mit<br />

den überfüllten und überlasteten Geisteswissenschaften, in denen <strong>die</strong> Hörsäle erst<br />

noch mit 20 bis 30 Prozent ausländischen Abiturienten zusätzlich bevölkert werden.<br />

Was geschieht mit den tausenden von Historikern, Ethnologen, Politologen, Me<strong>die</strong>nwissenschaftlern,<br />

wenn es von jeder Richtung nur einige Dutzend Fachabsolventen<br />

pro Jahr braucht? Ich frage mich oft: Hat ein Professor, der in der Vorlesung hunderte<br />

von fleissig notierenden Stu<strong>die</strong>renden vor sich sieht, je einen Gedanken darüber verschwendet,<br />

was seine Stu<strong>die</strong>renden nach dem Stu<strong>die</strong>nabschluss beruflich tun? Gewiss<br />

hat <strong>die</strong> allgemeine humanistische Bildung ihren starken Eigenwert. Aber, wer kennt<br />

und nennt <strong>die</strong> he<strong>im</strong>lichen Nöte und Ängste der geisteswissenschaftlichen Stu<strong>die</strong>nabgänger,<br />

<strong>die</strong> hier ein Praktikum, dort ein Hilfskräfte-Stage zu ergattern suchen? Fragen<br />

Sie mal, wie viele be<strong>im</strong> Bund, bei den öffentlichen Verwaltungen und Grossfirmen<br />

auf den Wartelisten stehen!<br />

Gewiss hat <strong>die</strong> Schweiz ein Problem mit der Kompatibilität und der ungerechten<br />

Titeläquivalenz ihres Bildungssystems gegenüber dem Ausland (mit dem ich mich<br />

seit langem befasse). Doch der «Konzeptfehler» liegt viel weniger in einer (angeblichen)<br />

«Bildungsverachtung» der Schweizer, wie Professor Sarasin <strong>die</strong>s nennt, sondern<br />

vielmehr <strong>im</strong> ungebrochen elitären Bildungsdünkel.<br />

<strong>Tages</strong>-<strong>Anzeiger</strong>, 12.10.2011<br />

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