Der ausgesperrte Tod und das eingesperrte Leben
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INHALTSVERZEICHNIS 1
1. EINLEITUNG 1
1.1 Aufbau der Arbeit 2
1.2 Thematische Eingrenzung 2
2. DER MENSCH UND DER TOD 3
3. DIE STERBLICHEN VON HEUTE 4
3.1 Charakteristika des Verhältnisses zum Tod 5
3.1.1 Abwesenheit des realen Todes in der Lebenswelt 5
3.1.2 Verdrängung des Todes 6
3.1.3 Der „natürliche“ Tod 7
3.1.4 Abspaltung des Mensch von den natürlichen Gegebenheiten des Daseins 8
3.1.4.1 Der Mensch im Verhältnis zu Vergänglichkeit, Wandel und Natur 8
3.1.4.2 Weltbild der unvereinten Gegensätze 9
3.2 Auswirkungen der Aussperrung des Todes
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4. CHANCEN DER BEGEGNUNG MIT TOD UND WANDEL 11
4.1 Integriertes Weltbild 11
4.2 Chancen für persönliches Wachstum 12
4.2 Lehren der Sterblichkeit 12
5. SCHLUßBEMERKUNGEN 15
LITERATURVERZEICHNIS 16
1
1. Einleitung
„ Die Kultur des innersten Lebens steht in jedem Zeitalter in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung,
die es dem Tode zuschreibt. Wie wir das Leben auffassen und wie wir den Tod auffassen- das
sind nur zwei Aspekte eines einheitlichen Grundverhaltens.“ Georg Simmel
Der Titel impliziert bereits die Richtung, in welche die vorliegende Arbeit weist.
Mir geht es bei der Auseinandersetzung mit dem Tod ums Leben: das Leben aus der Perspektive
der Sterblichkeit wird anders. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu seinem Tod,
zur Vergänglichkeit, zum Unbekannten und damit wie man sehen wird in großem Maße auch
zu seinem Leben, das in unterschiedlichen Aspekten davon beeinflußt wird.
Rückblickend erstaunt es mich, daß ein so existentielles Thema wie der Tod, in Gesprächen,
in der Schule und den Medien überraschend abwesend sein kann, problemlos zu umgehen
sozusagen und nicht genügend gewürdigt. Dies möchte ich hier nachholen.
Als Bereicherung der persönlichen Perspektive, für ein ganzheitliches Bewußtsein der Seinsstruktur
des Menschen und zur Erschaffung von Bedingungen, die sowohl persönlich als auch
gesellschaftlich ein humanes Sterben nach einem erfüllten Leben ermöglichen, ist eine Beschäftigung
mit dem Tode unabdingbar, wie im Weiteren gezeigt werden soll.
1.1 Aufbau der Arbeit
Nach einem einleitenden Teil über den Menschen und seinen Tod, komme ich zu einer Standortbestimmung
der Sterblichen von heute und hier, zu Aspekten die ihre (Nicht-)Beziehung
zum Tod charakterisieren. Welche Auswirkungen das auf viele Bereiche des Lebens hat,
fließt am Rande immer wieder mit in diese Standortbestimmung ein. Im letzten Abschnitt
geht es darum, welche Chancen in der Begegnung mit dem Tod enthalten sind und was daraus
gewonnen werden kann.
1.2 Thematische Eingrenzung
Aspekte, die den letzten Abschnitt vor dem Tod -das Sterben- betreffen, fließen nur am Rande
mit in diese Arbeit ein. Diese letzte Phase wird sowohl gesellschaftlich als auch persönlich
weitgehend mitbestimmt durch eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, die schon
lange vorher beginnt. Deshalb werden Fragen über Sterbehilfe, Hospizbewegung, den Ablauf
des Sterbens aus medizinischer Sicht und Lebenserhaltungsmaßnahmen, sowie Todes- und
Begräbnisrituale hier weitgehend ausgenommen.
Das Jenseits ist noch weiter entfernt, es soll hier also auch nicht darum gehen, was nach dem
Tode geschieht. Verschiedene Kulturen und Religionen haben seit jeher versucht auf diese
Frage eine Antwort zu geben. Die Antworten sind vielfältig und haben starken Einfluß auf die
jeweilige Lebens- und Gesellschaftsgestaltung der Menschen.
2
Insofern sind sie durchaus interessant. Das einzig Gewisse ist jedoch, daß der Mensch stirbt,
daß es unsicher ist wann und wie dies geschieht und daß alles Bekannte damit endet. Um das
Verhältnis zu dieser einzigen wirklichen Gewißheit soll es hier gehen.
Da es im Weiteren zu Verallgemeinerungen kommen wird, soll explizit darauf hingewiesen
werden, daß die Eingrenzung der Arbeit, die Auswahl der Literatur und der Stil durch meinen
persönlichen Standort bezüglich des Themas bedingt sind. Es gibt wohl wenige Themen, die
in der Art ihrer Bearbeitung so stark davon abhängen, denn letztendlich gilt auch:
„Es gibt keinen Tod, nur mich, der sterben wird“ (André Malraux).
2. Der Mensch und der Tod
„Der Tod ist Bedingung euerer Schöpfung; ist Teil eueres eigenen Wesens; flieht nicht vor Euch
selbst. Das Dasein, das ihr genießt, ist ein gemeinschaftliches Eigentum des Todes und des Lebens;
der Augenblick euerer Geburt ist der Anfang eueres Weges, der sowohl zum Sterben leitet als zum
Leben.“ M. de Montaigne
Ohne den Tod des Menschen gäbe es weder Gesellschaft noch Geschichte, noch Zukunft oder
Hoffnung - Planet wegen Überfüllung geschlossen (vgl. GRONEMEYER (Hrsg.),1985, S.240).
Nur Lebewesen die sterben, vermehren sich auch. Soviel zum Grundlegenden.
Das Wort ‚Tod‘ entwickelte sich aus dem indogermanischen ‚dheu‘. Das vorkeltische ‚dhunios‘
hieß Mensch und bedeutete eigentlich Sterblicher, ebenso wie das gotische Wort ‚diwano‘.
Dem Menschen wurde also schon in seiner Benennung seine Bestimmung angezeigt. Das
Wort ‚Sterblicher‘ ist allerdings heute weitgehend aus dem Sprachgebrauch verschwunden,
was nicht verwundert, denn Sprache ist ein Instrument des Bewußtseins (vgl. ALITI, 1991, S.
23).
Da wir aber „unsere Sterblichkeit mit den Molchen teilen“ (Max Frisch) ist es nicht sie, die
uns insbesondere als Menschen ausmacht, sondern das ‚Bewußtsein unserer Sterblichkeit‘.
Die ältesten Dokumente, die es vom Homo Sapiens 1 gibt, sind Gräber und Grabausstattungen.
Teil dessen, was den Mensch zum Mensch machte, war der Versuch, seinen Tod denkerisch
zu bewältigen (vgl. PÖHLMANN, 1985, S. 108f).
Für die meisten Philosophen von Sokrates bis zu den Philosophen unserer Tage, (wie z.B.
Heidegger) ist der Tod ein grundlegendes Thema: „Was wir vom Tod halten, das bestimmt
ganz fundamental unser Leben“ (vgl. SCHERER 1988, S.3).
Soll der Mensch also seine Lebenszeit verwenden, um über den Tod nachzugrübeln?
1
wissenschaftliche Bezeichnung für den vernunftsbegabten Menschen, der sich nach einer langen Tier-Mensch-
Übergangsphase- aus dem Tier entwickelt hat
3
Eine Antwort darauf gibt der existenzialistische Philosoph Karl Jaspers, der feststellt:
„Der Tod wird verschleiert, man will ihn vergessen. Oder umgekehrt: man denkt ständig an
den Tod, das Leben versäumend – von beiden Unwahrhaftigkeiten befreit die Haltung: Was
ich tue und erfahre steht unter dem Maßstab: hält es stand vor dem Tode?“ (vgl. PÖHLMANN,
1985, S. 120).
Während sich Philosophie, Theologie und Medizin schon immer mit der Todesthematik befaßten,
folgten verstärkt seit den 70er Jahren auch Psychologie und Pädagogik. Gemeinsamer
Ausgangspunkt aller Disziplinen ist die Erkenntnis der Notwendigkeit, die Todesthematik-
man spricht auch von Thanatologie- zum Forschungsgegenstand zu machen. Ziel dieser Forschung
ist es, mehr Humanität nicht nur in das Sterben, sondern vor allem in das Leben der
Menschen zu bringen. (vgl. BROMMER, 1989, S. 37).
Zusammenfassend kommen die oben genannten zu folgender Schlußfolgerung: Auch wenn
sich die Lebensspanne der meisten Menschen (der nördlichen Erdhälfte) verlängert, ändert
dies nichts an ihrer Endlichkeit, da diese zur Seinsstruktur gehört. Daher würde im Fall ihrer
Nicht-Integrierung eine Selbstentfremdung des Menschen stattfinden, welche die weitere
Selbstwerdung erheblich behindern würde. (vgl. BROMMER, 1989, S. 43f).
Somit sind sich also viele kluge Leute einig, daß es wichtig ist, sich mit dem Tode zu befassen,
wie steht es diesbezüglich um den Sterblichen von heute und hier?
3. Die Sterblichen von heute
„Der Tod ist groß; wir sind die Seinen, lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
beginnt er zu weinen, mitten unter uns.“ Rainer Maria Rilke
Der Mönch und Autor des „Tibetischen Buchs vom Leben und vom Sterben“ Sogyal Rinpoche,
war nach seinen ersten Besuchen im Westen schockiert davon, wie grundlegend sich die
hier vorherrschende Einstellung zum Tod von den Vorstellungen, mit denen er aufgewachsen
war, unterschied.: “Trotz allen technologischen Errungenschaften besitzt die moderne westliche
Zivilisation kein wirkliches Verständnis vom Tod, von den Vorgängen beim Sterben. Ich
begriff, daß die Menschen heutzutage lernen, den Tod zu verdrängen, und daher im Sterben
nichts als Vernichtung und Verlust sehen. Daraus folgt, daß die meisten Menschen den Tod
entweder leugnen oder in Angst vor ihm leben.
Bloß über den Tod sprechen wird schon als morbid angesehen. Andere sehen dem Tod mit
einer trivialisierenden Zuversicht entgegen. Sie denken aus irgendwelchen unbekannten
Gründen werde schon alles gut gehen, und man müsse sich keinerlei Sorgen machen. Das ist
eine nette Theorie- bis man dann stirbt“. (RINPOCHE, 1993, S. 22).
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3.1 Charakteristika des Verhältnisses zum Tod
„Wir schieben unseren eigenen Tod an ein irgendwie nebulöses Ende und verhalten uns in der
Zwischenzeit so, als ob wir unsterblich wären.“ Angelika Aliti
Es können verschiedene Charakteristika des Verhältnisses zum Tode in der Gegenwart benannt
werden. Hierbei fällt insbesondere der Ausschluß des Todes aus der Sozialität der Lebenden
auf, der sich durch seine Abwesenheit in der alltäglichen Lebenswelt und die Verdrängungsthese
erklären läßt. Dieser Ausschluß drückt sich unter anderem in der weit verbreiteten
Vorstellung des „natürlichen Todes“ aus.
Es besteht außerdem ein Zusammenhang zwischen dieser Aussperrung des Todes und der
Abspaltung des Menschen von den natürlichen Gegebenheiten des Daseins. Das zeigt sich
durch eine Lebensform fern der natürlichen Kreisläufe, die Vergänglichkeit beinhalten und
einem Weltbild der unvereinbaren Gegensätze, allen voran ein entschieden vom Leben getrennter
Tod. Auf diese Charakteristika wird nun näher eingegangen.
3.1.1 Abwesenheit des realen Todes in der Lebenswelt
„Es macht mir nichts aus zu sterben, ich will nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.“ Woody Allen
Während sich früher das Sterben in einem hohen Maß in der Öffentlichkeit, in Familie, Nachbarschaft
oder Gemeinde vollzog, ist die Verbannung der Sterbenden und des Todes aus dem
Gesichts- und Umfeld der Menschen heute nahezu vollständig. Sie sind verbannt hinter die
Türen von Krankenhäusern, Altenheimen, Beerdigungsinstituten und Leichenhallen.
Im Gegensatz zum Alltag ist in den Medien der Tod zur Gewohnheit geworden, sowohl in
den Nachrichten, als auch in der Unterhaltungsindustrie. Der Tod in den Medien ist aber zur
Fiktion geworden, das heißt er ist zum Gegenstand des ‚Zuschauens‘ geworden und wird damit
keineswegs als wirkliche Möglichkeit für den Zuschauer erfahren (vgl. GRESHAKE, 1990,
S. 13).
Viele Erwachsene waren noch nie beim Sterben eines Menschen dabei, heutzutage haben bei
uns Menschen von 50 Jahren so viel oder so wenig Erfahrung mit Sterbenden wie vor 200
Jahren ein 20jähriger (vgl. BROMMER, 1989, S. 43).
„Eine Folge davon ist eine weit verbreitete Sprachlosigkeit beim Thema Sterben und weitgehende
Handlungsunfähigkeit in der Umgebung von Sterbenden und auch von Trauernden“
(ebenda, S. 60).
Der Mensch reflektiert über seine unabänderlichen ‚Grenzen‘ kaum, da in seiner Lebenswelt
dazu im allgemeinen kein Motiv vorliegt. So ergibt sich eine sehr alltägliche Erklärung für die
Vertagung einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Themenbereich 'Sterben und Tod‘
(vgl. BROMMER, 1989, S. 43ff).
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3.1.2 Verdrängung des Todes
„Verdrängen wir die Angst vor dem Tod, wird uns die Angst ums Überleben jagen." Rodney Smith
Die Abwesenheit des Todes in der Lebenswelt ist aber keine ausreichende Erklärung dafür,
warum ein Thema mit so existenzieller Bedeutung für den Menschen, in der allgemeinen Öffentlichkeit
kaum anzutreffen ist und wenn doch, dies oft mit Unbehagen und Unsicherheit
einhergeht. Begründet kann dies werden, mit der These der Verdrängung und darauf folgend
der Tabuisierung (vgl. BROMMER, 1989, S. 50ff + S. 153). Diese mögen durch die folgenden
Aspekte verständlich werden:
Das heutige Verhältnis zum Tode unterscheidet sich in noch einem anderen Punkt, als den
äußerlich veränderten Lebensumständen stark von früheren Zeiten. Im Übergang zur Neuzeit
ist der Glaube an die Ewigkeit in noch nicht dagewesenem Maße verloren gegangen. Es handelt
sich dabei um einen Vorgang, der aus historischer Perspektive sehr jung ist.
Das bedeutet, die irdischen Jahre sind nun die einzigen, welche die Menschen haben und sind
somit überaus kostbar geworden. In einem Weltbild ohne Transzendenz wird der Tod zum
Gegenteil, zum Feind und Räuber des Lebens. Dadurch berührt schon der Gedanke an ihn
unangenehm und bringt ihn zu nahe.
Es gibt weitere nachvollziehbare Gründe dafür, daß das Thema Tod verdrängt wird, darunter
der, daß mit einer persönlichen Berührung mit dem Tod oft Angst und Leid einher gehen.
Diese werden kaum noch durch Netze überlieferten Gemeinschaftslebens oder ein religiöses
Weltbild aufgefangen.
Einer der Gründe, warum der Tod feindlich gegenüber dem Leben angesehen wird, ist demnach,
daß er Leiden verursacht. Irgendwann einmal erleidet jeder den Tod eines geliebten
Menschen. Kummer und Schmerz, die daraus folgen, gehören zu den schwersten zu ertragenden
Emotionen (vgl. SMITH, 2000, S.59).
Sterben bedeutet sowohl in diesem Sinne, als auch bezüglich des eigenen zukünftigen Todes
einen unermeßlichen Verlust angesichts dessen größte Angst entstehen kann. Einer der
Hauptbeweggründe, einer bestimmten Situation aus dem Weg gehen, ist die Furcht vor dem
Unbekannten, wegen der sicherheitshalber eher die Flucht in eine bekannte Richtung eingeschlagen
wird. Was das Sterben betrifft, kann die Richtung nicht einfach geändert werden, um
den Prozeß sicherer zu gestalten. Hier gibt es kein Entkommen. Der Sterbende gibt alles auf,
was er jemals gekannt hat. Der Tod bedeutet eine enorme Konfrontation mit der Furcht vor
dem Unbekannten (vgl. SMITH, 2000, S.109).
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3.1.3 Der „natürliche“ Tod
„Die Aussperrung des Todes ist die modernisierte, auf den Stand der Rationalität gebrachte, mit
nüchternem Realitätssinn vermittelte, von Mythos, Magie und Religion befreite Gestalt des Unsterblichkeitstraums.“
Marianne Gronemeyer
In Entsprechung zu der oben beschriebenen Situation hat sich in modernen Gesellschaft eine
leitende Vorstellung über den Tod herausgebildet, nämlich die Vorstellung eines „natürlichen
Todes“. Seither heißt Tod ein durch biologische oder gewaltsame Ursachen herbeigeführtes
unwiderrufliches Ende des Menschen; alle anderen Vorstellungen, Verständnisse oder Überlegungen
werden tendenziell als vormodern oder irrational ausgegrenzt oder abgewertet. Es
gehört zu dieser Vorstellung auch, daß der Mensch nicht irgendwann, sondern am Ende seiner
biologischen Lebenskräfte friedlich verlöschen kann. Der Mensch soll die ihm „von Natur“
aus gegebene Lebensspanne auch tatsächlich ausschöpfen können. „Die Vorstellung des friedlichen
Einschlafens uralter und lebenssatter Menschen könnte man durchaus ein wenig romantische
und irreal nennen.“
Es dürfte unmittelbar einsichtig sein, daß der ‚natürliche Tod‘ erst durch erhebliche (wenn
überhaupt) gesellschaftliche Anstrengungen ermöglicht werden kann und insofern ein höchst
gesellschaftlich-artifizielles Produkt und alles andere als natürlich ist.
Im Konzept des natürlichen Todes ist der normative und gesellschaftskritische Anspruch erhoben,
daß die Gesellschaft so eingerichtet sein muß, daß sie allen ihren Mitgliedern ein von
Gewalt unbehelligtes Leben ermöglichen kann. Hier besteht also großer Einfluß auf Politik,
das gesellschaftliche Verhältnis zu Sicherheit, aber auch auf die Erwartungen an die moderne
Medizin. Verlängerung des Lebens um jeden Preis ist darum die geheime Pointe der Vorstellung
vom natürlichen Tod. Diese Vorstellung bedeutet darum keineswegs die Akzeptierung
eines Todes, der zum Sein des Menschen gehört, die Akzeptanz seiner unwiderruflichen Endlichkeit,
sondern eine systematische Leugnung des Todes in der aktuellen Form der Kompromißlösung:
Wenn es sich momentan nicht vermeiden läßt, daß wir sterben müssen, dann bitte
erst dann, wenn es nicht durch „externe“ Ursachen bedingt, sondern allein auf Grund unseres
biologischen Verlöschens unausweichlich ist (vgl. SCHEER, 1989, S. 26ff).
Diese Einstellung hat weder den Tod noch die Todesangst ausgelöscht und das heutige Sterben
ist fern der Natürlichkeit.
Elisabeth Kübler-Ross, die seit langen Jahren mit Sterbenden arbeitet, antwortet auf die Frage
wie heute gestorben wird: “Mechanisiert, einsam und unpersönlich, heute grausamer als früher,
an Maschinen angeschlossen, und mehr als Gegenstand denn als Person behandelt“.
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Auf seinen Körper reduziert, medikamentalisiert und oft genug nicht von der Nähe seines
Todes wissen könnend, von Mitpatienten abgesondert, von den Verwandten verlassen und der
Geschäftigkeit des Personals umgeben- so soll der Sterbende seinen stillen, unauffälligen Tod
sterben, bis zuletzt die Hilfeleistungen des Krankenhauses willig annehmend-e s wird alles
getan, um den Verdrängungprozess der Lebenden nicht zu gefährden (vgl. SCHEER, 1989, S.
26).
3.1.4 Abspaltung des Mensch von den natürlichen Gegebenheiten des Daseins
„Warum soll die Natur mit Untergängen geizen, da sie mit Anfängen und Schöpfungen wuchert?“
Jean Paul
Die weit verbreitete Vorstellung des natürlichen Todes ist ebenso weit von diesem entfernt,
wie der Mensch es in den westlichen Industriegesellschaften von der Natur ist und damit die
Zivilisation von dem was ihr zugrunde liegt, der Biosphäre. An der ökologischen Krise, die
von den unterschiedlichen ökologischen Ansätzen vor allem auf ein zersplittertes Weltbild
zurückgeführt wird, das den Mensch fälschlicherweise vom übrigen Gewebe der Wirklichkeit
trennt und oft genug auch noch darüber erhebt, sieht man die schwerwiegenden Konsequenzen
dieser Abspaltung (vgl. WILBER, 2001, S.20 f).
In dieser Abspaltung, die sich auch in der entschiedenen Trennung von Leben und Tod spiegelt,
läßt sich ein Zusammenhang mit dem Verhältnis zum Tod feststellen.
3.1.4.1 Der Mensch im Verhältnis zu Vergänglichkeit, Wandel und Natur
„Es ist gut, wenn das Leben nicht allzu verschieden ist vom Tod, so vergessen sie das eine wie das
andere und können es aushalten.“ Günter Steffens
Vergänglichkeit und Wandel bilden eines der fundamentalen Gesetze des Daseins. Unablässig
erinnert die natürliche Umwelt an diese Wahrheit: der Wechsel der Jahreszeiten; das Auf- und
Untergehen der Sonne; das Kommen und Gehen der Gezeiten; das Werden und Vergehen von
Tieren und Pflanzen. Wandel ebenso auf der inneren Ebene: schwankende Stimmungen,
wechselnde Ideen und Interessenlagen, die Unsicherheit der physischen Gesundheit und die
sich verändernden Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Gesetz der Vergänglichkeit ist verantwortlich
für unser Altern und auch für unseren Tod.
Doch ungeachtet aller inneren und äußeren Hinweise, zählen Vergänglichkeit und Wandel zu
den am hartnäckigsten verleugneten Tatsachen unserer Zeit. Wandel wird in der heutigen Zeit
oft gleichgesetzt mit Verlust du Leiden. Veränderung verunsichert. Es wird an der Annahme
festgehalten, daß Dauerhaftigkeit Sicherheit verleihe, Vergänglichkeit hingegen nicht. Jedoch
ist die Erkenntnis der Vergänglichkeit und des Wandels paradoxerweise das einzige, woran
8
man sich halten kann, vielleicht der einzige dauerhafte Besitz. (vgl. RINPOCHE, 1993, S. 43).
Wenn wir uns weigern, die Vergänglichkeit der Dinge anzuerkennen, dann kommt der Tod
immer zu früh.
In seinen Lebensbedingungen hat der moderne Mensch wenig übriggelassen, daß ihn an die
natürlichen Kreisläufe von Vergänglichkeit und Wandel erinnern würde. Riten des Übergangs
der Jahreszeiten oder Lebensalter, die der bewußten Wahrnehmung von Veränderungen Ausdruck
verleihen, sind heute rar gesät.
Eine Schicht aus Beton und Asphalt trennt die Menschen von den natürlichen Lebensgrundlagen,
alles ist voller toter Materialien, die nie mehr verrotten und rechter Winkel. Die Gestaltung
der Städte, die Häuser, die normierten Tagesabläufe, unverderbliche Nahrung: überall
triumphiert das Tote, Lineare, Mechanische über den Rhythmus der Natur und des Lebens.
Klimaanlagen und Heizungen nivellieren die Temperaturunterschiede der Jahreszeiten, die
Beleuchtung ebnet die Differenz von Tag und Nacht ein; und im Namen der Selbstkontrolle
dämpfen Menschen die Extremlagen des Gemüts (vgl. EISENBERG (Hrsg.), 1985, S. 18).
„Insoweit der Mensch Leib ist, ist er Natur und damit sterblich wie jedes Lebewesen. Da der
neuzeitliche Mensch das Wissen um seine Sterblichkeit nicht ertragen kann, beginnt er, seine
Kreatürlichkeit zu bekämpfen und abzuschütteln. Gegen den Biorythmus des Körpers entwickelt
er Regeln intellektueller und moralischer Selbstbeherrschung und Disziplin, Rituale der
Ordnung und Zeiteinteilung“ (ebenda, S. 26).
3.1.4.2 Weltbild der unvereinten Gegensätze
„Spaltet man das ‚Sein’ in der Mitte, will man nur das eine ohne das andere, hält man sich ans
Gute und nicht auch ans Schlechte und verleugnet dabei das eine zugunsten des anderen, dann
geschieht, was man immer erkannt hat: der dissoziierte böse Impuls – böse jetzt im doppelten Sinn -
kehrt zurück, um das Gute zu durchdringen, in Besitz zu nehmen und zu dem zu machen, was er
selbst ist.“ R.D.Laing / Phänomenologie der Erfahrung
Eines der Charakteristika, die das Verhältnis zum Tod in der Gegenwart insbesondere ausmachen
ist die entschiedene Trennung zwischen Leben und Tod. Der Tod ist zum Gegensatz und
Feind des Lebens erklärt worden. Dies ist ergibt sich unter anderem aus den oben beschriebenen
Punkten: einer Lebenswelt in der Tod und Sterben kaum vorkommt, einem Verlust der
Verbindung zu den natürlichen Kreisläufen und einer abhanden gekommenen Transzendenz.
Die Abtrennung des Todes vom Leben bringt eine Grundstruktur hervor, die übertragbar ist
auf alle übrigen Erscheinungsformen des Lebens: die Etablierung von Gegensätzen, von denen
einer erstrebenswert ist, dessen Entfaltung und Bewahrung aber vom anderen bedroht
scheint.
9
„So wird denn in der Folge der Ausgrenzung des Todes aus dem Leben die Ungerechtigkeit
von der Gerechtigkeit abgesondert, die Gesundheit vor der Krankheit geschützt, das Wohlergehen
vom Leid befreit, das Gute vor dem Schlechten bewahrt, die Rationalität gegen die Unvernunft
zu Felde geführt, der Unbildung die Bildung abgerungen, das Schöne gegen das
Häßliche abgegrenzt, Genuß gegen Mühsal, Reales gegen Imaginäres, Vertrautes gegen
Fremdes verteidigt.“ (vgl. GRONEMEYER (Hrsg.), 1985, S.244).
Das Unbehagen gegenüber dem Tod und der ungewollten Seite der Medaille ist ein deutlicher
Hinweis darauf, daß hier auf Kosten der Wahrheit gelebt wird. Es ist Ausdruck davon, daß
das Leben nicht als vollständiger Kreislauf anerkannt wird.
„Das Leben kann nicht nach unserer Logik und Vorstellung gestaltet werden: wenn wir eine
faire Welt hätten würden die großen Fische die kleinen nicht fressen, die Gerechten sollten
nicht vor den Ungerechten sterben und Kinder niemals vor ihren Eltern.“
Der Tod fordert heraus, Polaritäten zu integrieren: Leben und Tod, Gewinn und Verlust,
Glück und Unglück, Freude und Schmerz. Wenn wir das eine suchen und das andere meiden,
werden wir Gefangene von beiden. Beide sind unvermeidliche Komponenten der Vollständigkeit
des Lebens (vgl. SMITH, 2000, S. 31).
Zu einem authentisch gelebten Leben gehört auch, die Möglichkeit eines unerwarteten und
plötzlichen Todes mit einzubeziehen (vgl. BROMMER, 1989, S. 37).
3.2 Auswirkungen der Aussperrung des Todes
„Das menschliche Leben, auf den Kampf gegen den Tod eingestellt, unterliegt der Herrschaft des
Todes, wird Überleben. Dieses Überleben ist von allen Seiten bedroht, und „je mehr das Leben sich
sichert, desto mehr wird es zur bloßen Möglichkeit, zum bloßen Potential, das sich nicht einsetzen
will, weil es zu riskant ist.“ Peter Sloterdijk/ Kritik der zynischen Vernunft
Auf unterschiedliche Weise hungert die vom Tod gereinigte Lebensführung das Leben selbst
aus, hier einige Aspekte:
Sie ist risikofeindlich und sicherheitssüchtig
Sie ist besessen von der Idee des Zeitsparens und –kontrollierens
Sie fürchtet das Alter und preist jugendliche Schönheit
Sie meidet das Abschiednehmen
(vgl. GRONEMEYER (Hrsg.), 1985, S.246).
10
4. Chancen der Begegnung mit Tod und Wandel
„Und solange du das nicht hast,/ Dieses: Stirb und werde! /Bist du nur ein trüber Gast/Auf der
dunklen Erde.“ Goethe
Im letzten Punkt soll es nun darum gehen, was aus der Auseinandersetzung mit dem Thema
Tod, Sterben und Wandel gewonnen werden kann. Die Begegnung, wie auch die Form in der
sie stattfindet, sollte zuerst einmal eine persönliche sein, da es um eine innere Beziehung zur
Daseinsstruktur der (eigenen) Vergänglichkeit geht. Diese kann sich dann auf die tatsächlichen
äußeren Gegebenheiten auswirken und letztendlich auch die weiteren Aspekte, die durch
das Verhältnis zur Vergänglichkeit beeinflußt werden, aber besonders auch auf das eigene
Sterben. In diesem letzten Abschnitt wird dargelegt, daß die Botschaften für ein gesundes
Leben und einen gesunden Tod dieselben sind, was den Kreis zur Einleitung schließt. Es ist
hier insbesondere Literatur von Menschen verwendet worden, die langjährige Lebenserfahrung
mit Sterben und Tod haben, beispielsweise durch Hospizarbeit.
4.1 Integriertes Weltbild
„Menschen, die wirklich gelebt haben, haben weder vor dem Leben noch vor dem Sterben Angst.“
Elisabeth Kübler-Ross
Auf die Frage, wie Tod, Wandel und damit auch das Leid, in ein ganzheitliches Weltbild integriert
werden können, gibt unter andrem die Existenzanalyse 2 (nach V.E. Frankl und A. Längle)
eine Antwort.
Die „Unbilden“ des Lebens (von Frankl als tragische Trias -Schuld, Leid und Tod- benannt)
stellen nach existenzanalytischem Verständnis eine Herausforderung dar, welche die existenzielle
Gemeinsamkeit aller Lebenssituationen ausmacht: Die Herausforderung, einen je einzigartigen
situativen Sinn aufzufinden, durch die Verwirklichung innerer Werte umzusetzen
und damit Bleibendes zu schaffen. Werte, die einmal verwirklicht wurden, kann nichts und
niemand mehr nachträglich entwerten. Jede Lebenslage spricht den Menschen persönlich an,
selbst in tiefstem Leid kann der Mensch noch über sich hinauswachsen, um in einem Prozeß
der Reifung ungeachtet aller äußeren Abhängigkeiten seine innere –geistige- Freiheit zu erschaffen.
Somit gründet das existenzanalytische Menschenbild auf einem Verständnis des
Menschen als Werdenden (und nicht als Abgeschlossenen).
2
Existenzanalyse ist die an psychotherapeutischen Problemstellungen orientierte Auseinandersetzung mit der
Art und Weise, wie Menschen durch die Verwirklichung von Werten ihr Leben sinnvoll gestalten. Sie wurde von
Frankl nach eigenen KZ-Erfahrungen mitentwickelt, in denen er selbst das Prinzip der Stellungnahme zu einem
unabwendbaren, akut lebensbedrohlichen Sachverhalt praktizieren mußte.
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Die zeitliche Begrenztheit des Menschen durch den Tod wird von der Existenzanalyse als
Wesensmerkmal des Lebens begriffen, das die Sinnhaftigkeit des Lebens erst begründet: Indem
es an die Verantwortung des Menschen hinsichtlich seiner Zeitlichkeit appelliert, bewirkt
es die uwiderrufliche Einmaligkeit jeder menschlichen Handlung und damit ihren Wert. (vgl.
WINKLER, 1996, S. 37)
4.2 Chancen für persönliches Wachstum
„Es ist unumgänglich der Tatsache ins Auge zu blicken, daß das Leben jederzeit enden kann.“
Diese Art der Kontemplation führt zu persönlicher Integrität, die immer mehr alle Handlungen
durchdringt, denn das Bewußtsein von der möglichen unmittelbaren Nähe des Todes
erinnert daran, die verbleibende Zeit bestmöglich zu nutzen. Es entzieht Ausflüchten die
Grundlage und zwingt, Verantwortung zu übernehmen. Das Wesentliche und Notwendige,
das getan werden muß, kann nicht mehr verschoben werden. Der Tod mahnt, Wesentliches
von Unwesentlichem zu unterscheiden. Er hilft zu entscheiden, was im Leben noch verwirklicht
oder bereinigt werden soll, in Entsprechung zu einem persönlichen Sinn.
Das was uns Menschen, die seit Jahren mit Sterbenden arbeiten mit auf den Weg geben können,
ist eine Botschaft die zugleich für das Leben, wie auch für das Sterben gilt. Elisabeth
Kübler-Ross drückt es so aus: “Menschen sterben als Charaktere“. Wir sterben, wie wir gelebt
haben und das spiegelt sich sowohl in unserer inneren Haltung gegenüber dem Unbekannten
dem wir entgegentreten, als auch in der Beziehung zu den uns nahestehenden Menschen.
„Der gemeinsame Faktor, der sowohl im Leben wie im Tod zu sein scheint, liegt in unserem
Potential zu wachsen, wenn wir uns unseren Ängsten stellen.“ (SMITH, 2000, S. 79)
Da viele psychologische Schwierigkeiten daher rühren, wie man mit den Übergängen des Lebens
umgeht, kann der Tod Einblicke in das Wesen von Leid verschaffen. Den Tod zu erforschen
bedeutet also auch, die Unwissenheit und Verwirrungen des Lebens zu begreifen.
4.3 Lehren der Sterblichkeit
„Wir werden an die Tatsache erinnert, daß die Qualität unseres Lebens sehr viel wichtiger ist als
die Anzahl der Jahre, die uns geschenkt sind – die Quantität des Lebens.“ Elisabeth Kübler-Ross
Die folgenden Aspekte, die nicht erst angesichts des Todes wichtig werden und in denen das
Potential für inneres Wachstum (man könnte es auch Heilung nennen) enthalten ist, sprechen
jeden an. Im konkreten Wissen um die Nähe des Todes wird die Notwendigkeit dieses Wachstums
nur bewußter und dringender.
12
Lebendigkeit
„Die wahre Suche ist nicht die Suche nach dem Sinn des Lebens, sondern die Suche nach dem
Gefühl, lebendig zu sein.“ Joseph Cambell
Sterbende haben erkannt, daß die Zeit kostbar ist, und das sie ihr Leben nicht länger auf später
verschieben können. Sie wachen auf und werden sich der mannigfaltigen Ausdrucksformen
des Lebens bewußt, das sie bislang so selbstverständlich hingenommen haben. (vgl. SMITH,
2000, S. 14).
Sich des Todes zu erinnern hilft, in Kontakt zu bleiben mit dem, was gerade geschieht, und
den gegenwärtigen Augenblick zu würdigen. Tatsächlich ist dieser Moment der einzige Punkt,
an dem sich das Leben abspielt. Diese Wahrheit wird manchmal übersehen, weil sich der
Geist in die träumerischen Wirklichkeiten der Vergangenheit oder der Zukunft entführen läßt.
In der Gegenwart jedoch besteht die Möglichkeit zu handeln, zu fühlen, zu erkennen und
letztendlich lebendig zu sein.
Natürliche Menschlichkeit
„Wenn wir dem Tod ohne Erwartungen begegnen, besteht keine Diskrepanz mehr zwischen dem,
wie wir sterben und dem, wie wir gerne sterben würden.“ Rodney Smith
„Wir leben mit einer Vielzahl von Vorstellungen, Selbstbildern, Verhaltensweisen und Erwartungen,
die mit all den verschiedenen Rollen, die wir im Leben spielen einher gehen. Wir haben
gelernt unsere wahren Gefühle viele Male zu verraten und stets die Haltung einzunehmen,
die den Umständen zu entsprechen scheint, mechanische Verhaltensweisen auf Kosten der
Lebendigkeit sind oft das Resultat. Während des Sterbens fallen beständig Teile des Selbstbildes
von uns ab und werden fragwürdig. Es nicht mehr so wichtig, Ansehen und Selbstbild
zu wahren. Wir können es wagen, uns zu verändern, nachsichtiger mit uns umgehen und uns
mehr von den konditionierten Skripten der Vergangenheit lösen“ ( SMITH, 2000, S. 147). Der
Tod entblättert bis auf das Wesentliche, nämlich vollständig Mensch zu sein und damit steht
er beispielhaft als Moment ohne jede Verstellung. Ebensowenig wie es eine „richtige“ Art
gibt zu sterben, gibt es auch keine perfekte Persönlichkeit. Man kann nichts weiter tun, als der
Mensch sein, der man ist, mit allen Fehlern und Schwächen, und sich in dieser Weise dem
Tod überlassen. Was könnte beispielsweise eine falsche Gelassenheit im Angesicht des Todes
nützen? Im Sterbeprozess werden vielleicht Phasen von Schmerz, Furcht, Depression, Zorn
oder Wut auftauchen (vgl. CONDRAU, 1991, S. 432). Wirklich wichtig ist dabei, alle Vorstellungen
aufzugeben, wie man zu sein hätte, und sich der Fülle der menschlichen Natur anzuvertrauen.
Nur durch das rückhaltlose Öffnen für das, was im Inneren geschieht, ist Natürlichkeit
zu finden.
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Werte
„Meine Religion ist es, ohne Bedauern zu leben- und zu sterben.“ Milarepa/berühmter Poet Tibets
Das Bewußtsein der Sterblichkeit und im Falle von Sterbenden der konkrete Zeitdruck konfrontiert
unmittelbar mit den eigenen Wertvorstellungen, denn die Hoffnung auf ein langes
Leben verändert sich hin zur Hoffnung auf eine wertvoll verbrachte Zeit. Persönlichem Lebenssinn
wird Ausdruck verliehen, anstatt dies auf später zu verschieben, Lebendigkeit wird
gelebt, anstatt sie auf zukünftige Jahre zu projizieren.
Von Sterbenden erfährt man immer wieder, wie wichtig es ist, authentisch und inneren Werten
entsprechend zu leben. Die Gelassenheit mit der ein Sterbender dem Tod begegnen kann,
hängt auch damit zusammen, ob er das Gefühl hat, in Übereinstimmung mit seinen Werten
gelebt zu haben (vgl. SMITH, 2000, S. 121ff).
Beziehungen statt Besitz
Der Tod sagt: „Bau etwas auf, aber hab ein Auge auf mich. Ich habe das letzte Wort.“
Die Lehren der Sterbenden machen deutlich, daß Besitz keine Zufriedenheit bringt. Sie deuten
auf etwas hin, das jenseits materieller Bedürfnisse liegt, etwas, das zwar viel weniger greifbar
ist, aber letzten Endes mehr Erfüllung bringt. Sie weisen auf Beziehungen als Lebensgrundlage
hin. Damit sind nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen gemeint, obwohl das
sicherlich ein sehr wichtiger Punkt ist, sondern vor allem die Fähigkeit, sich auf wirklich alles
beziehen zu können und damit die Bereitschaft unter allen Umständen und in allen Situationen
zu lernen und daran zu wachsen. (vgl. SMITH, 2000, S. 92).
Für Beziehungen ist oft eins nötig:
Vergebung
„Vergebung kann nur aus tiefer Menschlichkeit erwachsen, und damit aus einem Bewußtsein, das
erlaubt fehlbar zu sein.“ Rodney Smith
Für den Sterbenden sind unerledigte Angelegenheiten in Beziehungen, Versäumtes und Bereutes
oft schmerzhaft. Egal ob diese Bedingungen im realen Leben noch möglich sind zu
klären: Vergebung, sowohl sich selbst als auch dem anderen ist unabdingbar um Frieden in
diesen unerledigten Angelegenheiten zu finden. Vergebung braucht Mut:
Sich zuzugestehen, verletzlich zu sein, ist ein Zeichen von Mut, nicht von Schwäche- nämlich
des Mutes, dem anderen aus unmittelbarer Nähe zu begegnen ( vgl. SMITH, 2000, S. 115).
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5. Schlußbemerkungen
Am Anfang dieser Arbeit wußte ich nur, das ich über den Tod schreiben wollte. „Über so ein
morbides und düsteres Thema willst Du schreiben, hättest Du dir nichts Erfreulicheres aussuchen
können?“ war die Reaktion vieler Bekannter. Es hat mich dann selbst erstaunt, wie sehr
einen das Thema mitten ins Leben führen kann. Was letztendlich bei der Arbeit herausgekommen
ist, entstand in wochenlanger intensiver gedanklicher und schriftlicher Auseinandersetzung
mit dem Thema, das begann mich so zu interessieren, daß ich letztendlich zehn Seiten
zuviel geschrieben hatte, und wieder kürzen mußte.
Eine Frage auf die ich während dem Schreiben öfters getroffen bin ist die, welche der behandelten
Faktoren eigentlich welche bedingen. Möglicherweise ist die gesamte Struktur von
Gesellschaften zutiefst bestimmt, durch die ihnen innewohnende Einstellung zum Tod und
damit auch zum Leben. Sicher erschafft sich diese aus den Lebensbedingungen aber auch
immer wieder neu. Das gleiche gilt auch für das eigene Leben.
Es taten sich immer wieder weitere relevante Aspekte auf. Das Thema Tod, das kann ich abschließend
sagen, hat soviel mit dem Leben zu tun, daß man sich auch ein Leben lang damit
befassen könnte.
„Was es aber wirklich bedeutet, buchstäblich alles in der Welt hinter sich zu lassen, das werden wir
erst in dem Moment verstehen, da es uns selbst betrifft.“ Rodney Smith
In diesem Sinne hoffe ich, getrost die Augen schließen zu können. Einmal muß ein Ende sein.
Zum Abschluß noch ein Gedicht von Richard Allen, geschrieben am Ende seines Lebens:
„Wenn du liebst, gib alles, was du hast.
Und wenn du an deine Grenze stößt, dann gib noch mehr,
ganz gleich wie schwer es für dich ist.
Denn wenn du dem Tod ins Angesicht blickst,
ist es nur die Liebe, die du gegeben und empfangen hast, die zählt,
und alles andere:
das Erreichte, die Mühen und die Kämpfe werden vergessen sein.
Wenn du viel geliebt hast,
wird dein Leben den Schmerz wert gewesen sein.
Und die Freude darüber wird wären bis and Ende.
Wenn du aber nicht geliebt hast,
wird der Tod immer zu Unzeiten kommen und dich in Schrecken versetzen.“
( KÜBLER-ROSS, 1993, S. 96)
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LITERATURVERZEICHNIS
ALITI, A.:
„Die Sucht unsterblich zu sein“- Warum der Mensch den Tod fürchtet
und darüber das Leben versäumt, 1991, Stuttgart: Kreuz
BROMMER, J.:
„Sterben und Tod als Lernbereich der Erwachsenenbildung“,
(Europäische Hochschulschriften, XI/376), 1989, Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH
CONDRAU, G.:
„Der Mensch und sein Tod“, 1991, Zürich: Kreuz
EISENBERG, G. + GRONEMEYER, M. (Hrsg.): „Der Tod im Leben“- Ein Lesebuch zu einem
verbotenen‘ Thema, 1985, Giessen: Focus
GRESHAKE, G.:
„Tod–und dann ?“, 1990, Freiburg: Herder
KÜBLER-ROSS, E.: „Erfülltes Leben-Würdiges Sterben“, 1993, Gütersloh: Gütersloher
Verl.-Haus Mohn
PÖHLMANN, H. G.: „Tod und Sterben“, 1985, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn
RINPOCHE, S.:
„Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“, 1993, München:
O.W.Barth
SCHEER, K.-D., (HRSG.): „Aspekte des sozialen Todes“, (Niedersächsische Beiträge zur
Sozialpädagogik und Sozialarbeit; Bd. 6), 1989, Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH
SCHERER, G.:
„Das Problem des Todes in der Philosophie“, 1988, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
SMITH, R.:
„Die innere Kunst des Lebens und des Sterbens“- Was wir von
Sterbenden lernen können, 2000, Freiamt: Arbor
WILBER, K.:
„Eros, Kosmos, Logos“, 2001, Frankfurt a. M.: Fischer
WINKLER, E. J.:
„Das Abendländische Totenbuch“, 1996, Hamburg: Corona
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