Geschäftsbericht 2020
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Im Gespräch mit Dr. med. Fabian Tschumi, Infektiologe<br />
«Ehrlich benennen, was<br />
wir wissen – und was wir<br />
nicht wissen»<br />
Dr. med. Fabian Tschumi arbeitete vor der<br />
Pandemie vor allem im Hintergrund. Doch dann<br />
stand der Infektiologe plötzlich im Zentrum. Ein<br />
Gespräch über seine neue Rolle, über Wissen<br />
und Nichtwissen und über seinen Umgang mit<br />
Coronaleugnern und Impfgegnern.<br />
So hatte sich Dr. med. Fabian Tschumi seine Tätigkeit<br />
bestimmt nicht vorgestellt, als er vor rund eineinhalb<br />
Jahren im Spital Bülach anfing. Sein Alltag drehte sich<br />
um die Behandlung und Abklärung von Patienten mit<br />
komplexen Infektionen, um die Überwachung von<br />
Hygienestandards und um Projekte zur Reduktion von<br />
Antibiotikaabgaben. Wegen Corona stand er plötzlich<br />
im Zentrum und musste permanent Rede und Antwort<br />
stehen. Spricht man ihn auf seine Rolle an, winkt<br />
er ab: «Ich habe höchsten Respekt vor allen Mitarbeitenden<br />
in direktem Patientenkontakt. Jeden Tag von<br />
neuem mit Herzblut Patientinnen und Patienten zu<br />
betreuen, wenn es um Leben und Tod geht, das ist<br />
eine grossartige Leistung. Ich habe nur beraten.»<br />
Entscheide mit weitreichenden Folgen<br />
Etwas zu bekämpfen, was erst erforscht wird und<br />
sich der Wissensstand deshalb permanent ändert,<br />
habe ihn vor grosse Herausforderungen gestellt: «So<br />
etwas habe ich in meinem Berufsleben noch nicht<br />
erlebt», sagt Tschumi. Er selbst sieht sich mehr als<br />
Übersetzer. Er diskutiere mit Fachkollegen, ordne<br />
Informationen ein und empfehle daraus Massnahmen.<br />
Daher sei es wichtig gewesen, dass das Spital schnell<br />
eine Taskforce einberufen habe. Der Austausch im<br />
Team sei zentral, damit alle den gleichen Wissensstand<br />
haben. Man müsse ehrlich und transparent benennen,<br />
was man wisse, aber genauso, welche Informationen<br />
noch nicht bekannt seien. Das Ziel war es, gestützt<br />
auf die vorhandenen Informationen, die richtigen<br />
Entscheide zu fällen. Soll man weniger operieren, um<br />
Platz für Covid-19-Patienten zu haben? Wer darf noch<br />
Besuch empfangen? Wo bekommt man dringend<br />
benötigtes Schutzmaterial zu fairen Preisen? Was<br />
passiert, wenn eine ganze Abteilung ausfällt?<br />
Es waren schwierige Entscheidungen, die nicht nur<br />
den medizinischen Bereich, sondern das gesamte<br />
Spital betrafen.<br />
Transparenz der Fakten<br />
Trotz allem Leid, das die Pandemie ausgelöst hat, sieht<br />
Dr. med. Fabian Tschumi auch positive Aspekte. In der<br />
ersten Welle habe er viel mehr Leute in der Natur<br />
angetroffen. «Viele Menschen haben sich zentrale<br />
Lebensfragen gestellt: Welche Verantwortung tragen<br />
wir als Gesellschaft für ältere Menschen? Wie wertvoll<br />
ist ein Menschenleben? Was macht uns glücklicher:<br />
Konsum, Gesundheit oder soziale Kontakte?»<br />
Auf die Frage, wie er als Infektiologe und Arzt mit<br />
Coronaleugnern und Impfgegnern umgehe, reagiert<br />
Tschumi gelassen. Es sei nicht neu, dass manche<br />
Leute Informationen nach anderen Prinzipien interpretierten.<br />
Obwohl er vom Impfen überzeugt sei, masse<br />
er sich nicht an, über andere Menschen zu urteilen.<br />
Entscheide sich jemand gegen das Impfen, dann trage<br />
diese Person selbst das Risiko. Als Arzt versuche er<br />
sein Bestes, um Menschen die bestmögliche Entscheidungsgrundlage<br />
zu bieten. «Meiner Meinung<br />
nach muss eine Gesellschaft kontroverse Einstellungen<br />
aushalten. Ich bin aber froh, dass ich kein Politiker<br />
bin, der sich zwischen der Wirtschaft und Menschenleben<br />
entscheiden muss.»<br />
Den ökologischen Fussabdruck überdenken<br />
Ob nach dieser Pandemie eine nächste drohe? Es<br />
habe schon viele und weitaus grössere Pandemien in<br />
der Menschheitsgeschichte gegeben – wie die Pest<br />
oder die spanische Grippe. Für Tschumi stellt sich<br />
vielmehr die Frage, ob die Pandemie nicht auch mit<br />
unserem Lebensstil zusammenhängt: «Immer mehr<br />
Menschen leben auf engem Raum und haben Kontakt<br />
zu Tieren, die sonst nur in der Wildnis leben. Ob die<br />
nächste Herausforderung in einer Pandemie oder in<br />
den Folgen der Klimaerwärmung liegt, weiss ich nicht.<br />
Ich persönlich verstehe die Coronapandemie als<br />
Fingerzeig, meinen ökologischen Fussabdruck nochmals<br />
genau anzuschauen und zu reduzieren.»