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Credit Suisse bulletin, 2010/02
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28 <strong>Süden</strong> Nord-Süd-Gefälle<br />
«Die Lehrer haben Probleme»<br />
Bemerkung eines hochrangigen chinesischen Politikers, zitiert aus «Capitalism at Bay», in The Economist, 17. Oktober 2008<br />
Der britische Wirtschaftsprofessor Simon J. Evenett über den Kampf um Ideen,<br />
die globale Wirtschaftskrise und die Spaltung zwischen Nord und Süd.<br />
Der Verlust von Singapur an die Japaner im Jahr 1942 wird von vielen<br />
Experten als Beginn des unvermeidlichen Niedergangs des britischen<br />
Empire im Fernen Osten angesehen. Auch der Sieg im Zweiten<br />
Weltkrieg konnte nicht verhindern, dass sich dieser Niedergang<br />
unaufhaltsam fortsetzte; so war die Bedeutung Grossbritanniens<br />
in der Weltpolitik nur ein Vierteljahrhundert später drastisch zurückgegangen.<br />
Die Dominanz des «Nordens» hatte einen ersten Riss<br />
bekommen. Wie schon Ende der 1990er-Jahre die Asienkrise hat<br />
auch die aktuelle schwere Rezession Zweifel an der Glaubwürdigkeit<br />
der gängigen Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik und ihrer Befürworter<br />
aufkommen lassen. Weil diese Empfehlungen aus den westlichen<br />
Industrienationen und den von ihnen dominierten Gremien wie<br />
dem Internationalen Währungsfonds (IWF) kommen, hat die jüngste<br />
Krise eine weitere Folge: Auch die führende Rolle des «Nordens»<br />
in der globalen Wirtschaftspolitik wird zunehmend in Frage gestellt.<br />
Zwar mögen sich Beobachter und Entscheidungsträger aus dem<br />
Norden nicht in jedem Punkt einig sein. Aber es gibt einen Kanon<br />
etablierten Wissens, der die Grundlage der internationalen Wirtschaftspolitik<br />
bildet. Ein Teil dieses Kanons hat schon eine längere Geschichte,<br />
ein anderer ist erst durch die Reaktionen auf die Asienkrise<br />
entstanden. Man könnte die fünf folgenden Grundsätze dazuzählen:<br />
1. Defizitländer sollten die Last der makroökonomischen<br />
Anpassung selbst tragen.<br />
2. Geldpolitik ist mächtig; Fiskalpolitik ist bestenfalls<br />
ineffizient und schlimmstenfalls Verschwendung.<br />
3. Die Regime fester Wechselkurse sind auf lange Sicht<br />
sehr schwierig aufrechtzuerhalten.<br />
4. Industriepolitik funktioniert nicht.<br />
5. Ein offenes Handels- und Finanzsystem steigert<br />
den Wohlstand.<br />
Die Regierungen des Nordens haben diese Ideen weit verbreitet – in<br />
internationalen Foren, in Hilfsprogrammen sowie in regionalen und<br />
multilateralen Entwicklungshilfeorganisationen (die ihre Finanzierung<br />
von nördlichen Regierungen beziehen). Auch in der Debatte über<br />
Fragen der Wirtschaftspolitik sind diese Ideen dominant, und ihre<br />
Wirkung wird häufig noch verstärkt durch Forschungsarbeiten von<br />
Mainstream-Ökonomen, die hauptsächlich an westlichen Universitäten<br />
tätig sind. Wirtschaftliche Vorherrschaft hat also auch eine<br />
intellektuelle Dominanz mit sich gebracht. Die aktuelle Finanz- und<br />
Wirtschaftskrise, die im Jahr 2007 ihren Anfang nahm, hat im Vergleich<br />
zu vorherigen Krisen deutlich mehr Wohlstand und Wirtschaftsleistung<br />
gekostet. Als die Lage wirklich bedrohlich wurde, hat sich<br />
die politische Führung nicht mehr an ihre eigene Lehre gehalten,<br />
nach der alle Macht der Geldpolitik gebührt und Fiskalpolitik nur eine<br />
Ablenkung darstellt. Das jedenfalls legt die Tatsache nahe, dass viele<br />
Regierungen Zuflucht in Konjunkturprogrammen suchten, nachdem<br />
die Nominalzinsen schon fast auf null Prozent gesunken waren und<br />
damit wenig Raum für weitere geldpolitische Massnahmen liessen.<br />
Ausserdem sind es ausgerechnet bestimmte Länder des Nordens,<br />
die seit Kurzem die Ansicht vertreten, dass Volkswirtschaften mit<br />
anhaltend hohen Leistungsbilanzüberschüssen die heimische Nachfrage<br />
fördern und ihr Wachstum weniger stark durch Exporte erzielen<br />
sollten. Das entspricht einer kompletten Kehrtwende gegenüber<br />
der Position, die von den USA seit dem Abkommen von Bretton<br />
Woods im Jahr 1944 vertreten wurde: dass defizitäre Länder die<br />
Lasten der Anpassung selbst tragen müssen. Was auch immer die<br />
Gründe für diesen Schwenk gewesen sein mögen, vielen Beobachtern<br />
kommt er prinzipienlos und opportunistisch vor.<br />
Subventionen und Protektionismus zu vermeiden, war in den<br />
Nachkriegsjahren lange ebenfalls ein Grundsatz der Wirtschaftspolitik,<br />
vor allem in der so genannten Thatcher-Reagan-Ära. Im aktuellen<br />
Abschwung aber waren Subventionen, die gegen kommerzielle<br />
Interessen anderer Länder verstossen, die häufigste Form von<br />
Protektionismus. Schlimmer noch: Trotz gegenteiliger öffentlicher<br />
Bekundungen haben die G-20-Regierungen durchschnittlich jeden<br />
zweiten Tag eine protektionistische Massnahme eingeführt, wie der<br />
unabhängige Beobachtungsdienst für Handelspolitik Global Trade<br />
Alert festgestellt hat.<br />
Obendrein fühlen sich jetzt diejenigen Regierungen in Schwellenländern<br />
bestätigt, die bei der Liberalisierung des Finanzsektors und<br />
der Einführung voller Währungskonvertibilität zurückhaltend waren.<br />
Zwar wiesen vorsichtige Liberalisierungsbefürworter aus dem Norden<br />
darauf hin, dass eine finanzielle Öffnung von effektiven regulatorischen<br />
Reformen begleitet werden muss, doch ihre Warnungen gingen<br />
in der zur Vereinfachung neigenden öffentlichen Debatte unter.<br />
Ausserdem sahen wichtige Akteure aus der Privatwirtschaft wenig<br />
Wert in zusätzlicher Regulierung, und in Abwesenheiten eines aktuellen<br />
Finanzschocks fiel es ihnen leichter, dagegen zu argumentieren.<br />
Viele Regierungen des <strong>Süden</strong>s sahen das Verlangen nördlicher Regierungen<br />
nach besserem Zugang zu ihren Finanzmärkten als besonders<br />
egoistisch und unklug an. Was lassen diese Entwicklungen<br />
erwarten? Wird der Einfluss der wichtigen multilateralen Institutionen<br />
<strong>bull</strong>etin 2/<strong>10</strong> Credit Suisse