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Udo Schnelle: Einführung in die Evangelische Theologie Leseprobe

Dieses Buch des international anerkannten Exegeten Udo Schnelle führt in die Grundfragen, die Grundlagen und in die Fächer der Evangelischen Theologie ein: Warum Theologie an der Universität? Weshalb Theologie und nicht Religion? Welche Bedeutung hat die Bibel? Was verbindet die einzelnen Fächer der Theologie und gibt es ein gemeinsames Zentrum? Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage nach dem Ort und der Leistungsfähigkeit von Theologie im Kontext neuzeitlichen Denkens. Es zeigt sich, dass Vernunft sowie Offenbarung, Glaube und Mythos keine Gegensätze darstellen, sondern unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit erfassen.

Dieses Buch des international anerkannten Exegeten Udo Schnelle führt in die Grundfragen, die Grundlagen und in die Fächer der Evangelischen Theologie ein: Warum Theologie an der Universität? Weshalb Theologie und nicht Religion? Welche Bedeutung hat die Bibel? Was verbindet die einzelnen Fächer der Theologie und gibt es ein gemeinsames Zentrum? Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage nach dem Ort und der Leistungsfähigkeit von Theologie im Kontext neuzeitlichen Denkens. Es zeigt sich, dass Vernunft sowie Offenbarung, Glaube und Mythos keine Gegensätze darstellen, sondern unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit erfassen.

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<strong>Udo</strong> <strong>Schnelle</strong>, Dr. theol., Jahrgang<br />

1952, stu<strong>die</strong>rte <strong>Evangelische</strong> <strong>Theologie</strong><br />

<strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen. Er war von<br />

1984 bis 1986 Geme<strong>in</strong>depastor <strong>in</strong><br />

Gieboldehausen, von 1986–1992<br />

Professor für Neues Testament <strong>in</strong><br />

Erlangen und von 1992 bis 2017 <strong>in</strong><br />

Halle. Er ist Autor zahlreicher<br />

Lehrbücher zur Exegese und <strong>Theologie</strong><br />

des Neuen Testaments so -<br />

wie zur Ge schichte des frühen<br />

Christentums.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet <strong>die</strong>se Publikation <strong>in</strong> der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

s<strong>in</strong>d im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2021 by <strong>Evangelische</strong> Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />

Pr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> Germany<br />

Das Werk e<strong>in</strong>schließlich aller se<strong>in</strong>er Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt <strong>in</strong>sbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>speicherung<br />

und Verarbeitung <strong>in</strong> elektronischen Systemen.<br />

Das Werk wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover und Layout: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Satz: ARW-Satz, Leipzig<br />

Druck und B<strong>in</strong>den: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-06873-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-06874-6<br />

www.eva-leipzig.de


Inhalt<br />

1 Die Stellung der <strong>Theologie</strong><br />

<strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

1.1 Der Mensch als deutendes Wesen ..................................................... 9<br />

1.2 S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft .............................................................. 13<br />

1.3 S<strong>in</strong>n und Erzählung ............................................................................ 19<br />

1.4 Der Glaube als Gottes- und Lebenswissen ..................................... 21<br />

1.5 <strong>Theologie</strong> an der Universität ............................................................. 25<br />

2 begriffe:<br />

<strong>Theologie</strong> – evangelisch – Religion<br />

2.1 Der Begriff <strong>Theologie</strong> und se<strong>in</strong>e Entstehung ................................. 31<br />

2.2 Warum evangelische <strong>Theologie</strong>? ....................................................... 36<br />

2.3 Warum <strong>Theologie</strong> und nicht Religion ? ........................................... 39<br />

3 Die Grundlagen: Die Schrift als<br />

lebendiges Zeugnis des Wortes Gottes<br />

3.1 Begriffsbestimmung: Bibel, Schrift, Evangelium, Wort Gottes 52<br />

3.2 Was ist <strong>die</strong> Schrift? Modelle der Auslegungsgeschichte .............. 58<br />

3.3 Was leistet das Historische und was nicht?..................................... 93<br />

3.4 Die Schrift als lebendiges Zeugnis des Wortes Gottes .................. 107<br />

3.5 Das wirksame Wort des Evangeliums .............................................. 113<br />

4 Die Gegenstände<br />

der evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

4.1 Der e<strong>in</strong>e Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist .......................... 125<br />

4.2 Die Welt als Schöpfung ....................................................................... 149<br />

4.3 Der Mensch ............................................................................................ 154<br />

4.4 Die Geme<strong>in</strong>schaft ................................................................................. 163<br />

4.5 Zeit und Geschichte ............................................................................. 172<br />

4.6 Der Glaube ............................................................................................. 188


8<br />

Inhalt<br />

4.7 Die Sünde, das Böse und <strong>die</strong> Gerechtigkeit ..................................... 196<br />

4.8 Die Freiheit ............................................................................................ 210<br />

4.9 Das Handeln .......................................................................................... 220<br />

4.10 Die Hoffnung ........................................................................................ 230<br />

5 Die Diszipl<strong>in</strong>en der evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

und ihre Methodik<br />

5.1 Altes Testament .................................................................................... 242<br />

5.2 Neues Testament ................................................................................. 261<br />

5.3 Kirchengeschichte ................................................................................ 278<br />

5.4 Systematische <strong>Theologie</strong> .................................................................... 293<br />

5.5 Praktische <strong>Theologie</strong>/Religionspädagogik .................................... 310<br />

5.6 Religionswissenschaft/Interkulturelle <strong>Theologie</strong> ....................... 325<br />

5.7 Die Vielfalt der Diszipl<strong>in</strong>en und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit der <strong>Theologie</strong> ...... 340<br />

6 <strong>Evangelische</strong> <strong>Theologie</strong><br />

und das Denken der Moderne<br />

6.1 Die Transformationen des Denkens <strong>in</strong> der Neuzeit ................... 351<br />

6.2 Vernunft, Offenbarung, Mythos und Glaube ............................... 370<br />

6.3 Die Teilhabe am Schöpferhandeln Gottes als Zentrum<br />

evangelischer <strong>Theologie</strong> ..................................................................... 392<br />

7 Anhang<br />

Literatur .......................................................................................................... 423<br />

Register<br />

Namen ................................................................................................... 429<br />

Sachen ..................................................................................................... 437<br />

Stellen ..................................................................................................... 439


1.<br />

Die Stellung der <strong>Theologie</strong><br />

<strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

Wie fügt sich <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> modernen Wissenschaften e<strong>in</strong>? Ist sie<br />

wirklich <strong>die</strong> Außenseiter<strong>in</strong>, für <strong>die</strong> sie <strong>die</strong> meisten heute halten; deren<br />

Platz an der Universität zwar historisch zu erklären, aber nicht mehr<br />

sachlich zu rechtfertigen ist? Über <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong>se Frage entscheidet,<br />

welcher Zugang zur Wirklichkeit gewählt wird und welchen Wissenschaftsbegriff<br />

man daraus ableitet. Es wird sich zeigen, dass nicht<br />

nur <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> über das vor Augen liegende h<strong>in</strong>ausgeht, sondern jede<br />

Form menschlichen Lebens und jede Art von Wissenschaft von Deutungen<br />

und Voraussetzungen leben, <strong>die</strong> sie selbst nicht herstellen und verbürgen<br />

können.<br />

1.1 Der Mensch als deutendes Wesen<br />

Der Mensch ist e<strong>in</strong> deutendes Wesen. 2 Er fragt nach sich selbst, seitdem<br />

es ihn (im modernen S<strong>in</strong>n) gibt, denn das Bild des Menschen von sich<br />

selbst war und ist bis heute Grundlage se<strong>in</strong>es Selbstverständnisses. Die<br />

Frage des Menschen nach sich selbst ist <strong>die</strong> Quelle der Kultur, aller Religion<br />

und jeder Philosophie; der Ursprung des Denkens und der Ausgangspunkt<br />

allen Deutens. Der Mensch ist auf Selbst- und Weltdeutung<br />

angewiesen, um se<strong>in</strong> Erleben, se<strong>in</strong>e Erfahrungen, sich selbst und <strong>die</strong><br />

anderen verstehen zu können und so Selbst- und Weltgewissheit zu<br />

2 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, 1: „Das von nachdenkenden Menschen empfundene<br />

Bedürfnis nach e<strong>in</strong>er Deutung des eigenen menschlichen Dase<strong>in</strong>s ist ke<strong>in</strong><br />

bloß theoretisches Bedürfnis. Je nach den Entscheidungen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e solche Deutung<br />

enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Geschöpf<br />

Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird e<strong>in</strong>en deutlichen Unterschied <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen; man wird <strong>in</strong> beiden Fällen<br />

auch <strong>in</strong> sich sehr verschiedene Befehle hören.“


10<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

erlangen. Jeder Wirklichkeitszugang des Menschen hat somit pr<strong>in</strong>zipiell<br />

deutenden Charakter; er ist nicht e<strong>in</strong>fach Wirklichkeitsabbildung,<br />

sondern Interpretationsleistung des erkennenden Subjekts, das se<strong>in</strong>e<br />

eigene Lebensgeschichte immer mit- und e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. 3 H<strong>in</strong>zu kommt <strong>die</strong><br />

immer stärker werdende mediale Vermittlung und Formung von Wirklichkeit.<br />

Jeder Mensch nimmt <strong>die</strong> Welt <strong>in</strong> äußeren und <strong>in</strong>neren Bildern<br />

wahr, <strong>die</strong> se<strong>in</strong> Verstehen und se<strong>in</strong>en Standort bestimmen. Der Mensch<br />

denkt und redet nicht nur von Gott <strong>in</strong> Bildern, sondern generell <strong>in</strong> Bildern!<br />

4 Bilder s<strong>in</strong>d das Tor zur Wahrnehmung und rufen ihre eigene<br />

Wirklichkeit hervor, nämlich <strong>die</strong> des Sehenden und damit zugleich Deutenden,<br />

der immer auch gleichzeitig durch all <strong>die</strong>se Prozesse gedeutet<br />

wird. Deuten ist unausweichlich e<strong>in</strong> subjektiver, aber nicht subjektivistischer,<br />

willkürlicher Vorgang, sondern immer an allgeme<strong>in</strong>e Realitätsvorgaben,<br />

an Kommunizierbarkeit (Logik, Sprache, Kritik) und <strong>die</strong> kulturellen<br />

Standards e<strong>in</strong>er Gesellschaft gebunden. Das Leben muss <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

mannigfaltigen Bezügen gedeutet werden. Wirklichkeit ist nicht<br />

jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, <strong>die</strong> das Geschehene<br />

<strong>in</strong>nerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm <strong>in</strong> unterschiedlicher<br />

Weise Bedeutung zuschreiben.<br />

Deutung und S<strong>in</strong>n<br />

als anthropologische Grundvollzüge<br />

Diese Zuschreibungsprozesse s<strong>in</strong>d stets auch S<strong>in</strong>nbildungen, weil sie als<br />

Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige<br />

Orientierung zielen. Mit dem Deutungsbegriff ist der S<strong>in</strong>nbegriff aufs<br />

3 Zum Deutungsbegriff vgl. Jörg Lauster, Religion als Lebensdeutung, 9–30; vgl.<br />

ferner <strong>Udo</strong> <strong>Schnelle</strong>, Offenbarung und/oder Erkenntnis der Vernunft? Zur exegetischen<br />

und hermeneutischen Begründung von Glaubenswelten, <strong>in</strong>: Christof<br />

Landmesser/Andreas Kle<strong>in</strong> (Hrsg.), Offenbarung – verstehen oder erleben?, Neukirchen<br />

2012, 119–137.<br />

4 Vgl. Malte Dom<strong>in</strong>ik Krüger, Ist der Protestantismus e<strong>in</strong>e denkende Religion?,<br />

<strong>in</strong>: Klaus Fitschen u. a. (Hrsg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation I, Leipzig<br />

2018, (213–221) 215: „Der Mensch als Sprachwesen ist auf e<strong>in</strong> grundlegendes Bildverstehen<br />

angewiesen, das äußere Bilder, Symbole und Zeichen e<strong>in</strong>schließt und e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>bildungskraft erfordert. Freilich darf letztere nicht gegen <strong>die</strong> Fähigkeit,<br />

mit äußeren Bildern umzugehen, ausgespielt werden, sondern ist vielmehr dar<strong>in</strong><br />

verankert.“ Krüger betont zu Recht, dass damit der <strong>in</strong> der neuzeitlichen Reli-


1.1 Der Mensch als deutendes Wesen 11<br />

Engste verbunden, denn S<strong>in</strong>n ist Deutungskraft zur Orientierung<br />

<strong>in</strong>nerhalb der Lebenszusammenhänge. 5 Menschliches Se<strong>in</strong> und Handeln<br />

zeichnet sich durch S<strong>in</strong>n aus. 6 S<strong>in</strong>n ist dem menschlichen Se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geprägt<br />

und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, E<strong>in</strong>sichten, Denkprozessen<br />

und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong>haltlich e<strong>in</strong>e zeitübergreifende Perspektive für zentrale<br />

Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und <strong>in</strong> der<br />

Lage s<strong>in</strong>d, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen<br />

zu entwickeln. Es ist dem Menschen e<strong>in</strong>geschrieben, nach S<strong>in</strong>n zu<br />

fragen, denn S<strong>in</strong>n vermittelt <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heit mit der Welt und mit<br />

sich selbst. Unwillkürlich brechen <strong>in</strong> jedem menschlichen Leben grundlegende<br />

Fragen auf: Wozu b<strong>in</strong> ich da, wozu lebe ich? Hat me<strong>in</strong> Leben, hat<br />

das Leben e<strong>in</strong> Ziel und e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n? Worauf kommt es an? Woran soll ich<br />

mich halten? Worauf kann ich mich verlassen? Wer gibt Antworten? Der<br />

Mensch ist gewissermaßen immer auch e<strong>in</strong>e Frage nach sich selbst und<br />

ohne <strong>die</strong> Suche nach Antworten kann er nicht leben. Es lässt sich ke<strong>in</strong>e<br />

menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf S<strong>in</strong>n zu rekurrieren. Es<br />

macht S<strong>in</strong>n, S<strong>in</strong>n als Grundform menschlichen Dase<strong>in</strong>s zu verstehen.“ 7<br />

Zudem wird der Mensch immer schon <strong>in</strong> S<strong>in</strong>nwelten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren. 8<br />

Erfolgreiche und historisch bewährte S<strong>in</strong>nbildungen gehen wiederum<br />

<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nstiftungen über, d. h. <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionelle S<strong>in</strong>nträger und S<strong>in</strong>nverwalter<br />

(<strong>in</strong> der Gegenwart: Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Rechtssysteme).<br />

gionskritik ständig wiederholte Projektionsvorwurf zu relativieren ist, denn <strong>die</strong><br />

Bildhaftigkeit menschlichen Denkens und Redens gilt nicht nur im H<strong>in</strong>blick auf<br />

Gott, sondern für alle Bereiche der Wirklichkeit.<br />

5 Zum geschichtstheoretischen S<strong>in</strong>nbegriff vgl. Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsbewußtse<strong>in</strong>,<br />

Köln/Weimar 2001; Ders., Zerbrechende Zeit. Über den S<strong>in</strong>n der<br />

Geschichte, Köln/Weimar 2001.<br />

6 Vgl. dazu grundlegend Alfred Schütz, Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau der sozialen Welt,<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 1974.<br />

7 Günter Dux, Wie der S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt kam und was aus ihm wurde, <strong>in</strong>: Klaus<br />

E. Müller/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische S<strong>in</strong>nbildung, (195–217) 195.<br />

8 Vgl. Thomas Luckmann, Religion – Gesellschaft – Transzendenz, <strong>in</strong>: Hans-Joachim<br />

Höhn (Hrsg.), Krise der Immanenz, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1996, (112–127) 114:<br />

„S<strong>in</strong>ntraditionen transzen<strong>die</strong>ren <strong>die</strong> Nur-Natürlichkeit des Neugeborenen.“ Dieser<br />

Vorgang kann auch im grundsätzlich anthropologischen S<strong>in</strong>n mit dem Begriff der<br />

,Religion‘ bezeichnet werden, der allerd<strong>in</strong>gs von den konkreten historischen Aus-


12<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

S<strong>in</strong>n und Transzendenz<br />

Indem der Mensch deutet und nach S<strong>in</strong>n fragt, geht er über das h<strong>in</strong>aus,<br />

was ist. Jedes menschliche Leben ist durch Transzen<strong>die</strong>rungen, d. h.<br />

durch Überschreitungen (transcendere) der normalen Erfahrung ge -<br />

kennzeichnet. 9 Jeder Mensch versucht e<strong>in</strong>e Vorstellung vom Ganzen zu<br />

erlangen, um so im Vertrauen zur Welt und zu sich selbst zu bleiben. E<strong>in</strong>e<br />

s<strong>in</strong>nhafte Erfahrung der Welt ist <strong>die</strong> Voraussetzung für gel<strong>in</strong>gendes<br />

Leben. Dabei überschreitet der Mensch notwendigerweise <strong>die</strong> Grenzen<br />

der Alltagserfahrung und allgeme<strong>in</strong> anerkannten Rationalität; er<br />

nimmt Zuschreibungen vor und vergewissert sich so des Grundes se<strong>in</strong>er<br />

Existenz und se<strong>in</strong>er Welt. Diese Zuschreibungen können unterschiedlich<br />

ausfallen und verschiedene Begriffe umfassen: das Ganze,<br />

Horizontale<br />

Transzendenz<br />

erste Ursache, das Schicksal, der Zufall, das<br />

Leben, das Göttliche, <strong>die</strong> Wirklichkeit oder<br />

Gott. Diese Form e<strong>in</strong>er horizontalen Transzendenz<br />

ist jedem Menschen eigen; sie er -<br />

wächst aus dem, was über den Menschen h<strong>in</strong>ausweist und was er benötigt,<br />

um leben zu können. Ke<strong>in</strong> Mensch ist <strong>in</strong> der Lage, auf Dauer e<strong>in</strong>e<br />

transzendente Obdachlosigkeit zu ertragen, niemand bezieht sich nur<br />

auf das Faktische! Deshalb ist <strong>die</strong> Überschreitung des Faktischen e<strong>in</strong><br />

ganz natürlicher Lebensvorgang, 10 der von allen Menschen <strong>in</strong> allen Kul-<br />

prägungen von Religionen als Konfessionen zu unterscheiden ist; vgl. Ders., a. a. O.,<br />

113: „Ich gehe davon aus, daß das menschliche Leben im Unterschied zu den Lebensformen<br />

anderer Gattungen durch e<strong>in</strong>e grundlegende Religiosität gekennzeichnet<br />

ist, nämlich durch E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Individuen <strong>in</strong> s<strong>in</strong>nhafte geschichtliche Welten.“<br />

9 Deshalb gehört der Begriff der ,Transzendenz‘ auch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Erkenntnistheorie:<br />

„,Transzendenz‘ ist ke<strong>in</strong>e Region im Jenseits aller Regionen; der Begriff zeigt vielmehr<br />

nur <strong>die</strong> Bemühung an, e<strong>in</strong>e Vorstellung von dem Ganzen zu gew<strong>in</strong>nen, zu<br />

dem man selbst gehört und mit dem man, weil man als Person selbst e<strong>in</strong> nicht<br />

gänzlich fassbares – und dennoch selbstbewusst zum Ausdruck gebrachtes – Ganzes<br />

ist, auf e<strong>in</strong>em ursprünglich vertrauten Fuße steht.“ (Volker Gerhardt, Der<br />

S<strong>in</strong>n des S<strong>in</strong>nes, 48)<br />

10 Vgl. Jörn Rüsen, Die roten Fäden, 112: „Menschse<strong>in</strong> zeichnet sich grundsätzlich<br />

durch Bestimmungsgrößen der Weltlichkeit (In-der-Welt-se<strong>in</strong>) aus, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Transzen<strong>die</strong>rung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e überweltliche S<strong>in</strong>ndimension darlegen, ja geradezu fordern. Es<br />

handelt sich um <strong>die</strong> anthropologischen Universalien der Fragilität, Fallibilität, Vulnerabilität<br />

und moralischen Ambivalenz.“


1.2 S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft 13<br />

turen <strong>in</strong> allen Lebensbereichen jederzeit vollzogen wird. Der Mensch<br />

lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>die</strong> ihm letztlich entzogen ist, <strong>die</strong> vor ihm war und<br />

nach ihm se<strong>in</strong> wird. 11 Er kann <strong>die</strong> Welt erfahren, nicht aber mit ihr verschmelzen.<br />

Jede Erfahrung verweist <strong>in</strong> ihrem Kern auf Abwesendes und<br />

Fremdartiges, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Miterfahrung von Transzendenz hervorrufen. Zu<br />

den unsere Wirklichkeit übersteigenden Transzendenzen gehört (neben<br />

dem Schlaf und Krisen) vor allem der Tod, dessen Realität unbezweifelbar,<br />

aber dennoch unerfahrbar ist. 12<br />

1.2 S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft<br />

Nicht nur jedes e<strong>in</strong>zelne menschliche Leben hat e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nüberschuss,<br />

der über das Faktische h<strong>in</strong>ausgeht, sondern alle Kollektivphänomene<br />

leben von externen S<strong>in</strong>nzuschreibungen. 13 Jede Religion, jede Philosophie,<br />

14 aber auch jede politische Idee und alle Formen von Wissenschaft<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Deutungs- und Erschließungsvorgang, der das Leben erklären<br />

und s<strong>in</strong>nvoll gestalten soll. Dieser konstruktive Zug des Erkennens trifft<br />

auch für <strong>die</strong> Naturwissenschaften zu. Ihre großen Narrative werden<br />

ebenfalls von Konstruktivität und Kontextualität bestimmt und ihre<br />

Fabrikation von Erkenntnis ist alles andere als voraussetzungslos. Wissenschaft<br />

ist immer partikular und perspektivisch; sie erkennt nur <strong>die</strong><br />

Gegenstände, auf <strong>die</strong> sich ihr Blick richtet. Ihre Ergebnisse hängen von<br />

den gestellten Fragen und angewandten Methoden ab. Die Naturwissenschaften<br />

s<strong>in</strong>d immer e<strong>in</strong>e nach bestimmten Regeln <strong>in</strong>terpretierte<br />

Rationalität, <strong>die</strong> <strong>in</strong>zwischen umfassend <strong>in</strong> den Sog externer politischer<br />

11 Vgl. hierzu <strong>die</strong> Überlegungen von Alfred Schütz/Thomas Luckmann,<br />

Strukturen der Lebenswelt II, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 3 1994, 139 ff.<br />

12 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1991, 167 f.,<br />

unterscheidet zwischen ,kle<strong>in</strong>en‘ (Alltagserfahrungen) und ,großen‘ Transzendenzen<br />

(vor allem: Schlaf, Tod).<br />

13 Zu den folgenden Überlegungen vgl. auch Kap. 6.2: Vernunft, Offenbarung, Mythos<br />

und Glaube.<br />

14 Vgl. Jean Grond<strong>in</strong>, Die Philosophie der Religion, Tüb<strong>in</strong>gen 2012, der betont, dass<br />

jede philosophische Suche nach S<strong>in</strong>n, Weisheit und Vernunft jeweils Vorleistungen<br />

der Religion voraussetzt.


14<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

und ökonomischer Interessen geraten ist. 15 Zumal mit den Erkenntnisgew<strong>in</strong>nen<br />

der Moderne massive Erkenntnisverluste auf vielen Gebieten<br />

e<strong>in</strong>hergehen, deren Folgen sich zumeist erst sehr viel später erschließen.<br />

Es gibt immer mehr Wissen, aber immer weniger Gewissheiten! Obwohl<br />

sich <strong>die</strong> Naturwissenschaften <strong>in</strong> der Neuzeit alle Elemente der Wahrheit<br />

selbst zugeschrieben haben, s<strong>in</strong>d sie nicht ,objektiv‘ im Gegensatz zu<br />

,subjektiven‘ Wirklichkeiten wie Liebe, Freundschaft, Freiheit, Hoffnung<br />

oder Glaube, sondern e<strong>in</strong> bestimmter und zugleich sehr begrenzter<br />

Wirklichkeitszugang, bei dem im Wesentlichen <strong>die</strong> Setzungen, Fragen<br />

und Methoden <strong>die</strong> Antworten bestimmen, <strong>die</strong> Geltung von der<br />

selbst aufgestellten Axiomatik abhängt. „Diese Axiome def<strong>in</strong>ieren <strong>die</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>e Art und Weise, mit der <strong>die</strong> Wirklichkeit wissenschaftlich<br />

betrachtet wird. Sie stellen den Rahmen dar, <strong>in</strong> dem sich alles wissenschaftliche<br />

Behaupten und empirische Prüfen abspielt; sie s<strong>in</strong>d das<br />

Bezugssystem, <strong>in</strong> dem alles Wirkliche aufgefaßt, gedeutet und verarbeitet<br />

wird; sie bestimmen <strong>die</strong> Fragen, <strong>die</strong> man an das Wirkliche stellt, und<br />

<strong>die</strong>se Fragen bestimmen daher <strong>in</strong> gewissem S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong> Antworten mit,<br />

<strong>die</strong> es uns darauf gibt; mit ihnen organisieren wir sozusagen <strong>die</strong> wissenschaftliche<br />

Erfahrung.“ 16 Dies gilt natürlich auch für <strong>die</strong> Ethik und das<br />

Recht, wie z. B. <strong>die</strong> Grundrechte der deutschen Verfassung (1949) oder <strong>die</strong><br />

Allgeme<strong>in</strong>e Erklärung der Menschenrechte der Vere<strong>in</strong>ten Nationen<br />

(1948) verdeutlichen. Sie s<strong>in</strong>d axiomatische Setzungen angesichts der<br />

Erfahrung totalitärer Herrschaftssysteme und verdanken sich wesentlich<br />

christlichen Wertvorstellungen. 17 Denkbar wären auch ganz andere<br />

Ansätze, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> Rechte des Individuums betonen, sondern den<br />

Vorrang e<strong>in</strong>es Landes, e<strong>in</strong>er politischen Partei, e<strong>in</strong>er Religion oder e<strong>in</strong>er<br />

Rasse. 18<br />

15 Vgl. dazu Kar<strong>in</strong> Knorr-Cet<strong>in</strong>a, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie<br />

der Naturwissenschaft, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1991.<br />

16 Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 250 (Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al).<br />

17 Vgl. dazu Jörg Baur (Hrsg.), Zum Thema Menschenrechte, Stuttgart 1982; Peter<br />

G. Kirchschläger, Wie können Menschenrechte begründet werden? E<strong>in</strong> für<br />

religiöse und säkulare Menschenrechtskonzeptionen anschlussfähiger Ansatz,<br />

Münster 2013.<br />

18 Vgl. Jürgen Habermas, Auch e<strong>in</strong>e Geschichte der Philosophie II, 791: „Werte s<strong>in</strong>d<br />

grundsätzlich <strong>in</strong>terkulturell umstritten, sie können jedenfalls nicht mit Gründen,<br />

<strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong>e Geltung beanspruchen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e transitive Ordnung gebracht werden.“


1.2 S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft 15<br />

Wirklichkeit als Modellkategorie<br />

Es hat sich gezeigt, wie sehr Wirklichkeit (und ihre möglichen Formungen)<br />

immer e<strong>in</strong>e Modellkategorie ist, <strong>die</strong> zudem als Ganzes nicht erfasst<br />

werden kann. Weder <strong>die</strong> Welt noch das Universum kann von jemandem<br />

wirklich gedacht werden. 19 Man setzt vielmehr aus der je persönlichen<br />

Perspektive immer schon voraus, dass es <strong>die</strong> Wirklichkeit als Ganzes tatsächlich<br />

gibt. Dabei ist jedes Bild von Wirklichkeit zudem kontextuell<br />

bed<strong>in</strong>gt, weil es von den allgeme<strong>in</strong> gültigen Wirklichkeitsvorgaben der<br />

jeweiligen Zeit abhängt. Sie s<strong>in</strong>d wiederum kulturell geprägt und ständig<br />

im Wandel. Unter <strong>die</strong>sen Bed<strong>in</strong>gungen kann Wirklichkeit ohne e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nerweltliches Verstehen übersteigende Organisation nicht verstanden<br />

werden. Sie würde <strong>in</strong> unzählige empirische Daten zerfallen, von<br />

denen unmöglich zu sagen wäre, wie sie zu verknüpfen s<strong>in</strong>d und welchen<br />

S<strong>in</strong>n sie ergeben. Erst e<strong>in</strong>e auf etwas Übergreifendes bezogene Vorstellung/Erzählung<br />

macht verständlich, was als bloßes Faktum Ratlosigkeit<br />

auslösen würde. Deshalb muss das Denken ständig transzen<strong>die</strong>ren<br />

und ist auf Voraussetzungen angewiesen, <strong>die</strong> es selbst nicht gewähren<br />

kann; es erachtet etwas als notwendig, was ihm letztlich entzogen<br />

ist und was es auch nicht nachweisen kann.<br />

Wirklichkeit und Mythos<br />

Die klassische Form <strong>die</strong>ses Denkens ist <strong>die</strong> mythologische Redeweise,<br />

denn mit e<strong>in</strong>em Mythos wird <strong>die</strong> Geschichte für etwas geöffnet, was re<strong>in</strong><br />

geschichtlich nicht mehr darstellbar ist. Der Mythos ist e<strong>in</strong> kulturelles<br />

Deutungssystem, das auf S<strong>in</strong>ngebung von Welt, Geschichte und Menschenleben<br />

zielt, zur Identitätsbildung führt und e<strong>in</strong>e handlungsleitende<br />

Funktion gew<strong>in</strong>nt. 20 Medial werden Mythen zumeist als Erzählung<br />

19 E<strong>in</strong>e klassische Antwort auf <strong>die</strong> Frage nach Wirklichkeit gab Ludwig Wittgenste<strong>in</strong>,<br />

Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 11 1976, 11: „Die Welt ist<br />

alles, was der Fall ist.“ Wer aber kann sagen, ,was der Fall ist‘? Antwort: Niemand!<br />

Zur aktuellen Diskussion vgl. Markus Gabriel/Malte Dom<strong>in</strong>ik Krüger,<br />

Was ist Wirklichkeit?, Tüb<strong>in</strong>gen 2015.<br />

20 Neben dem erwähnten Band von Kurt Hübner vgl. zum Mythos-Begriff: Roland<br />

Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 23 2003 (= 1957); Leszek Kolakowski,<br />

Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973; Hans He<strong>in</strong>rich


16<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

präsentiert; sie erläutern <strong>in</strong> narrativer Form das, was Welt und Leben<br />

grundlegend bestimmt und stellen dabei <strong>die</strong> Symbole bereit, <strong>die</strong> für jede<br />

Aneignung unentbehrlich s<strong>in</strong>d. Mythisches Reden und Denken 21 will<br />

<strong>die</strong> Wirklichkeit erklären und ist dadurch gekennzeichnet, dass etwas <strong>in</strong><br />

der Geschichte ist, aber nicht <strong>in</strong> ihr aufgeht und <strong>in</strong> ihr nicht wirklich<br />

realisiert werden kann; wenn etwas e<strong>in</strong>en Verweischarakter auf e<strong>in</strong>e<br />

höhere Ebene hat, sei es e<strong>in</strong>e notwendige Idee oder Vorstellung, sei es e<strong>in</strong><br />

Gott. Mythisches Denken fragt wie andere Wissenschaften nach der<br />

Wirklichkeit, 22 grenzt <strong>die</strong>se Wirklichkeit aber nicht von vornhere<strong>in</strong> e<strong>in</strong>.<br />

Mythisch ist somit etwas, was <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geschichte h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ragt und sie<br />

zugleich überragt. Diese Ebene ist nicht nur religiösem Denken eigen,<br />

sondern auch Modellbegriffen menschlicher Existenz wie Wirklichkeit,<br />

Freiheit, Wahrheit oder Gerechtigkeit. All <strong>die</strong>se Begriffe s<strong>in</strong>d notwendig<br />

für das Verstehen des Lebens und der Welt, lassen sich aber zugleich <strong>in</strong><br />

letzter Konsequenz <strong>in</strong>nerweltlich nicht demonstrieren. Sie leben von<br />

menschlicher Zuschreibung, s<strong>in</strong>d auf Hoffnung h<strong>in</strong> angelegt und überschreiten<br />

<strong>in</strong> jedem Fall das Faktische! Mythisches Reden und Denken<br />

bezieht sich ke<strong>in</strong>eswegs nur auf Götter, sondern: „Mythisches Denken<br />

ist nicht vergangen, sondern uns jederzeit eigen.“ 23 Mythisches Denken<br />

und mythische Motive f<strong>in</strong>den sich fast überall: <strong>in</strong> der Politik, im Recht,<br />

<strong>in</strong> der Kunst, der Musik und der Literatur. Die Moderne ist durchzogen<br />

Schmid (Hrsg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988; Gerhard Sell<strong>in</strong>,<br />

Art. Mythos, RGG 4 5, Tüb<strong>in</strong>gen 2002, 1697–1699; Annette Zgoll/Re<strong>in</strong>hard G.<br />

Kratz (Hrsg.), Arbeit am Mythos, Tüb<strong>in</strong>gen 2013.<br />

21 Das griechische ὁμῦϑος me<strong>in</strong>t nichts anderes als öffentliche Rede, Erzählung,<br />

mündlicher Vortrag (vgl. Homer, Odyssee 3,94; 4,324); das Verb μυθέομαι bedeutet<br />

,reden, sprechen, sagen‘; vgl. Franz Passow, Handwörterbuch der Griechischen<br />

Sprache II/1, Leipzig 5 1852, 290 f. E<strong>in</strong>e besondere Form ist dann <strong>die</strong> Rede bzw. Erzählung<br />

von Gott bzw. den Göttern. Zur Begriffsgeschichte vgl. Axel Horstmann,<br />

Der Mythosbegriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, ABG 23 (1979), 197–<br />

245.<br />

22 Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 121, der zum mythischen und<br />

wissenschaftlichen Denken feststellt: „Natürlich gehen beide Denkweisen nicht <strong>die</strong><br />

gleichen Wege. Sie sche<strong>in</strong>en allerd<strong>in</strong>gs nach der gleichen Sache zu suchen: nach<br />

Wirklichkeit.“<br />

23 Karl Jaspers, Wahrheit und Unheil der Bultmannschen Entmythologisierung,<br />

<strong>in</strong>: Karl Jaspers/Rudolf Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München<br />

1981 (= 1954), (29–80) 42.


1.2 S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft 17<br />

von mythischen Erzählungen. Wir sprechen vom Mythos der Neuzeit<br />

(unsere Epoche ist allen anderen überlegen), vom Mythos des Fortschritts/der<br />

Moderne (<strong>die</strong> technische Vernunft wird alle Probleme<br />

lösen), vom Mythos historischer Ereignisse (Antike: Alexander d. Gr./<br />

Gegenwart: 9/11) oder vom Mythos des Erfolges e<strong>in</strong>er Sache/e<strong>in</strong>es<br />

Gegenstandes/e<strong>in</strong>es Ortes. Es handelt sich um Vorstellungen, <strong>die</strong> wir<br />

zum Verständnis und zur Organisation unserer Wirklichkeit benötigen,<br />

<strong>die</strong> aber unserem Zugriff letztlich entzogen s<strong>in</strong>d und sich e<strong>in</strong>stellen<br />

(oder nicht). Der Mythos als e<strong>in</strong>e klassische Deutungskategorie überschreitet<br />

<strong>die</strong> unmittelbare Erfahrung und öffnet durch se<strong>in</strong>e über<strong>in</strong>dividuelle<br />

Perspektive das Seiende dem Verstehen; er entwirft e<strong>in</strong> notwendiges<br />

Bild von Gegenwart und Zukunft, ordnet e<strong>in</strong> und formuliert so<br />

das Selbst- und Weltverständnis e<strong>in</strong>er Gruppe.<br />

Wissen und Glaube<br />

So wie Mythos und Rationalität ke<strong>in</strong>e Gegensätze s<strong>in</strong>d, ist auch der vielfach<br />

behauptete Gegensatz zwischen Vernunft und Glaube, Glauben<br />

und Wissen nur e<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>barer! Wissen setzt immer e<strong>in</strong> Vertrauen <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> eigenen Erfahrungen und e<strong>in</strong>en Glauben an <strong>die</strong> Tragfähigkeit der<br />

eigenen Lebenswelt voraus, <strong>die</strong> sich aus dem Wissen selbst nicht ableiten,<br />

sondern dessen Grundlage s<strong>in</strong>d. 24 Um leben zu können, muss ich<br />

e<strong>in</strong> Grundvertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nhaftigkeit me<strong>in</strong>er Existenz und der Welt<br />

<strong>in</strong>sgesamt haben, das me<strong>in</strong>en Horizont weit übersteigt und sich nicht<br />

e<strong>in</strong>fach aus dem Faktischen ergibt. 25 Dieser Glaube im S<strong>in</strong>ne des Zu -<br />

trauens an <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nfähigkeit und S<strong>in</strong>nhaftigkeit des Ganzen ist <strong>die</strong> Basis<br />

des Lebens und zugleich <strong>die</strong> (zumeist unausgesprochene) Voraussetzung<br />

allen Denkens/Wissens. Die Inhalte <strong>die</strong>ses Zutrauens s<strong>in</strong>d natürlich<br />

verschieden, aber generell gilt: Bereits <strong>die</strong> Option für e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Form des Denkens und des sich daraus ergebenden Wissens erfordert e<strong>in</strong><br />

Vertrauen, e<strong>in</strong>en Glauben. 26 Deshalb ist das bewusste oder unbewusste<br />

24 Vgl. Volker Gerhardt, Der S<strong>in</strong>n des S<strong>in</strong>nes, 160: „Alles Wissen beruht auf Voraussetzungen,<br />

<strong>die</strong> selbst nicht durch Wissen abgesichert s<strong>in</strong>d … Wer etwas weiß und<br />

darauf baut, setzt auf e<strong>in</strong> Fragment, das ihm als Ersatz für das Ganze <strong>die</strong>nt.“<br />

25 A. a. O., 44: „Wir glauben an das, was wir nicht vollständig denken können.“<br />

26 Vgl. a. a. O., 41: „Sowenig jemand ohne zu denken glauben kann, so unmöglich ist<br />

es ihm zu denken, ohne wenigstens daran zu glauben.“


18<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

E<strong>in</strong>bezogense<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e übergeordnete Macht/Wirklichkeit das (geheime<br />

oder offene) Fundament allen Lebens. Glauben und Denken, Glauben<br />

und Wissen bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>ander und s<strong>in</strong>d aufe<strong>in</strong>ander angewiesen.<br />

Sie gehören nicht zu verschiedenen Welten, sondern unabweisbar<br />

geme<strong>in</strong>sam zu jeder e<strong>in</strong>zelnen Lebenswelt und erschließen auf je eigene<br />

Weise <strong>die</strong> Wirklichkeit. Auch <strong>die</strong> Vernunft lebt von e<strong>in</strong>er Grundannahme,<br />

nämlich vom Vertrauensvorschuss <strong>in</strong> <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nhaftigkeit der Welt.<br />

Zudem s<strong>in</strong>d auch <strong>die</strong> Verstehensbed<strong>in</strong>gungen selbst, speziell <strong>die</strong> Vernunft<br />

und der jeweilige Kontext, e<strong>in</strong>em Wandlungsprozess unterworfen,<br />

<strong>in</strong>sofern <strong>die</strong> jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und <strong>die</strong> sich notwendigerweise<br />

ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten<br />

das Erkennen bestimmen. Schließlich: In jedes Bild der Welt, das ich<br />

mir mache, ist e<strong>in</strong> Bild me<strong>in</strong>er selbst e<strong>in</strong>gezeichnet, alles was ich denke,<br />

b<strong>in</strong> ich auch immer selbst; es ist nie <strong>die</strong> Vernunft, sondern me<strong>in</strong>e Vernunft!<br />

S<strong>in</strong>n, Mythos und Vernunft stellen weder <strong>in</strong> sich abgeschlossene<br />

Entitäten noch Gegensätze dar, sondern sie greifen ständig<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander und s<strong>in</strong>d aufe<strong>in</strong>ander angewiesen, um <strong>die</strong> Vielfalt<br />

und Vielschichtigkeit der Wirklichkeit samt ihrer Voraussetzungen<br />

zu erfassen und e<strong>in</strong> tragfähiges, gesichertes Lebensgefühl<br />

zu ermöglichen. Mythisches Denken ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong><br />

Spezifikum der <strong>Theologie</strong>, sondern alle Modellbegriffe menschlicher<br />

Existenz s<strong>in</strong>d mythisch, weil sie über sich selbst h<strong>in</strong>ausweisen,<br />

nicht e<strong>in</strong>fach hergestellt werden können, <strong>in</strong> der Ge -<br />

schichte nicht aufgehen und auf etwas Höheres verweisen, das<br />

sie erhoffen und zugleich voraussetzen. Für theologisches Denken<br />

bleiben mythische Vorstellungen und mythische Redeweise<br />

unerlässlich, denn <strong>die</strong> Verflechtung der göttlichen Welt mit der<br />

menschlichen Geschichte und damit Gottes Wirken <strong>in</strong> der Welt<br />

kann nur <strong>in</strong> mythischer Form gedacht, formuliert und rezipiert<br />

werden.


1.3 S<strong>in</strong>n und Erzählung 19<br />

1.3 S<strong>in</strong>n und Erzählung<br />

Nicht nur Mythen, sondern auch alle erfolgreichen S<strong>in</strong>nbildungen<br />

münden <strong>in</strong> Erzählungen. 27 Solche Erzählungen s<strong>in</strong>d z. B. <strong>die</strong> Werke<br />

Homers (8. Jh. v. Chr.), <strong>die</strong> biblische Urgeschichte (Gen 1–11), <strong>die</strong> neutestamentlichen<br />

Evangelien, aber auch nationale Epen wie das Nibelungenlied,<br />

<strong>die</strong> Artussage oder Wilhelm Tell. Solche Werke gehören zu den<br />

,Meistererzählungen‘, <strong>die</strong> Menschen „e<strong>in</strong>e Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit,<br />

ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungs-<br />

und Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten“ 28 . Solche<br />

S<strong>in</strong>nbildungen gew<strong>in</strong>nen ihre Kraft nicht jenseits ihrer Inhalte, sondern<br />

nur aus der Interdependenz von Inhalt und Form. Fasz<strong>in</strong>ierende Inhalte<br />

werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er meisterhaften Form präsentiert.<br />

Homer überliefert mit der Ilias und der Odyssee nicht nur zwei spannende und unterhaltsame<br />

Epen, sondern vor allem e<strong>in</strong>e archaische, zugleich aber bis heute aktuelle Deutung<br />

der Wirklichkeit. In der Ilias wird der Kampf um Troja zu e<strong>in</strong>er Inszenierung der<br />

Kräfte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Welt und das Leben des E<strong>in</strong>zelnen bestimmen: Gewalt, Krieg, Sterben,<br />

Liebe, Eifersucht, Gier, Zorn und Ehre. Der Kampf als Mutter aller D<strong>in</strong>ge tritt <strong>in</strong> den Vordergrund<br />

und Gegensätze prägen: unsterbliche Götter/Halbgötter – sterbliche Menschen,<br />

Gerechtigkeit – Ungerechtigkeit, Tod – Leben, Jugend – Alter, Mann – Frau, Meer –<br />

Land, Tag – Nacht. In der Odyssee ist es <strong>die</strong> von Göttern/dem Schicksal bee<strong>in</strong>flusste Irrfahrt<br />

des Menschen durch das Leben, se<strong>in</strong>e Sehnsucht nach Heimat, Identität und Liebe,<br />

<strong>die</strong> das Geschehen vorantreiben. Bereits bei Homer dom<strong>in</strong>iert das agonale Pr<strong>in</strong>zip, <strong>die</strong><br />

Konkurrenz, das Übertrumpfen des Anderen, der Sieg, immer verbunden mit Kampf,<br />

Leid und Tod.<br />

Die biblische Urgeschichte (Gen 1–11) entwirft <strong>in</strong> ihrer vorliegenden Gestalt e<strong>in</strong> Bild<br />

des Anfangs, das auf der Basis des damaligen Wissens den Menschen e<strong>in</strong> Bild über <strong>die</strong><br />

27 Vorausgesetzt wird e<strong>in</strong> weiter Erzählbegriff, der nicht auf bestimmte literarische<br />

Gattungen fixiert ist. Ausgehend von der grundlegenden E<strong>in</strong>sicht, dass Erfahrung<br />

von Zeit narrativ bearbeitet werden muss, liegt es nahe, „<strong>die</strong> Erzählung als e<strong>in</strong>e<br />

bedeutungs- oder s<strong>in</strong>nhafte bzw. Bedeutung oder S<strong>in</strong>n stiftende Sprachform aufzufassen.<br />

Dies soll heißen: Schon <strong>die</strong> narrative Form menschlicher Selbst- und Weltthematisierungen<br />

verleiht Widerfahrnissen und Handlungen S<strong>in</strong>n und Bedeutung<br />

– unabhängig vom jeweiligen Inhalt der erzählerischen Präsentation“ (Jürgen<br />

Straub, Über das Bilden von Vergangenheit, <strong>in</strong>: Jörn Rüsen [Hrsg.], Ge -<br />

schichtsbewußtse<strong>in</strong>, Köln/Weimar 2001, [45–113] 51 f.).<br />

28 Jörn Rüsen, Kann gestern besser werden? Über <strong>die</strong> Verwandlung der Vergangenheit<br />

<strong>in</strong> Geschichte, <strong>in</strong>: Ders., Kann gestern besser werden?, Berl<strong>in</strong> 2003, 29 f.


20<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

Struktur der Welt und ihre eigene Situation geben will. Sie bedenkt <strong>die</strong> Entstehung der<br />

Welt und ihrer Ordnungen, ebenso das Woher des Menschen und se<strong>in</strong>er Mitgeschöpfe<br />

sowie <strong>die</strong> Ursprünge der Kultur. Zudem werden fundamentale Fragen des Lebens<br />

behandelt: Woher kommt das Böse? Warum br<strong>in</strong>gen sich Menschen gegenseitig um?<br />

Straft Gott <strong>die</strong> Menschen? Warum überwiegt <strong>in</strong> der Schöpfung <strong>die</strong> Ordnung und nicht<br />

das Chaos? Warum gibt es unterschiedliche Nationen und Sprachen? Dabei teilen alle<br />

Erzählungen <strong>die</strong> Grundüberzeugung antiken Denkens, wonach alles Gegenwärtige und<br />

Zukünftige im Anfang se<strong>in</strong> Wesen erhielt.<br />

Die Erzählung verfügt über e<strong>in</strong>e erstaunliche Leistungsfähigkeit; sie ist<br />

<strong>die</strong> Form, <strong>in</strong> der sich das Innerste artikulieren kann und zugleich das<br />

Äußere e<strong>in</strong>e Gestalt f<strong>in</strong>det. Das Denken und Fühlen ist nichts anderes<br />

als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Erzählung, <strong>die</strong> jederzeit zu e<strong>in</strong>er äußeren Erzählung, zur<br />

Mitteilung werden kann. Die Erzählung konstituiert Zeit und verleiht<br />

dem E<strong>in</strong>maligen Dauer, 29 wodurch Rezeption und Traditionsbildung<br />

überhaupt erst ermöglicht werden. Die Erzählung relationiert <strong>in</strong> sachlicher,<br />

zeitlicher und räumlicher H<strong>in</strong>sicht; e<strong>in</strong>e Erzählung stiftet E<strong>in</strong>sicht,<br />

<strong>in</strong>dem sie neue Zusammenhänge schafft und den S<strong>in</strong>n des Geschehens<br />

hervortreten lässt. 30 E<strong>in</strong>e weitere Funktion von Erzählungen<br />

besteht <strong>in</strong> der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen<br />

berichten, beschreiben und erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen<br />

und bilden e<strong>in</strong> Weltbild, an dem sich Menschen orientieren können.<br />

E<strong>in</strong> besonderes Leistungsmerkmal von Er zählungen ist <strong>die</strong> Bildung,<br />

Präsentation und Stabilisierung von Identität. 31 Erzählungen stiften<br />

und verbürgen e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nzusammenhang, der durch Identifikationen<br />

zur Identitätsbildung führt. Durch Erzählungen werden Er<strong>in</strong>nerungen<br />

hervorgerufen und transportiert, ohne <strong>die</strong> es ke<strong>in</strong>e dauerhafte Identität<br />

geben kann. Insbesondere <strong>in</strong> Erzählungen bearbeitete kollektive Erfah-<br />

29 Vgl. Aleida Assmann, Zeit und Tradition, Köln/Weimar 1999, 4: „Durch Zeitkonstruktionen<br />

werden S<strong>in</strong>nhorizonte entworfen“.<br />

30 Vgl. Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge e<strong>in</strong>er<br />

narrativen Psychologie historischer S<strong>in</strong>nbildung, <strong>in</strong>: Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung,<br />

Identität und historisches Bewußtse<strong>in</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1998, (81–169) 124 ff.<br />

31 Zum Begriff der Identität vgl. Bernd Estel, Art. Identität, HRWG III, Stuttgart<br />

1993, 193–210; Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches<br />

Bewußtse<strong>in</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1998; Aleida Assmann/Heidrun Friese<br />

(Hrsg.), Identitäten, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2 1999; Friederike Portenhauser,<br />

Personale Identität <strong>in</strong> der <strong>Theologie</strong> des Paulus, 7–215.


1.4 Der Glaube als Gottes- und Lebenswissen 21<br />

rungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Handlungs-<br />

und Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung<br />

Alles ist<br />

Erzählung<br />

gehört zu den grundlegenden praktischen<br />

Funktionen von Erzählungen. Erzählungen<br />

bieten <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> eigene Existenz<br />

im Spiegel anderer Leben zu reflektieren<br />

und zu bestimmen. Durch Erzählungen werden Handlungsmöglichkeiten<br />

eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Handlungsraum<br />

von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer e<strong>in</strong>e<br />

normative Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen<br />

br<strong>in</strong>gen. Die Vermittlung von Werten und Normen, das Angebot oder <strong>die</strong><br />

Revision von Standpunkten gehören zu den weiteren Funktionen von<br />

Erzählungen. 32 Indem Erfahrungen und Erwartungen, Werte und<br />

Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich e<strong>in</strong><br />

ethisches und pädagogisches Bewusstse<strong>in</strong> heraus. Zugleich liefern<br />

Erzählungen <strong>die</strong> Basis für Traditions- und Wissensbildungen, deren Teil<br />

sie selbst s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong>dem sie Kont<strong>in</strong>uität herstellen und sicherstellen, dass<br />

Informationen, Deutungsleistungen, Verhaltensformen so wie Werte<br />

gebildet und durch <strong>die</strong> Zeit h<strong>in</strong>durch weitergegeben werden.<br />

1.4 Der Glaube als Gottesund<br />

Lebenswissen<br />

Erfolgreiche Erzählungen gehen <strong>in</strong> Traditions- und Wissenssysteme<br />

über und bestimmen so das Denken, <strong>die</strong> Weltsicht sowie <strong>die</strong> Selbst- und<br />

Fremdwahrnehmung von Menschen und Völkern; 33 sie bilden als<br />

Summe der Überzeugungen den Kern jeder Identität. Ob Weltanschauung,<br />

politisches Programm, Philosophie oder Religion; sie alle erzeugen<br />

Wissen. Dabei umfasst Wissen mehr als Wissenschaft; es ist sozial vermittelter<br />

S<strong>in</strong>n, der es ermöglicht, das Leben <strong>in</strong> der Alltagswelt zu bewäl-<br />

32 Vgl. dazu Kenneth J. Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches<br />

Bewußtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Be -<br />

wußtse<strong>in</strong>, 170–202.<br />

33 Vgl. Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie, 351 ff. Der Klassiker der neueren<br />

wissenssoziologischen Diskussion ist: Peter L. Berger/Thomas Luckmann,<br />

Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 17 2000.


22<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

tigen. Dieses Wissen wird zunächst von E<strong>in</strong>zelpersonen, dann von<br />

Gruppen und schließlich von e<strong>in</strong>er Gesellschaft anerkannt. E<strong>in</strong> solcher<br />

Anerkennungsprozess kann durchaus längere Zeit <strong>in</strong> Anspruch nehmen;<br />

er ist zumeist durch Diskurse und auch Konflikte geprägt, <strong>die</strong> am<br />

Ende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e freiwillige oder auch erzwungene Akzeptanz münden.<br />

Dabei setzen <strong>in</strong> der Regel Gruppen ihre Vorstellungen von Wirklichkeit<br />

durch, <strong>in</strong>dem sie durch Diskurse 34 argumentativ und/oder durch<br />

Zwang bestimmenden E<strong>in</strong>fluss gew<strong>in</strong>nen.<br />

Glaube als Wissen<br />

Religion – hier der christliche Glaube – gehört zu den ältesten und<br />

natürlichsten Wissens- und S<strong>in</strong>nwelten. 35 Sie entsteht wie alle anderen<br />

Wissenswelten auch, denn <strong>die</strong> Grundstruktur <strong>die</strong>ses Vorganges ist mit<br />

der Bildung anderer Wissenswelten pr<strong>in</strong>zipiell vergleichbar: Erfahrungen<br />

werden gedeutet und als Weltsicht <strong>in</strong> das Leben <strong>in</strong>tegriert, wobei<br />

e<strong>in</strong> Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nhaftigkeit <strong>die</strong>ses Geschehens <strong>die</strong> Grundlage bildet.<br />

Dieses Vertrauen wiederum ist im Kern e<strong>in</strong> Glaube; der Glaube an<br />

Gott oder e<strong>in</strong> Glaube an das eigene Weltbild und <strong>die</strong> Wissenschaft, an<br />

das Glück und <strong>die</strong> Liebe; e<strong>in</strong> Glaube an politische Ideen und Systeme, an<br />

ethische und soziale Werte usw. Immer wird der Glaube von den eigenen<br />

Erfahrungen getragen und reift zum <strong>in</strong>dividuellen Wissen, dabei<br />

stets durch allgeme<strong>in</strong> akzeptierte Anschauungen angereichert.<br />

Religiöse Erfahrungen unterscheiden sich allerd<strong>in</strong>gs von anderen<br />

Wirklichkeitsdeutungen, weil sie sich nicht auf e<strong>in</strong> unmittelbares Ob -<br />

jekt beziehen, sondern über sich selbst h<strong>in</strong>ausweisen, sich auf etwas<br />

Vorgegebenes, auf e<strong>in</strong>e göttliche Dimension berufen. Der Mensch versteht<br />

<strong>die</strong> Wechselwirkung von Erlebnis und Deutung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz<br />

besonderen Weise, <strong>in</strong>dem er sich von e<strong>in</strong>er über ihn selbst h<strong>in</strong>ausgehenden<br />

Wirklichkeit angesprochen und ergriffen fühlt. Religion erschöpft<br />

sich nicht <strong>in</strong> den kognitiven Dimensionen von Weltbildern, sondern<br />

strukturiert das Ganze des Lebens e<strong>in</strong>schließlich se<strong>in</strong>er sakralen Dimen-<br />

34 Zum Diskursbegriff vgl. den Forschungsüberblick bei Re<strong>in</strong>er Keller, Diskursforschung,<br />

Wiesbaden 2 2004, 13–60.<br />

35 Vgl. Hubert Knoblauch, Wissenssoziologie, 353: „Auch <strong>die</strong> Religionen erzeugen<br />

e<strong>in</strong> Wissen (und s<strong>in</strong>d dabei auch sehr produktiv), und das visuelle Wissen der<br />

bildenden Kunst etwa prägt ganze Kulturen.“


1.4 Der Glaube als Gottes- und Lebenswissen 23<br />

sionen. Weil Menschen <strong>die</strong>se Erfahrungen machen, s<strong>in</strong>d Erfahrungen<br />

immer auch e<strong>in</strong>e Art Selbsterfahrung, gehen aber dar<strong>in</strong> nicht auf. 36 Zum<br />

Wesen von religiösen Transzendenzerfahrungen gehört es, dass sie sich<br />

e<strong>in</strong>stellen und den Menschen ergreifen. Der Deutungs- und Konstruktionscharakter<br />

<strong>die</strong>ses Vorganges lässt sich dennoch nicht leugnen und<br />

muss auch nicht getilgt werden, denn wir s<strong>in</strong>d und bleiben es, <strong>die</strong> deuten,<br />

religiöse S<strong>in</strong>nwelten erstellen und Transzendenzerfahrungen<br />

haben. Das heißt aber ke<strong>in</strong>eswegs, dass der glaubende Mensch das alle<strong>in</strong>ige<br />

Subjekt ist, denn <strong>die</strong>se S<strong>in</strong>nwelten s<strong>in</strong>d als Antwort und Reaktion<br />

auf e<strong>in</strong>e ganz bestimmte Art und Weise der Welterfahrung zu deuten,<br />

nämlich der Erfahrungen des Göttlichen/Heiligen. 37 Sie s<strong>in</strong>d ihrem<br />

Selbstanspruch nach mehr als Beschreibungsfiguren und verweisen auf<br />

e<strong>in</strong>e externe Realität. Das Erleben e<strong>in</strong>er transzendenten Wirklichkeit,<br />

das Bezogense<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e andere Dimension s<strong>in</strong>d nicht Erfahrungen<br />

zweiter Klasse, sondern sie haben <strong>die</strong> Gewissheit allen personalen<br />

Geschehens: Sie basieren auf Vertrauen, das nicht <strong>in</strong> der Rolle e<strong>in</strong>es<br />

Beobachters, sondern nur als beteiligte Person erfahren werden kann.<br />

Der Glaube als Lebens- und Orientierungswissen<br />

Warum aber nehmen Menschen religiöse Deutungen vor? Offenbar tun<br />

sie es, weil sie solche Deutungen für hilfreich und plausibel halten. 38<br />

Religion ist <strong>die</strong> erste und älteste Form von Weltdeutung; sie ist ke<strong>in</strong>e Illusion<br />

oder Projektion, sondern als psychische Realität e<strong>in</strong> Teil des Lebens<br />

und der Wirklichkeit. 39 Bei Milliarden von Menschen ist der Glaube (wie<br />

36 Vgl. Jörg Lauster, Religion als Lebensdeutung, 25 f.<br />

37 Vgl. Volker Gerhardt, Natürliche und rationale <strong>Theologie</strong>, <strong>in</strong>: Roderich<br />

Barth/Rochus Leonhardt (Hrsg.), Die Vernunft des Glaubens, (41–68) 52: „Das,<br />

wonach im Göttlichen gesucht wird, kann vom Menschen nur im Modus des S<strong>in</strong>ns<br />

erstrebt und benannt werden.“<br />

38 Vgl. Jörn Rüsen, Die roten Fäden, 75, der zu den Gefährdungen und der Verletzlichkeit<br />

des Menschse<strong>in</strong>s feststellt: „Religion ist e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nkonzept, das <strong>die</strong>se Eigenschaften<br />

des Menschen nicht e<strong>in</strong>fach als anthropologische fundamentale Tatsachen<br />

h<strong>in</strong>nimmt, sondern sie als Problemlage des Menschen ansieht und Lösungen entwickelt<br />

und lebenspraktisch realisiert.“<br />

39 Vgl. Holm Tetens, Gott denken. E<strong>in</strong> Versuch über rationale <strong>Theologie</strong>, Stuttgart<br />

2015, 82: „Aus unseren Überlegungen folgt noch etwas anderes: So wie wir Gott def<strong>in</strong>iert<br />

haben, kann er auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Weise <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> der Erfahrungswelt gegen-


24<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

<strong>die</strong> Liebe oder <strong>die</strong> Hoffnung) e<strong>in</strong>e psychische Realität, <strong>die</strong> zum Verstehen<br />

und zur Bewältigung von Lebenssituationen und zum Lebenss<strong>in</strong>n beiträgt,<br />

und <strong>die</strong> als e<strong>in</strong>leuchtend, hilfreich und gut empfunden wird.<br />

Dabei dom<strong>in</strong>iert e<strong>in</strong>e überaus plausible und attraktive Grunde<strong>in</strong>sicht:<br />

Me<strong>in</strong> Leben und alles, was da mit verbunden ist, darf ich als Ge schenk<br />

Gottes verstehen und an nehmen. Das ist <strong>die</strong> geheime Formel für ge -<br />

l<strong>in</strong>gendes positives Leben: Die D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em widerfahren, als Gabe<br />

Gottes h<strong>in</strong>zunehmen; den Geschenkcharakter des Lebens anzuerkennen.<br />

Alles, was unser Leben bestimmt und wirklich lebenswert macht,<br />

hat Geschenkcharakter: das Leben selbst, <strong>die</strong> Liebe, <strong>die</strong> Dankbarkeit, <strong>die</strong><br />

Der Geschenkcharakter<br />

des Lebens<br />

Hoffnung, <strong>die</strong> Zuversicht, <strong>die</strong><br />

Freundschaft und der Glaube.<br />

Wir können sie nicht herstellen,<br />

es gibt ke<strong>in</strong>e ,Beweise‘, sondern<br />

sie ereignen sich, stellen sich e<strong>in</strong>, sie werden uns geschenkt. Wer<br />

<strong>die</strong>s verstanden hat, für den verändert sich <strong>die</strong> Selbst- und Weltsicht.<br />

Deshalb ist der christliche Glaube nicht nur Lebensdeutung und<br />

bewusste Lebensführung, sondern auch Lebenskunst und positives<br />

Lebenswissen. Er betont <strong>die</strong> göttliche und menschliche Liebe als grundlegende<br />

Lebenskräfte und aktiviert <strong>die</strong> positiven Lebenskräfte: das Vertrauen<br />

auf Gott und <strong>in</strong> das Leben, <strong>die</strong> Dankbarkeit, <strong>die</strong> Kraft der Vergebung,<br />

<strong>die</strong> Achtung der Mitgeschöpfe und der Schöpfung, <strong>die</strong> Nächstenliebe<br />

und den <strong>in</strong>neren Frieden als Voraussetzung äußeren Friedens.<br />

Der Glaube gehört zum weiten Bereich des Lebens- und Orientierungswissens,<br />

d. h. zu den elementaren E<strong>in</strong>stellungen zum<br />

Leben, <strong>die</strong> sich gleichermaßen mit Fühlen und Denken verb<strong>in</strong>den<br />

(z. B. ethischer Wertekanon, Hoffnungs<strong>in</strong>halte, Liebesfähigkeit,<br />

Gefühl des Geborgense<strong>in</strong>s und der positiven Lebense<strong>in</strong>stellung<br />

sowie Lebensgestaltung). Diese Faktoren s<strong>in</strong>d für gel<strong>in</strong>gendes<br />

Leben m<strong>in</strong>destens so wichtig wie <strong>die</strong> allgegenwärtigen<br />

materiellen Güter.<br />

wärtig se<strong>in</strong>, dort nämlich, wo Menschen <strong>in</strong> ihrem Leben auf Gott hoffen, ihn loben,<br />

ihn <strong>in</strong> ihren Nöten anrufen, ihn fürchten und – das gerät angesichts der Theismusphobie<br />

so vieler Philosophen leicht <strong>in</strong> Vergessenheit – wo Menschen ihn vernünftig<br />

zu denken versuchen.“


1.5 <strong>Theologie</strong> an der Universität 25<br />

1.5 <strong>Theologie</strong> an der Universität<br />

Seitdem es Universitäten gibt, wird christliche <strong>Theologie</strong> an ihnen<br />

gelehrt. 40 Über Jahrhunderte war <strong>die</strong> Geschichte der Wissenschaften vor<br />

allem e<strong>in</strong>e Geschichte der <strong>Theologie</strong>. Der Siegeszug der Naturwissenschaften<br />

sowie <strong>die</strong> Destruktion der Gottesbeweise durch Immanuel<br />

Kant 41 und <strong>die</strong> damit verbundenen Konflikte mit der Kirche und der<br />

<strong>Theologie</strong> (Stichwort: Galileo Galilei) veränderten <strong>die</strong> Situation nachhaltig:<br />

Nun ersche<strong>in</strong>t <strong>Theologie</strong> vielen als e<strong>in</strong>e Art Fremdkörper an<br />

der Universität, weil sie nicht mit den Evidenzverfahren der Naturwissenschaften<br />

arbeitet und mit Gott e<strong>in</strong>e Wirklichkeit zum Ausgangspunkt<br />

nimmt, <strong>die</strong> <strong>in</strong>nerweltlich nicht beweisbar ist. Auf Seiten der<br />

<strong>Theologie</strong> wurden angesichts <strong>die</strong>ser Situation drei maßgebliche Gegenstrategien<br />

entwickelt: 42<br />

1) Dem damaligen Weltbild verhaftete und heute als anstößig empfundene<br />

Vorstellungen (z. B. <strong>die</strong> Wunder Jesu) werden ,entmythologisiert‘,<br />

d. h. auf der Bildebene überwunden und e<strong>in</strong>er (zumeist anthropologischen)<br />

Sachebene zugeführt. Dieses vor allem von Rudolf Bultmann<br />

(1884–1976) vertretene Programm kommt den Wissenschaften<br />

entgegen, <strong>in</strong>dem es deren Weltbild und se<strong>in</strong>e Wahrheitsansprüche faktisch<br />

als normativ akzeptiert und falsche H<strong>in</strong>dernisse abbauen möchte,<br />

um zum ,Kern‘ des Glaubens zu führen.<br />

2) Das gegenteilige Konzept vertritt Karl Barth (1886–1968) mit<br />

e<strong>in</strong>er offenbarungstheologischen Offensive. Er stellt im Gestus der<br />

40 Die Universitäten entwickelten sich im Europa des Hochmittelalters (11./12. Jh. n.<br />

Chr.) aus den frühmittelalterlichen Kloster- und Domschulen, wobei zunächst <strong>die</strong><br />

Auslegung des kirchlichen Rechts im Mittelpunkt stand (z. B. Bologna); vgl. dazu<br />

Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität <strong>in</strong> Europa I: Mittelalter, München<br />

1993; Wolfgang E. J. Weber, Geschichte der europäischen Universität,<br />

Stuttgart 2002.<br />

41 In se<strong>in</strong>er ,Kritik der re<strong>in</strong>en Vernunft‘ (1781) führte Kant den überzeugenden Nachweis,<br />

dass man das Dase<strong>in</strong> Gottes grundsätzlich nicht ,beweisen‘ kann, denn es gibt<br />

dafür ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong> zugängliche Erfahrungsebene. Zugleich stellte er aber heraus,<br />

dass man ebenso wenig beweisen kann, dass Gott nicht existiert. Zudem ist es<br />

für Kant zw<strong>in</strong>gend, aus moralischen Gründen an <strong>die</strong> Existenz Gottes glauben zu<br />

dürfen; für ihn ist <strong>die</strong> Ethik <strong>die</strong> Grundlage der Religion.<br />

42 Vgl. dazu <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Buch S. 71–87 (Darstellung der Entwürfe von Schleiermacher,<br />

Barth und Bultmann).


26<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

Überbietung den Ansprüchen der Wissenschaften e<strong>in</strong>e von Gott und<br />

se<strong>in</strong>er Wirklichkeit handelnde Meta-Erzählung 43 entgegen. Sie fordert<br />

zum Gehorsam, d. h. zum Glauben gegenüber dem e<strong>in</strong>zig wahren<br />

Herrn, Schöpfer, Erhalter und Versöhner der Welt auf.<br />

3) Im Anschluss an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher<br />

(1768–1834) und <strong>die</strong> liberale <strong>Theologie</strong> (Blütezeit ca. 1850–1920) wird <strong>die</strong><br />

Religion zu e<strong>in</strong>em eigenständigen und bei jedem Menschen potentiell<br />

vorhandenen Wirklichkeitsbereich er klärt. 44 Ziel ist es dann nicht, von<br />

außen normative Ansprüche zu stellen, sondern E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> und für<br />

<strong>die</strong> Gründe zu verschaffen, warum Religion als Grundform humaner<br />

S<strong>in</strong>nbildung und Deutungskultur zu verstehen ist. Dieser kulturanthropologische<br />

Ansatz versucht <strong>die</strong> Wissenschaften gewissermaßen für<br />

sich e<strong>in</strong>zunehmen, <strong>in</strong>dem er be hauptet, wie jene nur davon auszugehen,<br />

was vorhanden ist, und es zu deuten.<br />

Religion als e<strong>in</strong> Archetyp<br />

von Welt- und Lebensdeutung<br />

Wie lässt sich <strong>die</strong> zu Beg<strong>in</strong>n des Kapitels gestellte Frage beantworten:<br />

Mit welcher Begründung soll auch heute noch christliche <strong>Theologie</strong> als<br />

Wissenschaft an Universitäten gelehrt werden? Der Verweis auf <strong>die</strong><br />

Geschichte der Universität und der historisch gewachsenen rechtlichen<br />

Stellung der <strong>Theologie</strong> im Mite<strong>in</strong>ander von Staat und Kirche ist s<strong>in</strong>nvoll,<br />

reicht alle<strong>in</strong> aber nicht aus, denn <strong>Theologie</strong> könnte auch ausschließlich<br />

an kirchlichen Ausbildungsstätten und nicht an staatlichen<br />

Universitäten unterrichtet werden. Es lassen sich aber Gründe aus den<br />

vorangegangenen Überlegungen anführen, <strong>die</strong> über historische Prozesse<br />

h<strong>in</strong>aus allgeme<strong>in</strong> verstehbar, nachvollziehbar und auch diskutierbar<br />

s<strong>in</strong>d:<br />

1) Religion ist als e<strong>in</strong> Archetyp von Welt- und Lebensdeutung e<strong>in</strong>e<br />

bedeutsame, <strong>die</strong> Wirklichkeit prägende Realität, ob man sie nun für <strong>die</strong><br />

höchste Form des Geistes oder e<strong>in</strong>e Verirrung hält. 45 Das vielfach postu-<br />

43 Diese Meta- und Gegen-Erzählung ist <strong>die</strong> zwischen 1932–1967 entstandene und ca.<br />

10 000 Seiten umfassende „Kirchliche Dogmatik“.<br />

44 Vgl. Friedrich D. E. Schleiermacher, Reden über <strong>die</strong> Religion, 91: „Der<br />

Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder anderen.“<br />

45 Für e<strong>in</strong>e Verirrung (oder sogar Krankheit) hält Religion z. B. Richard Dawk<strong>in</strong>s,


1.5 <strong>Theologie</strong> an der Universität 27<br />

lierte Absterben der Religion hat nicht stattgefunden, weil Religion<br />

e<strong>in</strong>e anthropologische Ressource darstellt. Es gibt Verlagerungen und<br />

Veränderungen, nicht aber e<strong>in</strong> Verschw<strong>in</strong>den von Religion. 46 Weil <strong>die</strong><br />

Wissenschaften <strong>die</strong> Wirklichkeit/das Leben analysieren, deuten und<br />

erklären, muss auch Religion/<strong>Theologie</strong> e<strong>in</strong> Thema der Wissenschaften<br />

se<strong>in</strong>.<br />

2) Die Beschäftigung mit Religion <strong>in</strong> der Form wissenschaftlicher<br />

<strong>Theologie</strong> sollte <strong>in</strong> öffentlicher, allgeme<strong>in</strong> zugänglicher, reflektierter,<br />

kritischer und methodisch geleiteter Form geschehen und deshalb ist<br />

<strong>die</strong> Universität der Ort dafür.<br />

3) Zumal Religion/<strong>Theologie</strong> als Lebens- und Orientierungswissen<br />

von Anfang an <strong>die</strong> Hauptressource für <strong>die</strong> ethischen Standards e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft war und bis heute ist. Ethik und ihre Grundlagen haben <strong>in</strong><br />

den kritischen Diskursen der Universität ihren natürlichen und auch notwendigen<br />

Ort. Gerade <strong>die</strong> Naturwissenschaften s<strong>in</strong>d im 21. Jh. auf <strong>die</strong>sen<br />

Dialog angewiesen, um <strong>die</strong> Folgen ihrer Erkenntnisse selbstkritisch<br />

bedenken zu können.<br />

4) Alle Wissenschaften s<strong>in</strong>d historisch geworden und haben e<strong>in</strong>e<br />

Verankerung <strong>in</strong> der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Bei der Religion ist<br />

<strong>die</strong>s <strong>in</strong> Deutschland <strong>die</strong> Kirche, <strong>die</strong> nach wie vor größte gesellschaftliche<br />

Organisation nach dem Staat.<br />

5) Der <strong>Theologie</strong> kommt an der Universität e<strong>in</strong> Doppel-Status zu: Sie<br />

unterscheidet sich formal nicht von allen anderen Wissenschaften, denn<br />

alle deuten gleichermaßen <strong>die</strong> Wirklichkeit/das Leben. Inhaltlich<br />

nimmt <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e Sonderstellung e<strong>in</strong>, weil Gott als<br />

ihr erster Gegenstand ke<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong> aufweisbares Element <strong>die</strong>ser Welt<br />

und ke<strong>in</strong> Gegenstand des natürlichen Lebens ist.<br />

Gotteswahn, Berl<strong>in</strong> 2016, 14 f., der sie auf frühk<strong>in</strong>dliche Indoktr<strong>in</strong>ation zurückführt<br />

und sich selbst als ,Vernunftmensch‘ und ,stolzen Atheisten‘ bezeichnet: „Man<br />

kann stolz darauf se<strong>in</strong> und hocherhobenen Hauptes bis zum Horizont blicken,<br />

denn Atheismus ist fast immer e<strong>in</strong> Zeichen für e<strong>in</strong>e gesunde geistige Unabhängigkeit<br />

und sogar für e<strong>in</strong>en gesunden Geist.“<br />

46 Die Suche nach S<strong>in</strong>n ist ungebrochen und <strong>die</strong> Angebote werden immer vielfältiger;<br />

e<strong>in</strong>e Allensbach-Umfrage bestätigt <strong>die</strong>se beiden Tendenzen; vgl. Thomas Petersen,<br />

Der lange Abschied vom Christentum, FAZ v. 20.12.2017, S. 10.


28<br />

1. Die Stellung der <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> den Wissenschaften<br />

Die <strong>Theologie</strong> ist zunächst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Wissenschaft wie jede<br />

andere auch. Sie teilt mit den anderen Wissenschaften das Vertrauen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> S<strong>in</strong>nhaftigkeit der Wirklichkeit, <strong>die</strong> von allen mit<br />

guten Gründen postuliert, aber nicht wirklich begründet werden<br />

kann. Alle Wissenschaften überschreiten mit ihrem Zutrauen<br />

<strong>in</strong> das Denken das unmittelbar Zugängliche und leben von<br />

<strong>die</strong>sem Vorschuss. Wie alle anderen Wissenschaften auch widmet<br />

sich <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> e<strong>in</strong>em Wirklichkeitsbereich menschlicher<br />

Existenz: dem Glauben/der Religion als e<strong>in</strong>er zentralen<br />

Deutungskategorie des Lebens und der Wirklichkeit. Religiöse<br />

Gefühle und E<strong>in</strong>sichten leisten genau das, was alle Wissenschaften<br />

auszeichnet: Sie helfen zur Erklärung, Deutung, Gestaltung<br />

und Bewältigung des Lebens/der Welt. Dabei teilt <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong><br />

als Geisteswissenschaft <strong>die</strong> Methodik anderer vergleichbarer<br />

Diszipl<strong>in</strong>en. Sie ist e<strong>in</strong>e kritische Text- und Reflexionswissenschaft,<br />

<strong>die</strong> streng historisch arbeitet, methodisch orientiert ist<br />

und logisch nachvollziehbar argumentiert. Sie arbeitet im Rahmen<br />

der Universität öffentlich und setzt sich bewusst der Kritik<br />

aus. Allerd<strong>in</strong>gs bezieht sie sich nicht auf e<strong>in</strong> unmittelbar zu -<br />

gängliches Objekt, sondern auf e<strong>in</strong>e Wirklichkeit jenseits ihrer<br />

selbst, <strong>die</strong> aber im Glauben zugleich ihre Wirklichkeit ist. Auf<br />

<strong>die</strong>ser Basis nimmt <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> als positive Gottes- und Le -<br />

benswissenschaft umfassende S<strong>in</strong>nbildungen vor, <strong>in</strong> deren Zentrum<br />

Gott als tragender Grund der Wirklichkeit steht. Damit<br />

unterscheidet sich <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> zwar von den Deuteversuchen<br />

anderer Wissenschaften, deren Interpretationen der Wirklichkeit<br />

aber ebenfalls ke<strong>in</strong>eswegs voraussetzungslos s<strong>in</strong>d. Auch sie<br />

basieren auf Setzungen, deren S<strong>in</strong>nhaftigkeit sich immer wieder<br />

erst erweisen muss. Insofern teilt <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>die</strong> axiomatische<br />

Grundstruktur jeder Wissenschaft und der christliche Glaube<br />

ist so vernünftig (oder unvernünftig) wie alle anderen Welt- und<br />

Lebensdeutungen auch. Erst im Vollzug erweist sich <strong>die</strong> jeweilige<br />

Leistungsfähigkeit. Schließlich teilt <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>die</strong> natürliche<br />

Wirkung aller Wissenschaften: Sie nehmen umfassende<br />

S<strong>in</strong>nbildungen vor, <strong>die</strong> sich dann als S<strong>in</strong>nstiftungen – d. h.<br />

<strong>die</strong> Wirklichkeitsauffassung bestimmende Modelle <strong>in</strong> der


1.5 <strong>Theologie</strong> an der Universität 29<br />

Ges chichte – etablieren. Bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Frühe Neuzeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> lieferte<br />

<strong>die</strong> christliche <strong>Theologie</strong> das bestimmende Wirklichkeitsmodell<br />

und wurde dann von den Naturwissenschaften abgelöst. Die<br />

Konfliktgeschichte zwischen beiden erklärt zahlreiche Missverständnisse<br />

und nährt bis heute langlebige Vorurteile. Zugleich<br />

wird aber immer deutlicher, dass ke<strong>in</strong>e Diszipl<strong>in</strong> für sich den<br />

Anspruch erheben kann, <strong>die</strong> vielfältige ganze Wirklichkeit alle<strong>in</strong><br />

erklären zu können. Vielmehr ergänzen sich <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Zugänge zur Wirklichkeit und s<strong>in</strong>d dar<strong>in</strong> verbunden, an der<br />

Erklärung und vor allem der Erhaltung der e<strong>in</strong>en unteilbaren<br />

Welt zu arbeiten. Schließlich ist <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> an der Universität<br />

<strong>die</strong> letzte Wissenschaft, <strong>die</strong> vom Schöpfungsglauben her<br />

<strong>die</strong> Welt als Ganzes sieht und denkt. E<strong>in</strong>e Perspektive, <strong>die</strong> angesichts<br />

der krisenhaften Zuspitzung der Menschheitsprobleme<br />

im 21. Jh. langsam auch von anderen Wissenschaften wiederentdeckt<br />

wird.


2.<br />

Begriffe: <strong>Theologie</strong> –<br />

evangelisch – Religion<br />

2.1 Der Begriff <strong>Theologie</strong><br />

und se<strong>in</strong>e Entstehung<br />

In der antiken Welt ist ,<strong>Theologie</strong>‘ e<strong>in</strong> eher seltenes Wort. 47 Es fehlt im<br />

Alten Testament (e<strong>in</strong>schließlich der Septuag<strong>in</strong>ta) und <strong>in</strong> den Schriften<br />

des antiken Judentums. 48 Auch <strong>in</strong> der griechischen Welt f<strong>in</strong>det sich der<br />

Begriff/das Wort ,<strong>Theologie</strong>‘ (θεολογία im S<strong>in</strong>ne von „Rede/Lehre von<br />

der Gottheit“) relativ spät, nämlich bei Plato (427–347 v. Chr.), der es<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich geprägt hat. 49 Die Sache allerd<strong>in</strong>gs ist älter, denn Plato<br />

bezieht sich bei se<strong>in</strong>er Verwendung von θεολογία auf <strong>die</strong> Göttererzählungen<br />

der homerischen My then. Innerhalb der griechischen Religion<br />

überlieferten Homer (8. Jh. v. Chr.) und Hesiod (ca. 740–670 v. Chr.) <strong>die</strong><br />

Genealogie der Götter, 50 bewahrten ihre Be<strong>in</strong>amen auf und bestimmten<br />

ihre Zuständigkeiten. 51 Hier liegt der fassbare Ursprung der griechi-<br />

47 Dies gilt auch für <strong>die</strong> verwandten Begriffe θεολόγος („wer über <strong>die</strong> Götter/<strong>die</strong> Gottheit<br />

redet und schreibt“) und θεολογέω („von göttlichen D<strong>in</strong>gen reden“); vgl.<br />

dazu Ferd<strong>in</strong>and Kattenbusch, Die Entstehung e<strong>in</strong>er christlichen <strong>Theologie</strong>.<br />

Zur Geschichte der Ausdrücke θεολογία, θεολογεῖν, θεολόγος, Darmstadt 2 1962<br />

(= 1930); Frank Whal<strong>in</strong>g, The Development of the Word ,Theology‘, SJTh 34<br />

(1981), 289–312.<br />

48 Die Septuag<strong>in</strong>ta (LXX) spricht durchgängig von Gott als θεός und κύριος;<br />

selbst e<strong>in</strong> so stark griechisch bee<strong>in</strong>flusster Autor wie Philo von Alexandrien (ca. 20<br />

v. Chr.–45 n. Chr.) gebraucht nicht θεολογία (viermal θεολόγος; e<strong>in</strong>mal θεολογεῖν).<br />

49 Vgl. Michael Erler, Plato, Die Philosophie der Antike 2/2, Basel 2007, 464.<br />

50 Sie s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs <strong>die</strong> Schöpfer ihrer Götterwelt, sondern stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er altorientalischen<br />

Tradition, für <strong>die</strong> e<strong>in</strong> personenhafter Polytheismus vor allem <strong>in</strong> der<br />

m<strong>in</strong>oisch-mykenischen Religion, aber auch <strong>in</strong> der hethitischen, ugaritischen und<br />

akkadischen Epik kennzeichnend ist; vgl. dazu Walter Burkert, Griechische<br />

Religion, 25–90.<br />

51 Vgl. Herodot (ca. 484–425 v. Chr.): „Hesiod und Homer haben den Stammbaum


32<br />

2. Begriffe: <strong>Theologie</strong> – evangelisch – Religion<br />

schen Rede von den Göttern, deren Walten <strong>in</strong> den Mythen beschrieben<br />

wird.<br />

Das Wort Theo-logie leitet sich vom griechischen θεολογία ab<br />

und me<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Kunde (λόγος) von Gott (θεός) bzw. den Göttern<br />

(θεοί).<br />

Als besonders wirkmächtig erwiesen sich <strong>die</strong> homerischen Götter, <strong>die</strong><br />

man sich wie e<strong>in</strong>e Großfamilie auf dem Götterberg Olympos vorstellte.<br />

52 In den olympischen Göttern werden all <strong>die</strong> Mächte sichtbar, <strong>die</strong> das<br />

Leben bestimmen und verständlich machen. Plato referiert <strong>die</strong>se Tradition<br />

genau dort, wo zum ersten Mal der Begriff Θεολογία er sche<strong>in</strong>t. Er<br />

kritisiert <strong>die</strong> homerischen Erzählungen mit ihren allzu menschlichen<br />

Göttervorstellungen 53 und bestreitet, dass ihnen e<strong>in</strong> verborgener S<strong>in</strong>n<br />

<strong>in</strong>newohnt. 54 Diese kritische Position gegenüber den Mythen (μύθοι)<br />

der Dichter (ποιηταί) wirft <strong>die</strong> Frage auf: „Was s<strong>in</strong>d nun <strong>die</strong> Grundzüge<br />

bezüglich der Götterlehre (οἱ τύποι περὶ θεολογίας)?“ 55 Die Antwort<br />

ist revolutionär und wegweisend: „Wie Gott se<strong>in</strong>em Wesen nach ist<br />

(ὁ θεὸς ὤν), so muss er auch immer dargestellt werden, mag e<strong>in</strong>er im<br />

Epos oder <strong>in</strong> Liedern oder <strong>in</strong> der Tragö<strong>die</strong> dichten. So ist doch nun Gott<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesen gut (ἀγαθός) und auch so darzustellen.“ 56 Gott ist gut<br />

bzw. das Gute; <strong>die</strong>ser philosophischen E<strong>in</strong>sicht sollte jede Form von<br />

<strong>Theologie</strong> folgen. Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) widmet sich <strong>die</strong><br />

betrachtende Philosophie vor allem den prägenden Ursachen des Seienden,<br />

wobei speziell <strong>die</strong> „Mathematik, Physik, <strong>Theologie</strong> (μαθηματική,<br />

φυσική, θεολογική)“ 57 zu unterscheiden s<strong>in</strong>d. Die <strong>Theologie</strong> markiert<br />

dabei den Höhepunkt und <strong>die</strong> Grenzen der Wissenschaft, denn sie bildet<br />

den Übergang zu den göttlichen D<strong>in</strong>gen. Über <strong>die</strong>se Ortsbestimmung<br />

h<strong>in</strong>aus def<strong>in</strong>iert Aristoteles <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht. E<strong>in</strong>e expo-<br />

der Götter <strong>in</strong> Griechenland geschaffen und ihnen ihre Be<strong>in</strong>amen gegeben, <strong>die</strong><br />

Ämter und Ehren unter sie verteilt und ihre Gestalt geprägt“ (Historien II 53,2).<br />

52 Vgl. dazu Walter Burkert, Griechische Religion, 189–289.<br />

53 Vgl. Plato, Politeia 377b.c, wo <strong>die</strong> Nachstellungen und Kriege zwischen Göttern als<br />

absurd dargestellt werden.<br />

54 Vgl. a. a. O., 378d: ὑπόνοια = „Unters<strong>in</strong>n“.<br />

55 A. a. O., 379a.<br />

56 A. a. O., 379a.b.<br />

57 Aristoteles, Metaphysik 1026a.


2.1 Der Begriff <strong>Theologie</strong> und se<strong>in</strong>e Entstehung 33<br />

nierte Stellung erlangte <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong> der Stoa, 58 denn Gott bzw. <strong>die</strong><br />

Götter s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nerhalb der stoischen Pr<strong>in</strong>zipienlehre der erste (oder letzte)<br />

Grund, aus dem sich alle Lehren über den Kosmos, <strong>die</strong> Natur, den Menschen<br />

und <strong>die</strong> Ethik ergeben. 59 Nach Kleanthes (310–230 v. Chr.) gliedert<br />

sich <strong>die</strong> Philosophie <strong>in</strong> sechs Teile: „Dialektik, Rhetorik, Ethik, Politologie,<br />

Naturphilosophie, <strong>Theologie</strong> (θεολογικόν).“ 60 Die Stoa geht von<br />

e<strong>in</strong>er göttlichen Struktur der Wirklichkeit aus; alles was existiert, verdankt<br />

sich vernünftiger göttlicher Providenz. Damit vertreten <strong>die</strong> Stoiker<br />

e<strong>in</strong>en Pantheismus, wonach <strong>die</strong> Gottheit <strong>in</strong> allen (gr.: πᾶν) Dase<strong>in</strong>sformen<br />

wirkt; sie ist e<strong>in</strong>s mit dem Kosmos und somit allgegenwärtig,<br />

zugleich aber gerade deshalb nicht als persönlicher Gott fassbar. Chrysipp<br />

(282–209 v. Chr.) lehrt, „<strong>die</strong> göttliche Kraft liege <strong>in</strong> der Vernunft und<br />

<strong>in</strong> der Seele und dem Geist der gesamten Natur, und erklärt weiter, <strong>die</strong><br />

Welt selbst und <strong>die</strong> alles durchdr<strong>in</strong>gende Weltseele sei Gott“ 61 . Es existiert<br />

nichts über <strong>die</strong> Stofflichkeit alles Seienden h<strong>in</strong>aus, es gibt weder<br />

e<strong>in</strong>en transzendenten Schöpfergott noch e<strong>in</strong>e metaphysische Weltbegründung.<br />

Die Gottheit wohnt als bildende Kraft, als πνεῦμα (,Geist-<br />

Hauch‘) oder λόγος σπερματικός (,befruchtender Logos‘), den D<strong>in</strong>gen<br />

<strong>in</strong>ne, <strong>die</strong> sie schuf. Nach der Stoa ist <strong>die</strong> Bestimmung des Menschen e<strong>in</strong>gebettet<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er göttlichen, zweckmäßig e<strong>in</strong>gerichteten<br />

Allnatur, der zu folgen der Mensch berufen ist.<br />

Während <strong>die</strong> Stoiker als Pantheisten alles mit Gott <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />

brachten, kann Epikur (341–270 v. Chr.) 62 als Deist bezeichnet werden.<br />

Die Existenz Gottes/der Götter muss (gr.: δεῖ) zwar angenommen werden,<br />

zugleich ist aber zu bestreiten, dass sie irgendetwas mit <strong>die</strong>ser Welt<br />

und den Menschen zu tun haben. Es gibt weder e<strong>in</strong>e göttliche Vorsehung<br />

(πρόνοια) noch e<strong>in</strong> von Mächten bestimmtes Schicksal (εἱμαρμένη),<br />

sondern alles entsteht von selbst. Nach Epikur führen <strong>die</strong> Götter<br />

58 Zur Stoa <strong>in</strong>sgesamt vgl. Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3:<br />

Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 2 1995, 44–99; Ders., Antike Glückslehren,<br />

Stuttgart 1996, 63–162; Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa,<br />

Darmstadt 2018.<br />

59 Vgl. hier Stefan Dienstbeck, Die <strong>Theologie</strong> der Stoa, Berl<strong>in</strong> 2015.<br />

60 Diogenes Laertius, Leben und Lehre der Philosophen 7,41.<br />

61 Cicero, De Natura Deorum I 39.<br />

62 Zu Epikur vgl. Malte Hossenfelder, Epikur, München 3 2006; Michael<br />

Erler, Epikur, <strong>in</strong>: Die Philosophie der Antike 4/1, hrsg. v. Hellmut Flashar, Basel<br />

1994, 29–202.


34<br />

2. Begriffe: <strong>Theologie</strong> – evangelisch – Religion<br />

e<strong>in</strong> glückseliges, zeitenthobenes Leben, ohne sich um <strong>die</strong> Menschen zu<br />

kümmern. „Denn e<strong>in</strong> Gott tut nichts, ist <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Geschäfte verwickelt,<br />

plagt sich mit ke<strong>in</strong>er Arbeit, sondern freut sich se<strong>in</strong>er Weisheit und<br />

Tugend und verlässt sich darauf, stets <strong>in</strong> höchsten und vor allem <strong>in</strong> ewigen<br />

Wonnen zu leben.“ 63 Die Götter können als Unsterbliche weder leiden<br />

noch sich <strong>in</strong> Liebe der Welt zuwenden. Sie s<strong>in</strong>d den Niederungen des<br />

Lebens entrückt und haben mit den Menschen nichts geme<strong>in</strong>. Damit<br />

widerspricht Epikur den geläufigen griechisch-hellenistischen Gottesbildern;<br />

er vertritt aber ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>en atheistischen Standpunkt,<br />

sondern will ausdrücklich den Gottesbegriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Re<strong>in</strong>heit und<br />

Unverfälschtheit bewahren. Intensiv um das Verständnis und <strong>die</strong> Pflege<br />

des Göttlichen/der Götter bemühte sich der mittelplatonische Philosoph<br />

Plutarch (ca. 45–120 n. Chr.). 64 Er war ca. 20 Jahre lang e<strong>in</strong>er der<br />

beiden Hauptpriester von Delphi und verfasste umfangreiche philosophische<br />

und kulturgeschichtliche Werke, <strong>in</strong> denen mehrfach der Begriff<br />

θεολογία/θεολόγος („<strong>Theologie</strong>/Theologe“) vorkommt. So wird <strong>die</strong><br />

<strong>Theologie</strong> der Ägypter als mythologisch-weisheitliche Rätselrede be -<br />

zeichnet und mehrfach erwähnt Plutarch <strong>die</strong> Traditionen oder Schriften<br />

,der Theologen‘. 65 Kennzeichen der <strong>Theologie</strong> des Mittelplatonismus<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> starke Betonung der absoluten Transzendenz und Andersartigkeit<br />

Gottes, se<strong>in</strong> kategoriales Geschiedense<strong>in</strong> von allem Menschlichen<br />

und damit se<strong>in</strong> Entschw<strong>in</strong>den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unnahbare Ferne. Für Plutarch<br />

s<strong>in</strong>d Gott/<strong>die</strong> Götter <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige der Zeit und dem Werden entnommene<br />

Wirklichkeit, sie stehen jenseits der Bewegung, des Werdens und Vergehens.<br />

Mit der Transzendenz Gottes verb<strong>in</strong>det sich deutlich e<strong>in</strong>e Tendenz<br />

zum Monotheismus bei Plutarch: Die Gottheit wird zwar bei den verschiedenen<br />

Völkern jeweils anders genannt, dennoch ist sie für alle<br />

Menschen <strong>die</strong>selbe: „So gibt es e<strong>in</strong>en Logos (ἑνὸς λόγου), der den Kosmos<br />

ordnet, und e<strong>in</strong>e Vorsehung, <strong>die</strong> <strong>die</strong>s leitet, und helfende Kräfte, <strong>die</strong><br />

für alles e<strong>in</strong>geteilt s<strong>in</strong>d.“ 66 Das Konzept der e<strong>in</strong>en, absolut transzendenten<br />

Gottheit musste <strong>die</strong> Frage aufwerfen, wie e<strong>in</strong>e Kommunikation zwischen<br />

Gott und Mensch überhaupt möglich ist. Plutarch bestimmt<br />

63 Cicero, De Natura Deorum I 51.<br />

64 Vgl. dazu Ra<strong>in</strong>er Hirsch-Luipold (Hrsg.), Gott und <strong>die</strong> Götter bei Plutarch,<br />

Berl<strong>in</strong> 2005.<br />

65 Vgl. Plutarch, Über Isis und Osiris 354C; Über das E <strong>in</strong> Delphi 388F.<br />

66 A. a. O., 377F.


2.1 Der Begriff <strong>Theologie</strong> und se<strong>in</strong>e Entstehung 35<br />

dafür Mittlerwesen, <strong>die</strong> den Kontakt zu den wahren Gottheiten halten<br />

und e<strong>in</strong>e für <strong>die</strong> Menschen unabd<strong>in</strong>gbare Funktion wahrnehmen.<br />

Bereits „<strong>die</strong> alten Theologen“ (τοῖς πάλαι θεολόγοις) berichten von<br />

Wesen, <strong>die</strong> „stärker s<strong>in</strong>d als Menschen und von Natur aus e<strong>in</strong>e größere<br />

Macht besitzen als wir, aber auf der anderen Seite auch nicht e<strong>in</strong>e ganz<br />

re<strong>in</strong>e und unvermischte Gottheit, sondern so wie wir e<strong>in</strong>e Seele und<br />

e<strong>in</strong>en Körper haben, <strong>die</strong> Vergnügen und Schmerz empf<strong>in</strong>den können ...<br />

Und Plato nennt <strong>die</strong>se Art von Dämonen Dolmetscher (ἑρμηνευτικόν)<br />

und Mittelpersonen zwischen den Göttern und Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wünsche<br />

und Gebete der Sterblichen vor <strong>die</strong> Gottheit tragen und von da Prophezeiungen<br />

und gute Gaben zurückbr<strong>in</strong>gen.“ 67<br />

Die antike Philosophie war immer auch e<strong>in</strong>e Form paganer<br />

<strong>Theologie</strong>. Die Götter galten als <strong>die</strong> Garanten von Kultur, Staat<br />

und Nation; ebenso waren sie <strong>die</strong> Begleiter menschlichen Lebens<br />

und forderten Verehrung <strong>in</strong> allen Bereichen. Zugleich entwickelten<br />

<strong>die</strong> antiken Philosophen aber ke<strong>in</strong>e argumentative/<br />

diskursive <strong>Theologie</strong> im engeren S<strong>in</strong>n. Es entstand ke<strong>in</strong>e eigenständige<br />

Diszipl<strong>in</strong>, sondern man redete auch über <strong>die</strong> ,Natur‘<br />

der Götter (Cicero) und nahm sie vor allem <strong>in</strong> ihren kultur- und<br />

staatstragenden Funktionen wahr.<br />

Zwar f<strong>in</strong>den sich bei den neutestamentlichen Autoren sehr komplexe<br />

Aussagen über Gott und se<strong>in</strong> Wirken <strong>in</strong> Jesus Christus, sie verwendeten<br />

dafür aber nicht Begriffe wie θεολογία, θεολόγος oder θεολογέω.<br />

Bewusst blieb man so <strong>in</strong> der alttestamentlich-jüdischen Tradition,<br />

sprach aber zugleich <strong>in</strong> neuer und anderer Weise von Gott und wollte<br />

dafür nicht vorgeprägte Begriffe verwenden. Dies änderte sich nicht<br />

zufällig genau <strong>in</strong> dem Augenblick, als das frühe Christentum programmatisch<br />

<strong>in</strong> den Dialog mit der griechisch-römischen Welt e<strong>in</strong>trat.<br />

Während Just<strong>in</strong> (um 155 n. Chr.) den christlichen Glauben noch selbstverständlich<br />

als ,Philosophie‘ bezeichnete, 68 griffen <strong>die</strong> <strong>in</strong> Alexandrien<br />

67 A. a. O., 361D.<br />

68 Vgl. Just<strong>in</strong>, Dialog mit dem Juden Tryphon VIII 1 f.: „… und es erfasste mich <strong>die</strong><br />

Liebe zu den Propheten und jenen Männern, welche <strong>die</strong> Freunde Christi s<strong>in</strong>d. Ich<br />

dachte bei mir über <strong>die</strong> Lehren des Mannes nach und fand dar<strong>in</strong> <strong>die</strong> alle<strong>in</strong> verlässli-


36<br />

2. Begriffe: <strong>Theologie</strong> – evangelisch – Religion<br />

als e<strong>in</strong>er Hochburg griechischen Denkens geprägten Kirchenväter Clemens<br />

Von Alexandrien (ca. 150–215 n. Chr.) und Origenes (ca. 185–<br />

253 n. Chr.) bewusst den Begriff ,<strong>Theologie</strong>‘ zur Bezeichnung der neuen<br />

Lehre/des neuen Glaubens auf. Beide waren <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Ausleger der<br />

Heiligen Schrift und als wissenschaftliche Exegeten versuchten sie das<br />

biblische Denkgebäude e<strong>in</strong>sichtig zu machen und auf den Begriff zu<br />

br<strong>in</strong>gen.<br />

2.2 Warum evangelische <strong>Theologie</strong>?<br />

Das Wort ,evangelisch‘ ist e<strong>in</strong>e sprachliche Neuschöpfung Mart<strong>in</strong><br />

Luthers (1483–1546). 69 Es leitet sich zunächst aus der Betonung des<br />

e<strong>in</strong>en Evangeliums Jesu Christi als Mitte der Bibel ab; evangelisch ist<br />

e<strong>in</strong>e <strong>Theologie</strong>, <strong>die</strong> sich am Evangelium Jesu Christi und am Evangelium<br />

über Jesus Christus orientiert. Zugleich gew<strong>in</strong>nt aber der Begriff<br />

schon früh e<strong>in</strong>e Dimension, <strong>die</strong> <strong>in</strong> Richtung eigenständiger Konfession<br />

weist. Bereits 1523 formuliert Luther das Leitbild des wahren Fürsten,<br />

der se<strong>in</strong>e Untertanen „Christlich und Euangelisch“ regieren soll. 70 Der<br />

Begriff verfestigte sich dann zu e<strong>in</strong>er konfessionellen Bezeichnung. Als<br />

Synonym für ,evangelisch/<strong>Evangelische</strong>‘ bürgerte sich der Begriff ,protestantisch/Protestanten‘<br />

e<strong>in</strong>, abgeleitet vom Protest (Protestation) der<br />

evangelischen Stände auf dem Reichstag zu Speyer 1529. 71<br />

Die Sprachgeschichte ist Ausdruck e<strong>in</strong>er Sachgeschichte, denn ,evangelisch‘<br />

heißt nichts anderes als ,dem Evangelium gemäß‘. Jede Form<br />

che und nutzbr<strong>in</strong>gende Philosophie (φιλοσοφίαν ἀσφαλῆ τε καὶ σύμφορον). Dies<br />

ist der Weg und <strong>die</strong>s s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Gründe, welche mich zum Philosophen gemacht<br />

haben.“<br />

69 Vgl. dazu Alfred Goetze, „Evangelisch“, ZDW 13 (1911/12), 1–24; Franz Josef<br />

Holznagel, Luther und <strong>die</strong> deutsche Sprache, <strong>in</strong>: Margot Käßmann/Mart<strong>in</strong> Rösel<br />

(Hrsg.), Die Bibel Mart<strong>in</strong> Luthers, Leipzig 2016, 170–192.<br />

70 Mart<strong>in</strong> Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig<br />

se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Luthers Werke <strong>in</strong> Auswahl II, hrsg. v. Otto Clemen, Berl<strong>in</strong> 6 1967, 367.<br />

71 Zur Entstehung des Protests als geistesgeschichtliches Phänomen vgl. Joachim<br />

Knape, 1521. Mart<strong>in</strong> Luthers rhetorischer Moment oder <strong>die</strong> <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> des Protests,<br />

305: „Worms legte den Grund für moderne Sichtweisen <strong>in</strong>tellektueller Freisetzung<br />

des Menschen. Hier wurden <strong>die</strong> Weichen zum Aufbruch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Moderne als<br />

Projekt des Westens gestellt.“


2.2 Warum evangelische <strong>Theologie</strong> 37<br />

von <strong>Theologie</strong> ist ,evangelisch‘, sofern sie nicht <strong>in</strong> beliebiger Weise von<br />

Gott spricht, sondern <strong>die</strong> gute Nachricht vom rettenden endzeitlichen<br />

Handeln Gottes <strong>in</strong> Jesus Christus zum Inhalt hat. Als <strong>in</strong>haltlich klar<br />

bestimmte Rede von Gott ist christliche <strong>Theologie</strong> immer evangelisch.<br />

Zugleich hat <strong>Theologie</strong> stets e<strong>in</strong>e Geschichte; ,evangelische‘ <strong>Theologie</strong><br />

ist untrennbar mit dem Leben und dem Werk Mart<strong>in</strong> Luthers verbunden.<br />

72 Er war zeitlebens e<strong>in</strong> Leser, Ausleger und Übersetzer der Heiligen<br />

Schrift; se<strong>in</strong> gesamtes Leben kann gewissermaßen als e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger<br />

Leseprozess der Bibel verstanden werden. Das Evangelium ist für Luther<br />

nicht e<strong>in</strong>e literarische Gattung, sondern e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Bestimmung,<br />

<strong>die</strong> sich (<strong>in</strong> unterschiedlicher Dichte) sowohl im Alten Testament als<br />

auch im Neuen Testament f<strong>in</strong>det, hier speziell <strong>in</strong> den Paulusbriefen und<br />

im Johannesevangelium: Gottes Heilshandeln für <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> Jesus<br />

Christus. Das Evangelium ist der Fluchtpunkt des biblischen Zeugnisses.<br />

Es kann aber nur da recht vernommen werden, wo zugleich das<br />

Gesetz als richtendes Wort Gottes alle menschliche Selbstgerechtigkeit<br />

und Selbstrechtfertigung durchkreuzt. Für Luther steht nicht der formale,<br />

sondern der religiös-existentielle Bezug zur Heiligen Schrift im<br />

Mittelpunkt; es g<strong>in</strong>g ihm um das Heil der Menschen, das <strong>in</strong> der Bibel zu<br />

f<strong>in</strong>den ist. Dieses Heil erschien <strong>in</strong> der Menschwerdung Gottes <strong>in</strong> Jesus<br />

Christus und davon redet das Evangelium: Jesus Christus als Gottes gute<br />

Gabe für uns. Wann immer Menschen <strong>die</strong>ses Evangelium ergreifen,<br />

gelangen sie <strong>in</strong> den Heilsbereich Gottes. Die Zentrierung Luthers auf das<br />

Evangelium stellt e<strong>in</strong>en völlig neuartigen hermeneutischen Ansatz dar.<br />

Während <strong>in</strong> der katholischen Kirche <strong>die</strong> Bibel, <strong>die</strong> Tradition der Kirche 73<br />

72 Zu Luthers Bibelhermeneutik vgl. <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Buch S. 60–63.<br />

73 Das II. Vaticanum formuliert 1965 <strong>in</strong> Dei Verbum 9: „Die Heilige Überlieferung und<br />

<strong>die</strong> Heilige Schrift s<strong>in</strong>d eng mite<strong>in</strong>ander verbunden und haben ane<strong>in</strong>ander Anteil.<br />

Demselben göttlichen Quell entspr<strong>in</strong>gend, fließen beide gewissermaßen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s<br />

zusammen und streben demselben Ziele zu. Denn <strong>die</strong> Heilige Schrift ist Gottes<br />

Rede, <strong>in</strong>sofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet<br />

wurde. Die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus<br />

dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an<br />

deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes<br />

der Wahrheit <strong>in</strong> ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So<br />

ergibt sich, daß <strong>die</strong> Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen<br />

Schrift alle<strong>in</strong> schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung<br />

angenommen und verehrt werden“ (zitiert nach: Otto Semmelroth/Maximilian


3.<br />

Die Grundlagen: Die Schrift<br />

als lebendiges Zeugnis<br />

des Wortes Gottes<br />

Axiome bestimmen <strong>in</strong> jedem wissenschaftlichen Arbeitsfeld <strong>die</strong> Fragestellungen,<br />

<strong>die</strong> Methodik und auch <strong>die</strong> Ergebnisse. Wie jede andere<br />

Wissenschaft basiert auch <strong>die</strong> evangelische <strong>Theologie</strong> auf Grundlagen<br />

undGrundentscheidungen: Die Basis und der Ausgangspunkt evangelischer<br />

<strong>Theologie</strong> ist Gottes heilvolles Handeln an Israel und <strong>in</strong> Jesus<br />

Christus, so wie es <strong>in</strong> der Bibel/der Heiligen Schrift beschrieben und<br />

niedergeschrieben ist. Deshalb ist <strong>die</strong> Bibel <strong>die</strong> Grundlage für alle Aussagen<br />

über den christlichen Gott und jede Form christlicher <strong>Theologie</strong><br />

muss sich an den Schriften der Bibel orientieren und sich von ihr messen<br />

lassen. Dieses Axiom ist sachlich und historisch begründet. Sachlich,<br />

weil bereits im Neuen Testament der Bezug auf das Alte Testament konstitutiv<br />

ist 90 und <strong>die</strong> Schriften,<br />

<strong>die</strong> später das Neue Testament<br />

bilden, das Christusgeschehen<br />

sachgemäß entfalten und von<br />

Die Bibel/<strong>die</strong> Heilige Schrift<br />

als Axiom der <strong>Theologie</strong><br />

Anfang an e<strong>in</strong>en normativen Anspruch erheben (vgl. Gal 1,6–9) und e<strong>in</strong>e<br />

besondere Stellung haben. Historisch, weil mit der Kanonsbildung <strong>die</strong>jenigen<br />

Schriften zur Grundlage und Norm erklärt wurden, <strong>die</strong> dem<br />

Ursprungsgeschehen am nächsten stehen. Auf den frühkirchlichen<br />

Konzilien wurden Festlegungen und Entscheidungen getroffen (vor<br />

allem Nicaea [325 n. Chr.] und Chalcedon [451 n. Chr.]), 91 <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Kirchen-<br />

und <strong>Theologie</strong>geschichte richtungsweisend und verb<strong>in</strong>dlich<br />

waren. Das Christentum orientiert sich seit fast 2000 Jahren zu Recht am<br />

Modell der normativen Ursprungszeit, denn historische und sachliche<br />

Kont<strong>in</strong>uität sowie Pluralität und Weiterentwicklung <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es<br />

90 Zur Rezeption des Alten Testaments im Neuen Testament vgl. Hans Hübner,<br />

Vetus Testamentum <strong>in</strong> Novo, I/2.II, Gött<strong>in</strong>gen 2003.1997.<br />

91 Vgl. hier Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche I, Freiburg<br />

i. Br. 2 1982.


52<br />

3. Die Grundlagen: Die Schrift als lebendiges Zeugnis<br />

festgesteckten Rahmens s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Voraussetzung für e<strong>in</strong>e beständige,<br />

überzeugende und erfolgreiche religiöse Bewegung.<br />

3.1 Begriffsbestimmung:<br />

Bibel, Schrift, Evangelium, Wort Gottes<br />

Was aber genau ist <strong>die</strong> Bibel und wie ist das Verhältnis zu den Begriffen<br />

Schrift, Evangelium und Wort Gottes zu bestimmen? Alle vier Begriffe<br />

haben bereits im Neuen Testament e<strong>in</strong>e spezifische Bedeutung, <strong>die</strong> sich<br />

<strong>in</strong> der kirchen- und dogmengeschichtlichen Entwicklung noch verstärkte.<br />

Bibel<br />

Das Wort ,Bibel‘ (βιβλίον) heißt nichts anderes als das geschriebene<br />

Buch (Buchrolle). Damit kann e<strong>in</strong>e bestimmte Schrift (Joh 20,30; Offb<br />

1,11) oder e<strong>in</strong>e Schriftensammlung (Gal 3,10; Lk 4,17: Teile des Alten Testaments)<br />

geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>. Dieser eher technische Gebrauch verfestigte sich<br />

(2Klem 14,2) und gilt bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart: <strong>die</strong> Bibel als Schriftensammlung<br />

und Glaubensdokument. Dabei bildeten sich im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

komplexen Kanons- und Konfessionsgeschichte Unterschiede bei der<br />

Anzahl und der Reihenfolge der Schriften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bibel heraus. 92 Im<br />

H<strong>in</strong>blick auf das Alte Testament s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Unterschiede zwischen der<br />

hebräischen Bibel und der Septuag<strong>in</strong>ta als griechischer Übersetzung<br />

von besonderer Bedeutung; <strong>die</strong> Septuag<strong>in</strong>ta enthält neben Ergänzungen<br />

und Bearbeitungen der ursprünglichen Schriften 9 Bücher zusätzlich, 93<br />

<strong>die</strong> Apokryphen genannt werden (von gr. ἀπόκρυφος = ,verborgen, geheim‘).<br />

Während <strong>die</strong> reformatorischen Kirchen <strong>die</strong>se Schriften nicht im<br />

Volls<strong>in</strong>n zur Bibel zählten, wurden sie von der katholischen Kirche auf<br />

dem Konzil von Trient (1546) als vollwertige Schriften der Bibel anerkannt.<br />

In allen Konfessionen umfasst das Neue Testament 27 Schriften;<br />

92 Vgl. dazu <strong>Udo</strong> <strong>Schnelle</strong>, Art. Bibel III: Neues Testament, RGG 4 1, Tüb<strong>in</strong>gen 1998,<br />

1417–1424; Peter Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften<br />

Israels <strong>in</strong> der jüdischen und christlichen Bibel, Berl<strong>in</strong> 2001.<br />

93 Sapientia Salomonis, Jesus Sirach, Psalmen Salomos, Judith, Tobith, 1.–4. Makkabäerbuch.


3.1 Begriffsbestimmung: Bibel, Schrift, Evangelium, Wort Gottes 53<br />

allerd<strong>in</strong>gs unterscheidet sich <strong>die</strong> Stellung e<strong>in</strong>zelner Schriften. So kommt<br />

z. B. der Jakobusbrief <strong>in</strong> den katholischen Bibelausgaben direkt nach den<br />

Paulusbriefen, <strong>in</strong> der lutherischen Tradition h<strong>in</strong>gegen steht er als drittletzte<br />

Schrift am Ende des Kanons. 94 Die Bibel ist also e<strong>in</strong> def<strong>in</strong>ierter<br />

Text, nämlich <strong>die</strong> Schriftensammlung des Alten und Neuen Testaments,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er komplexen Überlieferungs- und Deutungsgeschichte entstand.<br />

Die wohl zu Beg<strong>in</strong>n des 3. Jh. n. Chr. (Klemens von Alexandrien,<br />

Origenes) aufkommende Unterscheidung zwischen den beiden ,Testamenten‘<br />

verdankt sich 2Kor 3,6.14, wo Paulus mit dem Begriff διαθήκη<br />

(= ,Anordnung/Verfügung/Bund/Testament‘) von e<strong>in</strong>em ,neuen Bund/<br />

Testament‘ bzw. e<strong>in</strong>em ,alten Bund/Testament‘ spricht.<br />

Als Resultat e<strong>in</strong>er Textsammlung stellt <strong>die</strong> Bibel e<strong>in</strong>e Art Bibliothek<br />

<strong>in</strong> der E<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>es Buches dar. Umfang, Schriften- und Reihenfolge<br />

sowie <strong>die</strong> Übersetzungen der Bibel Alten und Neuen Testaments s<strong>in</strong>d<br />

konfessionell geprägt und sie wurde medial immer schon <strong>in</strong> unterschiedlicher<br />

Form rezipiert; als gehörtes oder gelesenes Wort, als Ge -<br />

samttext oder <strong>in</strong> Ausschnitten, <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft oder e<strong>in</strong>zeln, als<br />

Buch oder als elektronisch aufbereiteter Text.<br />

Schrift/Heilige Schrift<br />

Bereits bei Paulus ist mit γραφή (,Schrift‘) e<strong>in</strong> bestimmter Gebrauch<br />

und e<strong>in</strong> besonderes <strong>in</strong>haltliches Verständnis der Bibel (des Alten Testaments)<br />

geme<strong>in</strong>t, nämlich im H<strong>in</strong>blick auf ihre Glauben stiftende Wirkung.<br />

Die Schrift ,verheißt‘ und ,bezeugt‘ das Evangelium (Röm 1,2;<br />

1Kor 15,3f.); sie ,sagt/spricht‘ über das Kommende und nun <strong>in</strong> Christus<br />

Erfüllte (Röm 4,1; 10,11; Gal 4,30); sie ,beschließt‘ (Gal 3,22). Diese Zeugnisfunktion<br />

dom<strong>in</strong>iert auch im Johannesevangelium; <strong>die</strong> Jünger ,glauben‘<br />

dem Wort der Schrift (Joh 2,22); <strong>die</strong> Schrift wird im Christusgeschehen<br />

,erfüllt‘ (Joh 13,18; 19,24.36) bzw. ,vollendet‘ (Joh 19,28); nur als Zeug-<br />

94 Dies erklärt sich ursächlich aus den Wertungen Mart<strong>in</strong> Luthers, der <strong>in</strong> der Vorrede<br />

zum Jakobusbrief betont: „Darum will ich ihn nicht haben <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Bibel <strong>in</strong> der<br />

Zahl der rechten Hauptbücher, will damit aber niemanden wehren, dass er ihn setz<br />

und hebe, wie ihn gelüstet, denn es viel guter Sprüch sonst dr<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d“ (He<strong>in</strong>rich<br />

Bornkamm [Hrsg.], Luthers Vorreden zur Bibel, Gött<strong>in</strong>gen 3 1989, 217 f.).<br />

Ähnliches gilt für den Hebräerbrief; er schließt <strong>in</strong> der katholischen Tradition das<br />

Corpus Paul<strong>in</strong>um ab, <strong>in</strong> den lutherischen Bibelausgaben ist er <strong>die</strong> viertletzte Schrift.


54<br />

3. Die Grundlagen: Die Schrift als lebendiges Zeugnis<br />

nis der Auferstehung Jesu Christi von den Toten wird <strong>die</strong> Schrift richtig<br />

,verstanden‘ (Joh 20,9). Das Verständnis der Schrift als Christuszeugnis<br />

dom<strong>in</strong>iert auch <strong>in</strong> Mk 12,10.24; 14,49; Mt 21,42; 22,29; 26,54.56; Lk 24,<br />

27.32.45 und wird bei der Antrittspredigt Jesu <strong>in</strong> Kapernaum <strong>in</strong> Lk 4,21 so<br />

zusammengefasst: „Heute ist <strong>die</strong>ses Wort der Schrift erfüllt vor euren<br />

Ohren.“ Die Bibel ist somit mehr als e<strong>in</strong> bloßes Buch; sie wird zur<br />

Schrift, wo sie auf das Christusgeschehen verweist und es bezeugt, von<br />

ihm her gelesen und verstanden wird. Dabei bed<strong>in</strong>gen sich Gebrauch<br />

und Inhalt gegenseitig; wenn sie das Evangelium ansagen, bekommen<br />

Texte e<strong>in</strong>e Erschließungsfunktion und werden im Leben der Kirche hervorgehoben.<br />

Dieses Verständnis wurde <strong>in</strong> der Kirchengeschichte ausgebaut<br />

und bei Mart<strong>in</strong> Luther zum Zentrum se<strong>in</strong>er Hermeneutik. Der<br />

Schriftbegriff me<strong>in</strong>t somit e<strong>in</strong> theologisch qualifiziertes Verständnis der<br />

Bibel: Die Schrift ist <strong>die</strong> auf das Evangelium Jesu Christi und das Wort<br />

Gottes h<strong>in</strong> sprechende Bibel. 95<br />

Die <strong>in</strong>haltliche Differenzierung zwischen ,Bibel‘ und ,Schrift‘ ist von grundlegender<br />

Bedeutung für das christliche Verständnis des Alten Testaments. Zunächst ist festzuhalten:<br />

Das Alte Testament gehört zu Recht zum historischen und theologischen<br />

Bestandteil des christlichen Bibel-Kanons, weil es von Anfang an selbst e<strong>in</strong> Teil <strong>die</strong>ses<br />

Kanons war. Dies auf zwei Ebenen: 1) Im Neuen Testament f<strong>in</strong>den sich ca. 320 di -<br />

rekte AT-Zitate mit E<strong>in</strong>leitungswendungen und weitaus mehr Anspielungen und<br />

Bezugnahmen auf alttestamentliche Texte, 96 d. h. schon auf der Textebene ist das<br />

Alte Testament auch e<strong>in</strong> Teil des Neuen Testaments. 2) Bereits <strong>in</strong> der vorpaul<strong>in</strong>ischen<br />

Tradition 1Kor 15,3 f. s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> atl. Schriften der theologische Deutungsraum des<br />

Christusgeschehens, denn Tod, Begräbnis und Auferstehung ,am dritten Tag‘ als<br />

In halt des Evangeliums ereigneten sich nach dem Zeugnis ,der Schriften‘ (κατὰ τὰς<br />

γραφάς). Die ntl. Autoren <strong>in</strong>tegrierten <strong>die</strong> Schriften des Alten Testaments und<br />

machten sie so zu e<strong>in</strong>em Bestandteil der eigenen Schriftbildung. Nicht das Alte Testament<br />

als Ganzes, sondern nur e<strong>in</strong>zelne Schriften bzw. e<strong>in</strong>zelne Verse ausgewählter<br />

Autoren, repräsentieren <strong>die</strong>sen Prozess. Diese <strong>in</strong>nerbiblische Schriftauslegung ist<br />

jedoch höchst tendenziell, was sich exemplarisch an Paulus verdeutlichen lässt: 97<br />

95 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort, 73: „Zur Schrift wird <strong>die</strong> Bibel nur,<br />

wenn man sie nicht nur liest, sondern im Licht des Credo auf das Evangelium h<strong>in</strong><br />

liest, also so, wie sie im Gottes<strong>die</strong>nst zu Gehör gebracht wird.“<br />

96 Die Zahlen schwanken hier; je nachdem, was als Zitat, Anspielung, Bezugnahme<br />

oder Echo def<strong>in</strong>iert wird. The Greek New Testament, hrsg. v. Barbara Aland u. a.,<br />

Stuttgart 4 1993, 887–890.891–901, zählt 318 Zitate und ca. 1800 Anspielungen. E<strong>in</strong>en<br />

Überblick vermittelt Steve Moyise, The Old Testament <strong>in</strong> the New. An Introduction,<br />

London/New York 2001.


3.1 Begriffsbestimmung: Bibel, Schrift, Evangelium, Wort Gottes 55<br />

Bei ihm f<strong>in</strong>den sich 89 Zitate aus dem Alten Testament, allerd<strong>in</strong>gs aus e<strong>in</strong>er sehr be -<br />

grenzten Anzahl von Schriften, <strong>in</strong>sbesondere stehen Jesaja, <strong>die</strong> Psalmen und E<strong>in</strong>zelverse<br />

aus dem Pentateuch im Vordergrund. Faktisch s<strong>in</strong>d es zwei Zitate, mit denen<br />

Paulus das Alte Testament radikal reduziert und se<strong>in</strong>e eigene <strong>Theologie</strong> be gründet:<br />

Hab 2,4 (,der Gerechte wird aus Glauben leben‘) und Genesis 15,6 (,Abraham glaubte<br />

Gott und <strong>die</strong>s wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘). Theologisch ist für Paulus<br />

<strong>die</strong> Schrift Zeuge des Evangeliums, denn <strong>die</strong> Verheißungen Gottes (vgl. ἐπαγγελία<br />

<strong>in</strong> Gal 3 und Röm 4) erfahren im Evangelium von Jesus Christus ihre Be stäti -<br />

gung (vgl. 2Kor 1,20; Röm 15,8). Daraus folgt: Nicht<br />

das Alte Testament als solches, sondern alle<strong>in</strong> das<br />

vom Christusgeschehen her <strong>in</strong>terpretierte Alte Testament<br />

als Schrift ist Bestandteil der christlichen<br />

Kanonsbildung. 98 Das Alte Testament als Ganzes<br />

Das Alte Testament<br />

im Neuen<br />

kann gar nicht <strong>in</strong> gleicher Weise wie das Neue Testament Quelle des christlichen<br />

Glaubens se<strong>in</strong>, weil es se<strong>in</strong>en Eigenaussagen nach von Jesus Christus schweigt. 99<br />

Die frühchristliche christologische Relecture des Alten Testaments als Schrift<br />

leistet zweierlei: Sie stellt <strong>die</strong> atl. Referenztexte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen S<strong>in</strong>nhorizont und<br />

legitimiert zugleich <strong>die</strong> theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht<br />

das Eigengewicht der atl. Texte, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln <strong>in</strong> Jesus<br />

Christus <strong>die</strong> sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer <strong>Theologie</strong><br />

(Tora, Erwählung, Land, Tempel, Sabbat) werden neu bedacht und der Text des<br />

Alten Testaments <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en produktiven <strong>in</strong>tertextuellen Interpretationsprozess h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>genommen,<br />

der ihn dann als Schrift ausweist. 100<br />

97 Vgl. dazu Dietrich-Alex Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, 11–24.<br />

98 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort, 193: „Die Unterscheidung zwischen<br />

dem Alten und dem Neuen Testament ist daher e<strong>in</strong>e Unterscheidung, <strong>die</strong> den<br />

christlichen Gebrauch der biblischen Texte zur Kommunikation des Evangeliums<br />

und zur Gestaltung des christlichen Lebens <strong>in</strong> der Orientierung am Evangelium<br />

betrifft.“<br />

99 Dieses Schweigen im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er historisch oder theologisch verifizierbaren Ankündigung/Voraussage<br />

schließt natürlich nicht e<strong>in</strong> vielgestaltiges Reden im Rückblick<br />

aus, wie wir es im Neuen Testament f<strong>in</strong>den. Auch der Versuch von Markus Witte,<br />

Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, <strong>in</strong>: Jens Schröter (Hrsg.), Jesus Christus,<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 2014, (13–70) 22, e<strong>in</strong>e „christo-transparente“ Auslegung des Alten<br />

Testaments vorzunehmen, „und dabei exemplarisch auf strukturelle Entsprechungen,<br />

konzeptionelle und motivische Parallelen sowie traditionsgeschichtliche Verb<strong>in</strong>dungen<br />

<strong>in</strong> der Rede von Gott im Alten und im Neuen Testament h<strong>in</strong>zuweisen“<br />

(a. a. O., 21 f.), ist <strong>in</strong> Wahrheit e<strong>in</strong>e neutestamentliche und nicht e<strong>in</strong>e alttestamentliche<br />

Perspektive. E<strong>in</strong>e Biblische <strong>Theologie</strong> ist und bleibt im strikten S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> neutestamentliches<br />

Phänomen, das aufzeigt, wie und <strong>in</strong> welchem Umfang ntl. Autoren das<br />

Alte Testament bei ihrer Interpretation des Christusgeschehens heranzogen.<br />

100 Zur Hermeneutik des Alten Testaments vgl. Antonius H. Gunneweg, Vom


4.<br />

Die Gegenstände der<br />

evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

Das Lebens- und Orientierungswissen der evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

erwächst aus dem Zeugnis der Schrift. Was evangelische <strong>Theologie</strong> über<br />

Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist, über <strong>die</strong> Welt als großartige und<br />

zugleich gefährdete Schöpfung, über den Glauben und se<strong>in</strong>e Gegenspieler,<br />

über das Handeln des Menschen sowie über e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> Freiheit,<br />

Gerechtigkeit, Geme<strong>in</strong>schaft und Hoffnung zu sagen vermag, verdankt<br />

sie den <strong>in</strong> der Schrift überlieferten Erfahrungen und E<strong>in</strong>sichten. 279<br />

4.1 Der e<strong>in</strong>e Gott als Vater, Sohn<br />

und Heiliger Geist<br />

Der erste Gegenstand der <strong>Theologie</strong> ist Gott! <strong>Theologie</strong> handelt von<br />

Gott, aber von welchem Gott und <strong>in</strong> welcher Form? Vor allem: Wie kann<br />

<strong>Theologie</strong> überhaupt Gott zum Gegenstand machen, der doch qua def<strong>in</strong>itionem<br />

e<strong>in</strong>er anderen, dem Menschen unzugänglichen Wirklichkeitskategorie<br />

angehört? Deshalb ist zunächst e<strong>in</strong>e hermeneutische Standortbestimmung<br />

notwendig: In allen religiösen Offenbarungsurkunden,<br />

im Alten Testament und im Neuen Testament<br />

– ebenso im Koran – redet nicht Gott<br />

un mittelbar selbst, sondern wir haben es mit<br />

Gottes-Bildern zu tun. Gottesbilder, <strong>die</strong> von Menschen stammen und<br />

Gottes-Bilder<br />

279 E<strong>in</strong>e zweifache Beschränkung ist unumgänglich: 1) Über <strong>die</strong> von mir ausgewählten<br />

zehn Gegenstände <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem 4. Kapitel h<strong>in</strong>aus gibt es natürlich noch weitere<br />

behandlungswürdige Themen, <strong>die</strong> aber aus Gründen des Umfangs hier nicht <strong>in</strong> den<br />

Blick genommen werden können. 2) Ich setze e<strong>in</strong>en deutlichen Schwerpunkt auf das<br />

Neue Testament, weil sich <strong>die</strong>s aus den vorangegangenen hermeneutischen Überlegungen<br />

ergibt und me<strong>in</strong>er Kernkompetenz entspricht. Dabei ist nicht Vollständigkeit,<br />

sondern Klarheit das Ziel.


126<br />

4. Die Gegenstände der evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

deshalb selbstverständlich verglichen sowie beurteilt werden können.<br />

Jeder Mensch hat e<strong>in</strong>e Vorstellung, e<strong>in</strong> Bild von Gott; auch der Atheist,<br />

nämlich dass es Gott nicht gibt, nicht geben darf. Der Skeptiker, dass es<br />

ihn vielleicht gibt, vielleicht aber auch nicht. Der Gleichgültige, dass ihn<br />

Gott nicht zu <strong>in</strong>teressieren hat. Jede Weltanschauung, jede Philosophie<br />

und natürlich jede Religion entwirft e<strong>in</strong> Modell von Gott. Sie alle<br />

beschreiben nicht zeitenthoben und ,objektiv‘ Gottes Wesen, sondern<br />

geben ihr jeweiliges <strong>in</strong>dividuelles Bild von Gott wieder. Dies ist völlig<br />

natürlich, denn das äußere wie das <strong>in</strong>nere Bild ist der Zugang des Menschen<br />

zu jeder Form von Wirklichkeit. Zugleich muss <strong>die</strong>ser (relativierende)<br />

Bildcharakter aber immer wieder betont werden, um e<strong>in</strong>em unangemessenen<br />

An spruch von Gottesbildern entgegenzuwirken, als würden sie<br />

unmittelbar <strong>die</strong> vom Menschen kategorial geschiedene Wirklichkeit Gottes<br />

zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen. Vielmehr s<strong>in</strong>d es ausschließlich <strong>die</strong> Bilder und<br />

Vorstellungen, <strong>die</strong> Menschen von Gott haben. Dennoch s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Gottesbilder<br />

der großen Religionen nicht willkürlich, denn sie verdanken sich<br />

<strong>in</strong> der Regel den äußeren wie <strong>in</strong>neren Bildern und grundlegenden Erfahrungen<br />

der ersten Zeugen, <strong>die</strong> als plausibel empfunden wurden, dann <strong>in</strong><br />

Texte e<strong>in</strong>flossen und so Bilder formten. Dies gilt auch für das christliche<br />

Gottesbild, denn hier ist <strong>die</strong> Vorstellungswelt der Bibel <strong>die</strong> Basis.<br />

Der e<strong>in</strong>e Gott als Schöpfer, König und Gerechter<br />

Im Alten Testament wird der ,e<strong>in</strong>e‘ Gott (vgl. Ex 34,13; Hos 13,4; Dtn 6,4:<br />

dargestellt. vor allem als Schöpfer, König und Gerechter ‏(יְהוָה אֶחָד<br />

Der Monotheismus steht ke<strong>in</strong>eswegs am Anfang der Religion Israels. 280<br />

Sowohl Texte des Alten Testaments (vgl. Ex 6,3; Ps 82) als auch archäologische<br />

Zeugnisse 281 lassen noch deutlich erkennen, dass Jahwe als ursprünglich<br />

siegreicher Wetterherrscher (vgl. Ri 5,4 f.; Ps 18,10–15; 24,1–3;<br />

29; 46; 48; 50,3; 65,7–14; 93; 97 u. ö.) 282 zunächst e<strong>in</strong> Lokalgott neben ande-<br />

280 Vgl. als Gesamtschau: Ra<strong>in</strong>er Albertz, Religionsgeschichte Israels <strong>in</strong> alttestamentlicher<br />

Zeit I.II, Gött<strong>in</strong>gen 1992.1996; Thomas Römer, Die Erf<strong>in</strong>dung Gottes.<br />

E<strong>in</strong>e Reise zu den Quellen des Monotheismus, Darmstadt 2018.<br />

281 Bedeutsam s<strong>in</strong>d hier vor allem Inschriften/Ikonographen aus dem 9./8. Jh. v. Chr.;<br />

vgl. dazu Othmar Keel/Christoph Uehl<strong>in</strong>ger, Gött<strong>in</strong>nen, Götter und<br />

Gottessymbole, Freiburg i. Br. 2001.<br />

282 Vgl. dazu Re<strong>in</strong>hard Müller, Jahwe als Wettergott, BZAW 387, Berl<strong>in</strong> 2008;


4.1 Der e<strong>in</strong>e Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist 127<br />

ren war (z. B. El, Baal) und se<strong>in</strong>e Gatt<strong>in</strong> vielerorts Aschera hieß (vgl. Dtn<br />

16,21; Ri 6,25; 1Kön 15,13; 2Kön 21,7; 23,4 u. ö.). 283 Lokale bzw. regionale<br />

Jahwe-Kulte (z. B.: Jahwe von Jerusalem, Jahwe von Samaria, Jahwe von<br />

Teman = Süden [Hab 3,3]) bildeten dann wahrsche<strong>in</strong>lich den Ausgangspunkt<br />

e<strong>in</strong>er Entwicklung, <strong>die</strong> im 7. Jh. v. Chr. mit den Vorformen des<br />

Monotheismus<br />

Deuteronomiums 284 und vor allem mit<br />

Deutero-Jesaja (Mitte des 6. Jh. v. Chr.) <strong>in</strong><br />

Richtung exklusivem Monotheismus voranschritt.<br />

Das Be kenntnis zur E<strong>in</strong>zigkeit Jahwes wurde von Deutero-<br />

Jesaja zum grundlegenden theologischen Konzept erhoben. 285 Jahwe,<br />

der ,König Jakobs‘, geht mit den Göttern der Heiden <strong>in</strong>s Gericht und<br />

erweist ihre Nichtigkeit (vgl. Jes 41,21–29; 43,10 u. ö.). Positiv zeigt sich<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>zigkeit Jahwes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er totalen und exklusiven Kompetenz für<br />

Schöpfung, Geschichte und Heil. Der Spruch an Kyros fasst <strong>die</strong>s zusammen:<br />

„Ich b<strong>in</strong> der Herr, und sonst niemand; außer mir gibt es ke<strong>in</strong>en<br />

Gott. Ich habe dich zum Kampf gerüstet ohne dass du mich kanntest,<br />

damit man vom Osten bis zum Westen erkenne, dass es außer mir ke<strong>in</strong>en<br />

Gott gibt. Ich b<strong>in</strong> der Herr, und sonst niemand. Ich erschaffe das<br />

Licht und erschaffe das Dunkel, ich bewirke das Heil und bewirke das<br />

Unheil. Ich b<strong>in</strong> der Herr, der das alles vollbr<strong>in</strong>gt“ (Jes 45,5–7). Weil Jahwe<br />

der E<strong>in</strong>zige ist, muss sich se<strong>in</strong> Königreich als befreiende Tat an se<strong>in</strong>em<br />

Volk erweisen: „Ich b<strong>in</strong> Jahwe, ich, und außer mir gibt es ke<strong>in</strong>en Retter.<br />

... Ich alle<strong>in</strong> b<strong>in</strong> Gott; auch künftig werde ich es se<strong>in</strong>“ (Jes 43,11–13).<br />

Schon jetzt kann Deutero-Jesaja <strong>die</strong> baldige Rettung se<strong>in</strong>es Volkes mit<br />

dem Ruf ankündigen: „De<strong>in</strong> Gott ist König“ (Jes 52,7). Dieser exklusive<br />

Monotheismus setzte sich <strong>in</strong> nachexilischer Zeit (5.–2. Jh. v. Chr.) durch,<br />

jedoch darf man sich das Verhältnis zwischen Mono- und Polytheismus<br />

Jürgen van Oorschot/Markus Witte (Hrsg.), The Orig<strong>in</strong>s of Yahwism, Berl<strong>in</strong><br />

2017; Konrad Schmid, <strong>Theologie</strong> des Alten Testaments, 246–248.<br />

283 Vgl. hier Christian Frevel, Aschera und der Ausschließlichkeitsanspruch Jah -<br />

wes, Bodenheim 1995.<br />

284 Re<strong>in</strong>hard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen,<br />

98, vermuten: „Das Šĕma <strong>in</strong> Dtn 6,4–9 könnte e<strong>in</strong>mal der Text gewesen se<strong>in</strong>, der <strong>die</strong><br />

aus dem 7. Jahrhundert stammende Grundfassung des Deuteronomiums e<strong>in</strong>geleitet<br />

hat.“<br />

285 Vgl. dazu Matthias Albani, Der e<strong>in</strong>e Gott und <strong>die</strong> himmlischen Heerscharen.<br />

Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont der Astralisierung<br />

des Gottesverständnisses im Alten Orient, ABG 1, Leipzig 2000; Dar<strong>in</strong>a


128<br />

4. Die Gegenstände der evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

nicht als strikte Alternative vorstellen. Die Übergänge s<strong>in</strong>d wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

fließend zu denken, wobei e<strong>in</strong>e besonders elegante Lösung dar<strong>in</strong><br />

bestand, den e<strong>in</strong>en Gott Jahwe mit e<strong>in</strong>em himmlischen Hofstaat zu versehen<br />

(Göttersöhne, Engel, Patriarchen, göttliche Kräfte, Gegenspieler<br />

wie z. B. der Satan). 286 Für das antike Judentum gehören <strong>die</strong> E<strong>in</strong>zigkeit<br />

Gottes und se<strong>in</strong>e Herrschaft über Israel unmittelbar zusammen, Jahwe<br />

erweist sich <strong>in</strong> der Durchsetzung se<strong>in</strong>er Herrschaft als der e<strong>in</strong>zige Gott<br />

und se<strong>in</strong> Name wird als der e<strong>in</strong>zige gepriesen werden. In Arist 132<br />

beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e Belehrung über das Wesen Gottes mit der Feststellung,<br />

„dass nur e<strong>in</strong> Gott ist und se<strong>in</strong>e Kraft durch alle D<strong>in</strong>ge offenbar wird, da<br />

jeder Platz voll se<strong>in</strong>er Macht ist.“ Im scharfen Kontrast zur antiken Vielgötterei<br />

betont Philo: „So wollen wir denn das erste und heiligste Gebot<br />

<strong>in</strong> uns befestigen; E<strong>in</strong>en für den höchsten Gott zu halten und zu verehren;<br />

<strong>die</strong> Lehre der Vielgötterei darf nicht e<strong>in</strong>mal das Ohr des <strong>in</strong> Re<strong>in</strong>heit<br />

und ohne Falsch <strong>die</strong> Wahrheit suchenden Mannes berühren.“ 287 So bildete<br />

der exklusive E<strong>in</strong>gott-Glaube das Erkennungsmerkmal des Judentums,<br />

wie z. B. Tacitus zeigt: „bei den Juden gibt es nur e<strong>in</strong>e Erkenntnis<br />

im Geist, den Glauben an e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Gott“ (Historien V 5,4). Der<br />

Monotheismus wurde schließlich im frühen Christentum aufgenommen<br />

(vgl. 1Kor 8,6; Mk 12,28–31) und kann als <strong>die</strong> sachliche Basis aller<br />

neutestamentlichen <strong>Theologie</strong> gelten.<br />

Neben dem theologischen bildete sich auch e<strong>in</strong> philosophischer Monotheismus<br />

aus. 288 Bereits um 500 v. Chr. f<strong>in</strong>det sich bei Xenophanes im Kontext der Kritik der<br />

Anthropomorphismen der homerischen Götterwelt der Gedanke, dass es eigentlich<br />

nur ,e<strong>in</strong>en‘ Gott unter den Göttern geben könne: „E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Gott ist unter den<br />

Göttern und Menschen der Größte“ (εἷς θεὸς ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποιοι μέγιστος).<br />

289 Diese Position gewann vor allem um <strong>die</strong> Zeitenwende herum sehr an E<strong>in</strong>fluss,<br />

denn <strong>die</strong> Vielzahl der Götter und Götterdarstellungen <strong>in</strong> der griechisch-römischen<br />

Welt führte offenbar zu e<strong>in</strong>em Verlust an Plausibilität, <strong>die</strong> Cicero (106–43<br />

Staudt, Der e<strong>in</strong>e und e<strong>in</strong>zige Gott, 71–219; Wolfgang Schrage, Unterwegs<br />

zur E<strong>in</strong>heit und E<strong>in</strong>zigkeit Gottes, BThSt 48, Neukirchen 2002, 4–35.<br />

286 Vgl. He<strong>in</strong>z-Dieter Neef, Gottes himmlischer Thronrat, AzTh 79, Stuttgart 1994.<br />

287 Philo, Decalogo 65; ferner Josephus, Antiquitates 3,91: „Das erste Gebot lehrt uns,<br />

dass es nur e<strong>in</strong> Gott ist und dass er alle<strong>in</strong> zu verehren sei.“<br />

288 Vgl. dazu Polymnia Athanassiadi/Michael Frede (Hrsg.), Pagan Monotheism<br />

<strong>in</strong> Late Antiquity, Oxford 1999; Dar<strong>in</strong>a Staudt, Der e<strong>in</strong>e und e<strong>in</strong>zige Gott, 22–70.<br />

289 Xenophanes Fr. B 23 (zitiert nach: Die Vorsokratiker I, hrsg. v. Jaap Mansfeld, Stuttgart<br />

1983, 224).


4.1 Der e<strong>in</strong>e Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist 129<br />

v. Chr.) mit der Bemerkung wiedergibt: „Es gibt für <strong>die</strong> Götter so viele Namen, wie<br />

es menschliche Sprachen gibt.“ 290 Weil <strong>die</strong> Menge der Götter gar nicht zu bestimmen<br />

ist, stellt sich <strong>die</strong> Frage, welche Gottheiten eigentlich <strong>in</strong> welchem S<strong>in</strong>n verehrt<br />

werden müssen. Vor allem der Mittelplatoniker Plutarch entwickelte <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Kontext e<strong>in</strong>en bis heute aktuellen Gedanken; zwar wird <strong>die</strong> Gottheit bei den verschiedenen<br />

Völkern jeweils anders genannt, dennoch ist sie für alle Menschen <strong>die</strong>selbe:<br />

„So gibt es e<strong>in</strong>en Logos …; aber es gibt nach den Gesetzen bei den verschiedenen<br />

Völkern verschiedene Ehren und Bezeichnungen, und <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en gebrauchen<br />

undeutliche, <strong>die</strong> anderen klarere geheiligte Symbole, welche den S<strong>in</strong>n auf das Göttliche<br />

lenken sollen.“ 291 Je mehr <strong>die</strong> Anthropomorphie der griechischen Göttermythen<br />

skeptischer Kritik unterzogen wurde, desto mehr gewann der E<strong>in</strong>gottglaube,<br />

der Henotheismus und damit verbunden der exklusive Monotheismus auch <strong>in</strong> der<br />

griechischen Welt notwendigerweise an Überzeugungskraft.<br />

Der Monotheismus entstand nicht <strong>in</strong> Israel, wohl aber war das Judentum<br />

der wirkmächtigste Träger <strong>die</strong>ser Gottesvorstellung. In Ägypten<br />

und Mesopotamien gab es Vorformen und Varianten des Monotheismus<br />

292 und <strong>in</strong> der Levante begann er sich ab dem 7. Jh. v. Chr. <strong>in</strong> verschiedenen<br />

Traditionsströmen durchzusetzen, auch im theologischphilosophischen<br />

Denken der Griechen. E<strong>in</strong>e geistesgeschichtlich 293<br />

290 Cicero, De Natura Deorum I 84.<br />

291 Plutarch, Über Isis und Osiris 378A.<br />

292 Für Ägypten ist <strong>die</strong> Amarnazeit von Bedeutung, wo um 1350 v. Chr. der Pharao<br />

Echnaton <strong>die</strong> alle<strong>in</strong>ige Verehrung des Sonnen- und Lichtgottes Aton mit Gewalt<br />

durchsetzen wollte; e<strong>in</strong> Versuch, der scheiterte (vgl. dazu Jan Assmann, Die<br />

Mosaische Unterscheidung, 54–71).<br />

293 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 20, verb<strong>in</strong>det <strong>die</strong>sen epochalen<br />

Wandel h<strong>in</strong> zur Ethisierung der Religion mit vergleichbaren Entwicklungen<br />

<strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a und In<strong>die</strong>n und prägt dafür den Begriff der ,Achsenzeit‘, wonach um 500 v.<br />

Chr. (plus/m<strong>in</strong>us 300 Jahre) für das Denken aller Menschen grundlegende Wandlungen<br />

e<strong>in</strong>setzten: „Alles … erwuchs <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen wenigen Jahrhunderten annähernd<br />

gleichzeitig <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a, In<strong>die</strong>n und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig vone<strong>in</strong>ander<br />

wußten.“ Es entsteht e<strong>in</strong>e „empirisch e<strong>in</strong>sehbare Achse der Weltgeschichte<br />

für alle Menschen“ (a. a. O., 40). Die Idee e<strong>in</strong>er Weltbildrevolution <strong>in</strong> der Achsenzeit<br />

greift Jürgen Habermas, Auch e<strong>in</strong>e Geschichte der Philosophie I, 309, auf und<br />

nennt dafür drei Gründe: „ – der Durchbruch zu e<strong>in</strong>er Weltperspektive, <strong>die</strong> mit dem<br />

Bezugspunkt Gottes (oder e<strong>in</strong>es göttlichen Gesetzes) alles Innerweltliche transzen<strong>die</strong>rt;<br />

– <strong>die</strong> Koppelung des kommunikativen (oder e<strong>in</strong>es funktional äquivalenten)<br />

Zugangs zu Gott (oder dem Göttlichen) mit e<strong>in</strong>em Heilsweg, der das Versprechen<br />

rettender Gerechtigkeit an <strong>die</strong> Befolgung e<strong>in</strong>es universalistischen Ethos b<strong>in</strong>det und<br />

e<strong>in</strong>e Individualisierung der Heilskommunikation fördert; – e<strong>in</strong>e um heilige Schrif-


5.<br />

Die Diszipl<strong>in</strong>en der<br />

evangelischen <strong>Theologie</strong><br />

und ihre Methodik<br />

Das Ensemble der heute geläufigen Diszipl<strong>in</strong>en/Fächer der <strong>Theologie</strong><br />

bildete sich nicht zufällig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grundstruktur ab der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts aus. 496 Das <strong>in</strong> der Aufklärung immer stärker werdende<br />

historische Bewusstse<strong>in</strong> nährte Zweifel an der apostolischen Verfasserschaft<br />

e<strong>in</strong>zelner biblischer Schriften, drängte <strong>die</strong> Inspirationslehre<br />

zurück und relativierte den normativen Anspruch des Kanons. Gleichzeitig<br />

etablierte sich der Begriff der ,historisch-kritischen‘ Kommentierung<br />

der biblischen Schriften (Reimarus, Semler) und so wurde <strong>die</strong> Trennung<br />

zwischen der dogmatischen und biblischen <strong>Theologie</strong> e<strong>in</strong>geleitet.<br />

Wegweisende Etappen auf <strong>die</strong>sem Weg waren <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen<br />

Wort Gottes und Heiliger Schrift bei Johann Salomo Semler sowie<br />

zwischen biblischer und dogmatischer <strong>Theologie</strong> durch Johann Philipp<br />

Gabler. 497 Im 19. Jh. setzte sich dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vielschichtigen und lokal<br />

sehr unterschiedlichen Prozess <strong>die</strong> geläufige Fächeraufteilung der <strong>Theologie</strong><br />

(Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Dogmatik,<br />

Praktische <strong>Theologie</strong>) auf breiter Front durch. Dabei kam es durchaus<br />

vor, dass e<strong>in</strong>zelne Professoren mehrere Fächern lehrten. 498 Weitere Ausdifferenzierungen<br />

und Spezialisierungen <strong>in</strong>nerhalb der Fächer erfolgten<br />

496 Ich lege hier natürlich me<strong>in</strong>e Sicht der theologischen Fächer vor; allerd<strong>in</strong>gs auf der<br />

Basis maßgeblicher Fachliteratur und e<strong>in</strong>es 50-jährigen Umgangs mit <strong>die</strong>sen<br />

Fächern. Das Selbstverständnis e<strong>in</strong>es Faches gibt es ohneh<strong>in</strong> nicht. Mir kommt es<br />

darauf an, <strong>die</strong> Struktur, <strong>die</strong> wesentlichen Methoden, Fragestellungen und <strong>die</strong> aktuellen<br />

Schwerpunkte der Fächer darzustellen.<br />

497 Vgl. dazu <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Buch S. 65–68.<br />

498 Schleiermacher hielt z. B. zahlreiche Lehrveranstaltungen im Neuen Testament ab;<br />

für <strong>die</strong> erste Hälfte des 20. Jh. ist als prom<strong>in</strong>entes Beispiel Paul Althaus (1888–1966)<br />

zu nennen, der <strong>in</strong> Erlangen ab 1932 e<strong>in</strong>e Professur für Systematische <strong>Theologie</strong> und<br />

neutestamentliche Exegese <strong>in</strong>nehatte. Wirkmächtig war vor allem se<strong>in</strong>e Auslegung<br />

des Römerbriefes: Paul Althaus, Der Brief an <strong>die</strong> Römer, NTD 6, Gött<strong>in</strong>gen<br />

12 1976.


242<br />

5. Die Diszipl<strong>in</strong>en der ev. <strong>Theologie</strong> und ihre Methodik<br />

im 20. Jh., wobei sich nach 1945 <strong>die</strong> Religionswissenschaft im Kontext<br />

der zunehmenden Globalisierung immer mehr als eigenständige Diszipl<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>nerhalb des theologischen Fächerkanons etablierte. 499<br />

5.1 Altes Testament<br />

Das Alte Testament nimmt <strong>in</strong>nerhalb des christlichen Kanons <strong>in</strong> mehrfacher<br />

H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e Sonderstellung e<strong>in</strong>.<br />

Name und Umfang<br />

Bereits <strong>die</strong> Bezeichnung stellt e<strong>in</strong> Problem dar: Paulus spricht von der<br />

,Schrift‘ (γραφή), wenn er Propheten- oder Gesetzestexte zitiert (vgl. Gal<br />

4,30; Röm 4,3; 9,17). Zugleich qualifiziert er aber sich selbst <strong>in</strong> 2Kor 3,6 als<br />

Diener des ,neuen Bundes/neuen Testamentes‘ (gr.: καινὴ διαθήκη) und<br />

wertet <strong>die</strong> Verlesung der Mose-Schriften <strong>in</strong> 2Kor 3,14 als ,alten Bund/<br />

altes Testament‘ (gr.: παλαιὸς διαθήκη). Daraus entwickelte sich im<br />

späten 2. Jh. n. Chr. <strong>die</strong> bis heute geläufige Zuordnung/Gegenüberstellung<br />

,Altes Testament‘ und ,Neues Testament‘. Dar<strong>in</strong> kann e<strong>in</strong>e tendenziell<br />

negative Beurteilung gesehen werden und deshalb wurde der Vorschlag<br />

gemacht, vom ,Ersten Testament‘ zu sprechen. 500 ,Alt‘ kann als<br />

499 E<strong>in</strong>e forschungs- und problemgeschichtlich orientierte Gesamt-Darstellung der<br />

neueren evangelischen <strong>Theologie</strong> (e<strong>in</strong>schließlich der Entwicklung <strong>in</strong> den Diszipl<strong>in</strong>en)<br />

von 1870–1965 bietet: Eckhard Less<strong>in</strong>g, Geschichte der deutschsprachigen<br />

evangelischen <strong>Theologie</strong> von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart I.II.III, Gött<strong>in</strong>gen<br />

2000.2004.2009.<br />

500 So vor allem Erich Zenger, E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> das Alte Testament, 14–16, der zudem<br />

für das ,Alte Testament‘ des Judentums <strong>die</strong> Bezeichnung ,Hebräische Bibel‘ oder<br />

,jüdische Bibel‘ vorschlägt. Weitere Möglichkeiten: ,Bibel Israels‘ oder nach den drei<br />

Kanonteilen Tora (,Weisung‘) – Nebiim (,Propheten‘) – Ketubim (,Schriften‘) wird<br />

aus den Anfangsbuchstaben T-N-K das Kunstwort ,Tenak‘ oder ,Tanak‘ zur Bezeichnung<br />

der Bibel im Judentum gebildet. Andere wollen <strong>die</strong>se Bezeichnungen auch auf<br />

das (umfangreichere) Alte Testament <strong>in</strong> christlicher Rezeption übertragen. Zwei<br />

Probleme bleiben jedoch bestehen: 1) Es gibt nicht nur e<strong>in</strong> hebräisches, sondern<br />

auch e<strong>in</strong> griechisches ,Altes Testament‘ mit e<strong>in</strong>em eigenen Profil; an ihm orientierte<br />

sich das frühe Christentum, während das Judentum <strong>die</strong> hebräischen Schriften zur<br />

Grundlage machte. 2) Die christliche Interpretation des ,Alten Testaments‘ unter-


5.1 Altes Testament 243<br />

Abwertung, aber auch positiv im S<strong>in</strong>n von ,ursprünglich‘, ,seit langem<br />

bestehend‘, ,ehrwürdig‘, ,zuerst‘ verstanden werden, so dass bei e<strong>in</strong>em<br />

wertschätzenden Sprachgebrauch <strong>die</strong> e<strong>in</strong>geführten traditionellen Be -<br />

zeichnungen beibehalten werden sollten.<br />

Der zweite Problemkreis ergibt sich aus dem unterschiedlichen<br />

Umfang der Schriftensammlungen. Das ,Alte Testament‘ ist ke<strong>in</strong> Buch<br />

aus e<strong>in</strong>em Guss, sondern e<strong>in</strong>e Sammlung von Schriften unterschiedlicher<br />

<strong>in</strong>haltlicher und formaler Art, Herkunft und Zeit. Während <strong>die</strong><br />

Hebräische Bibel 24 Schriften umfasst, enthält <strong>die</strong> griechische Übersetzung<br />

(Septuag<strong>in</strong>ta = LXX) 501 neben Ergänzungen und Bearbeitungen der<br />

ursprünglichen Schriften neun Bücher zusätzlich (Sapientia Salomonis,<br />

Jesus Sirach, Psalmen Salomos, Judith, Tobit und erstes bis viertes Makkabäerbuch),<br />

<strong>die</strong> alttestamentliche Apokryphen genannt werden (von<br />

gr. ἀπόκρυφος = ,verborgen, geheim‘). H<strong>in</strong>zu kommt <strong>die</strong> samaritanische<br />

Überlieferung, <strong>die</strong> ihren Kanon – wie <strong>die</strong> Sadduzäer – auf den Pentateuch<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Textform e<strong>in</strong>schränkte. 502<br />

Die wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> Alexandria seit der Mitte des 3. Jh. v. Chr. entstandene<br />

Septuag<strong>in</strong>ta ist nicht nur e<strong>in</strong>e Übersetzung, sondern auch e<strong>in</strong>e<br />

gezielte Interpretation der jüdischen Tradition für <strong>die</strong> Diaspora. 503 Die<br />

Septuag<strong>in</strong>ta war <strong>die</strong> ,Schrift‘ der ntl. Autoren und des frühen Christentums;<br />

sie entwickelte e<strong>in</strong>e außergewöhnliche christliche Wirkungsgeschichte<br />

und <strong>die</strong> katholischen Bibelausgaben orientieren sich am Kanon<br />

scheidet sich jenseits von Umfang und Übersetzungen wesentlich von der jüdischen<br />

Auslegung.<br />

501 Die Septuag<strong>in</strong>ta als griechische Übersetzung des Alten Testaments soll nach der<br />

Überlieferung des Aristeasbriefes durch 72 Gelehrte <strong>in</strong> 72 Tagen entstanden se<strong>in</strong>,<br />

daher Septuag<strong>in</strong>ta (LXX); historisch wahrsche<strong>in</strong>lich dauerte <strong>die</strong> Übersetzungsarbeit<br />

um <strong>die</strong> 100 Jahre.<br />

502 Vgl. hier Stefan Schorch (Hrsg.), The Samaritan Pentateuch: Leviticus, Berl<strong>in</strong><br />

2018.<br />

503 Vgl. dazu Michael Tilly, <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Septuag<strong>in</strong>ta, Darmstadt 2005; als<br />

wissenschaftlich fun<strong>die</strong>rte deutsche Übersetzung der Septuag<strong>in</strong>ta vgl.: Septuag<strong>in</strong>ta<br />

Deutsch. Das griechische Alte Testament <strong>in</strong> Übersetzung, hrsg. v. Wolfgang<br />

Kraus/Mart<strong>in</strong> Karrer, Stuttgart 2008; ferner: Septuag<strong>in</strong>ta Deutsch. Erläuterungen<br />

und Kommentare I.II, hrsg. v. Wolfgang Kraus/Mart<strong>in</strong> Karrer,<br />

Stuttgart 2011 (als <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> besonders geeignet: Siegfried Kreuzer, Entstehung<br />

und Entwicklung der Septuag<strong>in</strong>ta im Kontext alexandr<strong>in</strong>ischer und frühjüdischer<br />

Kultur und Bildung, Septuag<strong>in</strong>ta Deutsch I, 3–39).


6.<br />

<strong>Evangelische</strong> <strong>Theologie</strong><br />

und das Denken der Moderne<br />

Wenn <strong>die</strong> evangelische <strong>Theologie</strong> e<strong>in</strong>e anerkannte Wissenschaft und<br />

e<strong>in</strong>e kritische Gesprächspartner<strong>in</strong> der Kirche bleiben will, dann reicht<br />

es nicht aus, ihre Geschichte zu bedenken, ihr Wesen und ihre Aufgabe<br />

zu klären und ihre E<strong>in</strong>heit zu bestimmen. Sie muss vielmehr gerade<br />

aus den vorangehenden Überlegungen heraus <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, auch auf<br />

<strong>die</strong> denkerischen Herausforderungen der (westlichen) Neuzeit (ab dem<br />

16. Jh.) zu reagieren. Es entstanden <strong>in</strong> den vergangenen 500 Jahren neue<br />

Denk-, Erfahrungs- und Handlungs-Mentalitäten, <strong>die</strong> das Verhältnis<br />

des Menschen zu Gott, zur Kirche und zu sich selbst grundlegend änderten<br />

und sich <strong>in</strong> der Moderne (ab dem 19. Jh.) beschleunigten. An <strong>die</strong><br />

Stelle e<strong>in</strong>er eher schicksalhaften oder gottgegebenen Stellung <strong>in</strong> der<br />

Welt traten <strong>die</strong> umfassende Selbstdef<strong>in</strong>ition und Selbstbestimmung des<br />

Menschen 804 und Vernunft, Subjektivität, Pluralität sowie Kritik wurden<br />

zu Kennzeichen der Moderne. Das Jenseits und mit ihm <strong>die</strong> Seele<br />

verschw<strong>in</strong>den und an ihre Stelle tritt das bewusste und bestimmende<br />

Selbst. Wie kam es zu <strong>die</strong>sem neuen Wirklichkeitsverständnis, welche<br />

Chancen und Gefahren s<strong>in</strong>d mit ihm verbunden und welche Antworten<br />

gibt <strong>die</strong> evangelische <strong>Theologie</strong>?<br />

6.1 Die Transformationen des Denkens<br />

<strong>in</strong> der Neuzeit<br />

Nach fast 1000 Jahren der politischen, militärischen und kulturellen<br />

Dom<strong>in</strong>anz geriet das Christentum ab dem 15. Jh. allmählich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e lang<br />

anhaltende geistige Krise, <strong>die</strong> bis heute anhält und <strong>die</strong> <strong>Theologie</strong> <strong>in</strong>sge-<br />

804 Vgl. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 167: „Früher waren <strong>die</strong><br />

Religionen verbunden mit der Gesamtheit der sozialen Zustände. Von ihnen wurde


352<br />

6. <strong>Evangelische</strong> <strong>Theologie</strong> und das Denken der Moderne<br />

samt vor enorme Herausforderungen stellt. Die Plausibilität e<strong>in</strong>es<br />

geschlossenen, am biblischen Weltbild orientierten religiösen Herrschaftssystems<br />

wurde immer mehr <strong>in</strong>frage gestellt und langsam wuchs<br />

e<strong>in</strong>e umstürzende Erkenntnis: Die Welt kann aus sich selbst erklärt werden<br />

und man benötigt dafür weder e<strong>in</strong>en Gott noch e<strong>in</strong>e Kirche. Nicht<br />

Gott, sondern der Mensch ist der Mittelpunkt des Kosmos. E<strong>in</strong>e große<br />

anthropologische Kehre bestimmt seitdem das Denken; weg von Gott<br />

bzw. der Kirche und h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em auf allen Gebieten selbstbestimmten<br />

Leben. 805<br />

Bereits mit der Renaissance und der Reformation eröffneten sich<br />

neue Horizonte. In der Renaissance (15./16. Jh.) 806 wurde mit Rückgriff<br />

auf <strong>die</strong> Antike <strong>in</strong> Philosophie und Dichtung (Humanismus), <strong>in</strong> der<br />

Kunst (Michelangelo, Raffael), <strong>in</strong> den Naturwissenschaften (Leonardo da<br />

V<strong>in</strong>ci, Galilei, Kepler) und der Mediz<strong>in</strong> (Paracelsus) das moderne Individuum<br />

geboren. Es entstanden immer mehr Universitäten und Akademien,<br />

Erf<strong>in</strong>dungen wie der Buchdruck (ab 1450: Gutenberg) veränderten<br />

<strong>die</strong> Welt und der Blick weitete sich durch Entdeckungsreisen (Kolumbus,<br />

Vasco da Gama), den systematischen Fern-/Großhandel sowie den<br />

kulturellen Austausch mit der arabischen Welt. Mit der Reformation<br />

kommt e<strong>in</strong> völlig neues Element h<strong>in</strong>zu: <strong>die</strong> erfolgreiche Durchsetzung<br />

der religiösen Selbstbestimmung. Mart<strong>in</strong> Luther war e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong><br />

Mensch des Mittelalters, andererseits markiert se<strong>in</strong> Widerstand gegen<br />

den Papst und den Kaiser e<strong>in</strong>e Wende: Das religiöse Individuum widersetzt<br />

sich den herrschenden Mächten se<strong>in</strong>er Zeit, es protestiert 807 und<br />

fordert Selbstbestimmung und <strong>in</strong>dividuelle Freiheiten e<strong>in</strong>. Der Mensch<br />

<strong>die</strong> Religion getragen, und <strong>die</strong>se rechtfertigte sie wiederum ihrerseits. Die Lebensführung<br />

jedes Tages war e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> <strong>die</strong> Religion. Diese war selbstverständlich<br />

allgegenwärtige Lebensluft. Heute ist <strong>die</strong> Religion e<strong>in</strong>e Sache der Wahl.“<br />

805 Diesen Prozess beschreibt ausführlich: Jan Rohls, Protestantische <strong>Theologie</strong> der<br />

Neuzeit I.II, Tüb<strong>in</strong>gen 2018.<br />

806 Vgl. hierzu Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance,<br />

München 2017.<br />

807 Zum Protest als Signum der Neuzeit vgl. Joachim Knape, 1521. Mart<strong>in</strong> Luthers<br />

rhetorischer Moment oder <strong>die</strong> <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> des Protests, 309: „Im Protest erhebt sich<br />

<strong>die</strong> Stimme des Unterschieds zur Macht, und <strong>in</strong> ihm artikuliert sich der Wille zur<br />

Durchsetzung eigener Anliegen.“


6.1 Die Transformationen des Denkens <strong>in</strong> der Neuzeit 353<br />

begreift sich zunehmend als Mittelpunkt der Welt, Subjekt des Geschehens<br />

und Herr des eigenen Lebens.<br />

Der Paradigmenwechsel zur radikalen Subjektphilosophie erfolgte<br />

im 17. Jh.; hier zerriss das Band zwischen Philosophie und <strong>Theologie</strong> und<br />

bildeten sich jene Argumentationsmuster heraus, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der neuzeitlichen<br />

Debatte bis heute bestimmend s<strong>in</strong>d. Vor allem René Descartes<br />

(1596–1650) und Baruch Sp<strong>in</strong>oza (1632–1677) beförderten <strong>die</strong> Vorstellung<br />

e<strong>in</strong>er rationalen Welterklärung und verhalfen dem Konzept e<strong>in</strong>er<br />

mit der Vernunft übere<strong>in</strong>stimmenden natürlichen Religion an E<strong>in</strong> -<br />

fluss. 808 Im 18. Jh. setzte sich das Programm e<strong>in</strong>es von der Vernunft bestimmten<br />

Lebens umfassend durch; <strong>die</strong>se Entwicklung erfährt mit der<br />

Aufklärung, dem Idealismus und der Romantik bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s 19. Jh.<br />

e<strong>in</strong>en ersten Höhepunkt. 809 Es wird zur großen Aufgabe der Philosophie,<br />

<strong>die</strong> Vernunft <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt und <strong>die</strong> Welt zur Vernunft zu br<strong>in</strong>gen! Die von<br />

Immanuel Kant (1724–1804) vorgetragene Def<strong>in</strong>ition der Aufklärung<br />

als „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“<br />

810 durch den Gebrauch des Verstandes signalisiert <strong>die</strong> Grundrichtung:<br />

Die Befreiung aus unvernünftigen Vorstellungen und vernunftwidrigen<br />

autoritären Strukturen. Die Vernunft kann das Ganze der Welt<br />

ohne metaphysische Annahmen ergründen und beteiligt sich konstruktiv<br />

an der Erstellung und Gestaltung der Wirklichkeit. In den Mittel-<br />

808 René Descartes, Die Pr<strong>in</strong>zipien der Philosophie, hrsg. v. Christian Wohlers,<br />

Hamburg 2005 (= 1644), 14 f., belebte den antiken Skeptizismus neu und formulierte:<br />

„… Denn offenbar ist es widersprüchlich, anzunehmen, daß dasjenige, das denkt, <strong>in</strong><br />

eben derselben Zeit, <strong>in</strong> der es denkt, nicht existieren sollte. Und deshalb ist <strong>die</strong><br />

Erkenntnis, ich denke, daher b<strong>in</strong> ich (ego cogito, ergo sum), <strong>die</strong> überhaupt erste und<br />

sicherste, auf <strong>die</strong> jeder regelgeleitet Philosophierende stößt.“ Vgl. ferner Baruch<br />

Sp<strong>in</strong>oza, Tractatus theologico-politicus, hrsg. v. Günter Gawlik u. a., Darmstadt<br />

1979 (= 1670), 231: „Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, daß <strong>die</strong> Methode der<br />

Schrifterklärung sich <strong>in</strong> nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet,<br />

sondern völlig mit ihr übere<strong>in</strong>stimmt.“<br />

809 Die erste Generation der Aufklärung war ke<strong>in</strong>eswegs grundsätzlich religions-, theologie-<br />

und kirchenfe<strong>in</strong>dlich, sondern man wandte sich gegen <strong>die</strong> vernunftwidrige<br />

Bevormundung durch <strong>die</strong> Amtskirche und orthodoxe bzw. pietistische Theologen.<br />

810 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berl<strong>in</strong>ische<br />

Monatsschrift 1784, Zwölftes Stük, December: „Aufklärung ist der Ausgang des<br />

Menschen aus se<strong>in</strong>er selbstverschuldeten Unmündigkeit. … Habe Muth dich de<strong>in</strong>es<br />

eigenen Verstandes zu be<strong>die</strong>nen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

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