Telematikinfrastruktur STARTBEREIT
Ab 1. Juli können sich Physiotherapie-Praxen anschließen
Ab 1. Juli können sich Physiotherapie-Praxen anschließen
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№ 04/2021<br />
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<strong>Telematikinfrastruktur</strong><br />
<strong>STARTBEREIT</strong><br />
Ab 1. Juli können sich Physiotherapie-Praxen anschließen
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8<br />
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Reduzierung des Verwaltungsaufwands<br />
Liebe Leserin,<br />
lieber Leser,<br />
endlich geht es los, möchte man fast rufen: Die Physiotherapiepraxen<br />
dürfen sich als erste Gruppe der Heilmittelerbringer im<br />
Juli dieses Jahres an die <strong>Telematikinfrastruktur</strong> anschließen.<br />
Die TI, wie sie abgekürzt genannt wird, ist ein essenzieller Teil<br />
der Digitalisierung des Gesundheitswesens, Ärztinnen und<br />
Ärzte nutzen sie schon seit Jahren erfolgreich. Sie bedeutet<br />
nicht weniger als eine Revolution im Informationsfluss zwischen<br />
den wichtigsten Akteuren: den Therapeut*innen, den Arztpraxen<br />
und den Krankenkassen. Die TI macht mit KIM, der „Kommunikation<br />
im Medizinwesen“, vieles leichter. Nicht nur die ärztlichen<br />
Verordnungen nehmen in Zukunft einen digitalen und damit<br />
einfacheren, sichereren Weg. Auch erhalten die Therapeut*innen<br />
Zugang zu Informationen, die für die Behandlung wichtig sein<br />
können. Die elektronische Patientenakte, kurz ePA, macht beispielsweise<br />
Daten über Vorerkrankungen oder auch Röntgenbilder<br />
digital verfügbar, vorausgesetzt, die Patient*innen stimmen<br />
dem zu. Auch für die ePA ist der 1. Juli ein wichtiger<br />
Stichtag: Ab dann müssen sich alle Arztpraxen daran anbinden.<br />
Was TI, KIM und ePA für die Physio therapeuten bedeutet,<br />
haben wir in dieser Ausgabe von Zukunft Praxis für Sie untersucht<br />
und geben dabei Hinweise, wie der Anschluss funktionieren<br />
kann. Dass die Kosten dafür von den Krankenkassen<br />
übernommen werden, sei an dieser Stelle schon einmal erwähnt.<br />
Das allein ist aus meiner Sicht schon ein guter Grund,<br />
den Schritt in die digitale Zukunft zu wagen, der sich für alle<br />
nur lohnen kann.<br />
Ihr Dr. Jochen Pfänder<br />
Optica-Geschäftsführer<br />
Inhalt<br />
4<br />
Kompakt<br />
News und Meldungen<br />
8<br />
Vor dem Startschuss<br />
Die Physiotherapeut*innen können sich ab<br />
1. Juli an die <strong>Telematikinfrastruktur</strong> anschließen.<br />
Zur Pflicht wird das erst im Jahr 2026.<br />
14<br />
Nach vorne schauen<br />
Krisen richtig bewältigen: Die Logopädin<br />
Sabine Degenkolb-Weyers im Interview über<br />
Resilienz in Gesundheitsberufen.<br />
16<br />
Fragebogen: PRAXISnah<br />
Dieses Mal mit der Logopädin Susanne<br />
Gutekunst und dem Physiotherapeuten<br />
Timo Gutekunst in Saalfeld-Rudolstadt<br />
18<br />
Therapeutenwissen<br />
Neuroathletik: Training mit allen<br />
drei Orientierungssystemen<br />
19<br />
Information & Standards<br />
Wissenswertes aus der Welt der Abrechnung,<br />
Vorschau und Impressum<br />
ZUKUNFT PRAXIS EDITORIAL3
THERAPIE<br />
IN ZAHLEN<br />
3,41 %<br />
Von 10 auf 20<br />
UM DIESEN PROZENTSATZ SOLLTE LAUT EINER VOR-<br />
LÄUFIGEN EINIGUNG IN DEN VERHANDLUNGEN MIT HAT DER G-BA DIE HÖCHSTMENGE<br />
DEM GKV-SPITZENVERBAND UM DEN ERGOTHERA- DER EINHEITEN PRO VERORDNUNG<br />
PEUTISCHEN RAHMENVERTRAG DIE PREISE FÜR<br />
FÜR DIE DIAGNOSEGRUPPEN PS2 UND<br />
ERGOTHERAPEUTEN STEIGEN. Die DVE-Bundesverhandlungskommission<br />
und der DVE-Vorstand haben HÖHT und damit ein Problem der neuen<br />
PS3 IM BEREICH ERGOTHERAPIE ERdiesen<br />
Kompromiss Ende März abgelehnt.<br />
Heilmittel-Richtlinie beseitigt.<br />
20 € 10<br />
4.521<br />
ANGEHENDE PHYSIOTHERA-<br />
KÖNNEN ÄRZT*INNEN PRO<br />
PEUT*INNEN HABEN 2018 DIE<br />
COVID-19-SCHUTZIMPFUNG<br />
AUSBILDUNG ERFOLGREICH<br />
ABRECHNEN und zwar sowohl COVID-19-SCHNELLTESTS,<br />
ABSOLVIERT. Laut Bundesgesundheitsministerium<br />
ist das<br />
für die Erst- als auch für die SOGENANNTE POC-TESTS,<br />
Abschlussimpfung. Seit dem DÜRFEN PHYSIOPRAXEN PRO<br />
der niedrigste Stand seit 2009.<br />
7. April 2021 dürfen zunächst die MITARBEITER UND MONAT<br />
Damals waren es noch 5.128.<br />
Hausarztpraxen an der Impfkampagne<br />
teilnehmen, später gegenüber der Kassenärztlichen<br />
BESCHAFFEN, anwenden und<br />
sollen alle Vertragsarztpraxen Vereinigung abrechnen.<br />
miteinbezogen werden.<br />
2,3<br />
61,3 %<br />
BETRÄGT DER FAKTOR, UM<br />
DER TEILNEHMER*INNEN EINER TELEFONUMFRAGE IM RAHMEN DEN DAS RISIKO FÜR EINEN<br />
DER KRANKHEITSLAST-STUDIE „BURDEN 2020“ GABEN AN, in den PROFILFUSSBALLER, an einer<br />
vergangenen 12 Monaten unter Rückenschmerzen gelitten zu haben, Gonarthrose zu erkranken, im<br />
dabei traten die Schmerzen im unteren Rücken doppelt so oft auf als Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung<br />
erhöht die im oberen Rücken.<br />
ist.<br />
Neues aus der Welt<br />
der Digitalisierung<br />
von Prof. Dr. Thomas<br />
Grechenig<br />
Elektronische Kommunikation<br />
ist Vertrauenssache<br />
Physiotherapiepraxen können sich ab 1. Juli 2021 freiwillig an die<br />
<strong>Telematikinfrastruktur</strong> [TI] anschließen. Aber was haben die Praxen<br />
eigentlich davon? Die TI ist die vertrauenswürdige Infrastruktur, auf deren<br />
Basis (geprüfte und zugelassene) Softwarelösungen bereitgestellt<br />
werden. Dazu zählen unter anderem die elektronische Verordnung,<br />
die elektronische Patientenakte (ePA) und das E-Mail-Verfahren namens<br />
KIM (Kommunikation im Medizinwesen). Mit KIM kommunizieren<br />
medizinische Einrichtungen und Leistungserbringer einfach und sicher<br />
untereinander.<br />
Als Therapeut können Sie beispielsweise Patienteninformationen<br />
mit dem behandelnden Arzt teilen – sicher und vertraulich. KIM setzt<br />
etablierte kryptografische Methoden ein, die fortlaufend und verlässlich<br />
an die sich wandelnden digitalen Einbruchsversuche angepasst<br />
werden. Diese Verfahren stellen eine hohe Anforderung an die Ausgestaltung<br />
der TI und deren Anwendungen dar, sind jedoch zum Schutz<br />
sensibler Gesundheits- und Patientendaten unumgänglich und nützlich.<br />
KIM ist somit nicht nur ein sicheres Verfahren zum Tausch sensibler<br />
Daten, sondern ein gutes Beispiel dafür, welche seriösen Potenziale in<br />
einer „vernetzten“ und patientenorientierten Versorgung mit Hilfe digitaler<br />
Lösungen liegen. Der Anschluss an die TI ist einfach und intuitiv.<br />
Die Anschlusskosten werden komplett erstattet. Mit dem Einstieg in<br />
die TI legen Sie die Basis für eine zukunftsorientierte Kommunikation<br />
mit Ihren Patienten, die Ihnen bald Dokumente aus deren ePA verfügbar<br />
machen werden. Mit den Ärzten, die KIM verbindlich nutzen, sind<br />
Sie damit digital auf Augenhöhe.<br />
Kurz &<br />
Knapp<br />
Praxisinhaber können neben<br />
eigenen Mitarbeitern auch<br />
Patient*innen und andere auf<br />
das Coronavirus testen und<br />
die Kosten dafür mit der zuständigen<br />
Kassenärztlichen<br />
Vereinigung (KV) abrechnen.<br />
Sie müssen sich vom örtlichen<br />
Gesundheitsamt als Testzentrum<br />
beauftragen und bei der<br />
KV registrieren lassen. +++ Für<br />
Monate mit durchgehender<br />
Kurzarbeit Null, also einem Arbeitsausfall<br />
von 100 Prozent,<br />
erwerben Arbeitnehmer*innen<br />
nach einem Urteil des Landesarbeitsgerichts<br />
Düsseldorf, das<br />
sich dabei an Rechtsprechung<br />
des EuGH gehalten hat, keine<br />
Urlaubsansprüche nach § 3<br />
BurlG (Bundesurlaubsgesetz).<br />
bit.ly/nullurlaub +++ Der<br />
Gemeinsame Bundesausschuss<br />
(G-BA) hat am 18. März<br />
beschlossen, die geltenden<br />
Corona-Sonderregeln hinsichtlich<br />
Videobehandlung, Verordnungsvorgaben<br />
und Unterbrechungsregelungen<br />
über den<br />
31. März hinaus um weitere 6<br />
Monate zu verlängern. Die Beschlüsse<br />
sind zum 1. April 2021<br />
in Kraft getreten.<br />
4 ZUKUNFT PRAXIS KOMPAKT ZUKUNFT PRAXIS KOMPAKT5
RATGEBER RECHT<br />
STUDIE<br />
Sport schützt<br />
vor Schmerzen<br />
Eine Studie der irischen Limerick<br />
University zeigt, dass<br />
bei über 50-Jährigen ein<br />
deutlicher Zusammenhang<br />
zwischen körperlicher Aktivität<br />
und Schmerzen besteht. Wer<br />
in der Altersgruppe nicht leitliniengemäß<br />
trainiert, hat ein<br />
doppelt so hohes Risiko, innerhalb<br />
von zwei Jahren stark<br />
beeinträchtigende Schmerzen<br />
zu entwickeln, als sportlich aktive.<br />
In der Longitudinalstudie<br />
wurden Daten von rund 8.200<br />
Personen in der Altersgruppe<br />
über 50 in drei Wellen zwischen<br />
2010 und 2014 gesammelt<br />
und ausgewertet.<br />
PHYSIOTHERAPIE<br />
Verbände bereiten<br />
Klagen vor<br />
Der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) hat am<br />
31. März 2021 die neue Preisliste für physiotherapeutische<br />
Leistungen mit einer Erhöhung der<br />
Bundeshöchstpreise um 1,51 Prozent veröffentlicht,<br />
die am 1. April in Kraft getreten ist. Die Preisanpassung<br />
ergänzt die bestehenden und weiter<br />
gültigen Rahmenverträge mit den Krankenkassen.<br />
Das Schiedsverfahren ist damit nicht abgeschlossen,<br />
da die vier maßgeblichen Verbände sich mit<br />
dem GKV-SV nicht auf eine weitere Erhöhung der<br />
Vergütung einigen konnten. Zum Redaktionsschluss<br />
bereiteten die Verbände eine mögliche<br />
Klage gegen den Schiedsspruch und ein zweites<br />
Schiedsverfahren vor. Der Bundesverband selbstständiger<br />
Physiotherapeuten (IFK) hat die Klage<br />
gegen den Schiedsspruch bereits beschlossen.<br />
DEMONSTRATION<br />
„Das Maß ist voll“<br />
Die Vereinten Therapeuten rufen am 5. Juni 2021 in Berlin zu<br />
einer Großdemonstration auf. Sie wollen darauf aufmerksam<br />
machen, dass die aktuellen Änderungen im Heilmittelbereich<br />
aus ihrer Sicht nicht weit genug gehen. Dazu gehören<br />
Themen wie bessere Vergütung, Entbürokratisierung, Reformierung<br />
der Ausbildung, Abschaffung der Richtgrößen und<br />
Regressverfahren und fehlende Mitbestimmung. Eingeladen<br />
sind Ergotherapeut*innen, Diätassistent*innen, Logopäd*innen,<br />
Physiotherapeut*innen, Podolog*innen und Masseur*innen<br />
sowie alle Heilmittelberufsverbände, Schulen, Schüler<br />
und Studenten. Mehr dazu hier: bit.ly/theraprotest<br />
GESAGT<br />
Wenn wir die sich demografisch<br />
wandelnde Bevölkerung weiter<br />
erfolgreich medizinisch versorgen<br />
wollen, wird es gar keinen<br />
anderen Weg geben, als das<br />
System wirklich konsequent zu<br />
digitalisieren.<br />
Prof. Dr. Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité,<br />
anlässlich des „TI Future Summit“ der gematik, bei der die Weiterentwicklung<br />
der <strong>Telematikinfrastruktur</strong> zur TI 2.0 diskutiert wurde.<br />
Dürfen Patient*innen ihre<br />
Akte immer einsehen?<br />
Rechtsanwalt Dr. Dr. Thomas Ruppel<br />
über die Rechte von Therapeut*innen,<br />
ihren Patient*innen die Akteneinsicht<br />
zu verwehren.<br />
Patient*innen können die Akteneinsicht jederzeit<br />
grundlos verlangen. Ein Verweigerungsrecht seitens<br />
der Therapeut*innen besteht nur dann ausnahmsweise,<br />
wenn erhebliche therapeutische Gründe<br />
oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen.<br />
Erhebliche therapeutische Gründe bestehen<br />
bei massiven physischen oder psychischen<br />
Gefahren, wie dem drohenden Suizid. Erhebliche<br />
Rechte Dritter sind in der Patientenakte befindliche<br />
Äußerungen anderer Personen, etwa wenn Familienangehörige<br />
in die Behandlung einbezogen<br />
wurden. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des<br />
Behandlers steht nur selten einer Einsichtnahme<br />
entgegen, abfällige Bemerkungen in der Patientenakte<br />
reichen hierfür nicht aus. Die Verweigerung der<br />
Einsichtnahme müsste dann auch begründet werden.<br />
Anstelle einer vollständigen Verweigerung der<br />
Einsicht müsste auch stets geprüft werden, ob eine<br />
Schwärzung einzelner Passagen ausreichen würde<br />
oder ob der Patient bei einer drohenden Gefährdung<br />
durch einen Arzt oder Angehörige begleitet<br />
werden könnte. Eine nachträgliche „Korrektur“ der<br />
Patientenakte oder das Anlegen einer Zweitakte<br />
gefährdet die Glaubwürdigkeit des Therapeuten insgesamt<br />
und führt bei Haftpflichtfällen oder Abrechnungsprüfungen<br />
zu großen rechtlichen Nachteilen<br />
für den Therapeuten.<br />
Den ganzen Artikel lesen Sie unter<br />
www.optica.de/akteneinsicht<br />
6 ZUKUNFT PRAXIS KOMPAKT ZUKUNFT PRAXIS KOMPAKT7
TELEMATIKINFRASTRUKTUR<br />
Vor dem<br />
Startschuss<br />
In wenigen Wochen<br />
können sich Physiotherapeuten<br />
freiwillig<br />
an die <strong>Telematikinfrastruktur</strong><br />
anschließen<br />
lassen. Was heißt das<br />
konkret, und was<br />
können interessierte<br />
Praxisinhaber tun, um<br />
daran teilzunehmen?<br />
TEXT: HAJO HOFFMANN<br />
In diesem Beitrag<br />
1.<br />
Physiotherapiepraxen können sich<br />
am 1. Juli an die TI anschließen.<br />
2.<br />
Ist die Praxis auf die TI vorbereitet,<br />
dauert der Anschluss eine Stunde.<br />
3.<br />
Die TI vereinfacht vieles und läuft<br />
nahezu störungsfrei.<br />
m 1. Juli 2021 beginnt für<br />
Physiotherapeuten und<br />
Physiotherapeutinnen<br />
eine neue Ära, wenn<br />
auch sie sich wie Ärzte,<br />
Psychotherapeuten<br />
und andere Beteiligte des Gesundheitswesens<br />
an die Telematik-Infrastruktur, kurz TI,<br />
anschließen lassen können. Für viele Praxen<br />
hat das Datum zwar eher symbolische Bedeutung,<br />
da keine Verpflichtung besteht, schon ab<br />
diesem Tag angedockt zu sein. Außerdem ist<br />
noch nicht sicher, ob wirklich alle Rädchen der<br />
komplexen Technik dann schon reibungslos<br />
ineinandergreifen. Aber früher oder später<br />
wird die digitale Vernetzung auch in die physio-<br />
ZUKUNFT PRAXIS TITEL9
therapeutischen Behandlungsräume Einzug<br />
halten und vieles verändern und vereinfachen.<br />
Nach den Erfahrungen mit dem verzögerten<br />
Inkrafttreten der neuen Heilmittelrichtlinie<br />
stellt sich für viele die Frage, wie sicher der<br />
Termin 1. Juli überhaupt ist. Die Pressestelle<br />
der gematik, die als bundeseigener Betrieb die<br />
TI betreibt, dazu auf eine entsprechende Anfrage<br />
der Redaktion: „Ja, die gematik hat ihre<br />
gesetzlichen Aufgaben erfüllt. Aus Sicht der<br />
gematik steht einer Anbindung der Physiotherapeuten<br />
nichts mehr im Weg.“ Allerdings verweist<br />
die Pressestelle auch auf weitere Faktoren<br />
außerhalb der gematik-Zuständigkeit: die<br />
Ausgabe der Heilberufsausweise und der SMC-<br />
B-Karten als Praxis-ID sowie die Praxisverwaltungssysteme<br />
(PVS) vor Ort. Vor allem diese in<br />
den Praxen arbeitenden Programme könnten<br />
das Nadelöhr bilden, wie aus Branchenkreisen<br />
zu hören ist – siehe auch das Interview mit dem<br />
IT-Experten Uwe Eisner des Verbands Physio-Deutschland<br />
(S.12).<br />
Nach Auskunft der gematik können Physiotherapeutinnen<br />
und Physiotherapeuten vom<br />
Start weg Stammdaten aus der elektronischen<br />
Gesundheitskarte auslesen, sie haben auch<br />
Zugriff auf den elektronischen Medikationsplan<br />
sowie den Notfalldatensatz, sofern der<br />
oder die Versicherte dem zugestimmt hat. Ab<br />
dem 1. Januar 2022 – also ein halbes Jahr später<br />
– werde auch die elektronische Patientenakte<br />
den Physiotherapeuten zur Verfügung stehen,<br />
so die gematik.<br />
Bei der Frage, wann der beste Zeitpunkt<br />
fürs Anschließen ist, sollte bedacht werden,<br />
dass früher oder später – genauer: bis 1. Januar<br />
2026 – sowieso jeder Heilmittelerbringer an<br />
das System angedockt sein muss, denn ab diesem<br />
Zeitpunkt ersetzt die elektronische Verordnung<br />
das Rezept auf Papier. Zwar sind noch<br />
nicht alle Vorteile, die mit der TI verbunden<br />
sind, gleich von Anfang an zu nutzen – aber<br />
wenn die entsprechenden Dienste freigeschaltet<br />
werden, sind die Frühentschlossenen von<br />
Anfang an dabei.<br />
Was es für den Anschluss<br />
an die TI braucht<br />
„Sind alle Komponenten vorhanden und vorbereitet<br />
und die IT-Umgebung TI-ready, ist der<br />
Physiotherapeut*innen<br />
können<br />
vom Start der TI<br />
weg Stammdaten<br />
aus der elektronischen<br />
Gesundheitskarte<br />
auslesen.<br />
Anschluss innerhalb von einer Stunde erledigt“,<br />
sagt Björn Brockt, Leiter der Abteilung<br />
E-Health bei der Concat AG. Der IT-Dienstleister<br />
mit seinem Service Telematik Pro habe bereits<br />
5.000 Arztpraxen sowie rund hundert<br />
Krankenhäuser angeschlossen, darunter kürzlich<br />
ein großes Berliner Klinikum. Brockts Rat:<br />
„Je später es losgeht, desto größer ist der Run<br />
– dann ist die Frage, bekommt man überhaupt<br />
gleich Termine? Ich würde Physiotherapeuten<br />
empfehlen, sich jetzt zu informieren, Angebote<br />
einzuholen und dann zu entscheiden.“<br />
Für Praxen, die noch ohne Software arbeiten,<br />
wäre es ratsam, sich demnächst nach einem<br />
entsprechenden Programm umzuschauen.<br />
Die Verbindung zur TI stellen spezialisierte<br />
Dienstleister wie Concat AG her – es kann aber<br />
auch die IT-Firma vor Ort sein, mit der man<br />
schon vertrauensvoll zusammenarbeitet, sofern<br />
diese autorisiert ist, die von der gematik<br />
zertifizierten Geräte einzusetzen.<br />
Außer dem bereits erwähnten Praxisverwaltungssytem<br />
mit Schnittstelle zur TI braucht es<br />
für die Teilnahme:<br />
• einen Konnektor oder den hardwarelosen<br />
Anschluss über eine cloudbasierte<br />
Konnektorfarm,<br />
• Kartenterminals für die elektronische<br />
Gesundheitskarte,<br />
• den erwähnten Praxisausweis SMC-B<br />
• sowie einen Internetanschluss und<br />
einen Vertrag mit einem zugelassenen<br />
VPN-Zugangsdienstanbieter.<br />
Arztpraxen machen überwiegend<br />
gute Erfahrungen<br />
8<br />
Störungsfälle gab<br />
es insgesamt seit<br />
Juli 2020 in der TI<br />
– wenig, angesichts<br />
der Komplexität des<br />
Systems.<br />
Ich würde Physiotherapeuten<br />
empfehlen,<br />
sich zu informieren,<br />
Angebote einzuholen<br />
und dann zu<br />
entscheiden.<br />
Björn Brockt, Leiter der Abteilung<br />
E-Health bei der Concat AG<br />
Welche Erfahrungen haben Arztpraxen bislang<br />
mit der TI gemacht? Im Internet finden sich<br />
Berichte, dass es Probleme beim Einlesen von<br />
Versicherungskarten gibt und gelegentlich Programme<br />
abstürzen. Im vergangenen Jahr waren<br />
zahlreiche Praxen mit bestimmten Konnektoren<br />
wochenlang offline. Abgesehen von<br />
diesem größeren Ausfall ist die Liste im Störungsarchiv<br />
der gematik, aufrufbar im Internet,<br />
angesichts der Größe und Komplexität des<br />
Projekts überschaubar: Acht Vorfälle gab es<br />
seit Juli 2020, von denen jeweils bestimmte<br />
Konnektoren, Regionen oder Dienste betroffen<br />
waren, die Störungen waren meist innerhalb<br />
weniger Stunden behoben.<br />
Sabine Quantius arbeitet als Praxismanagerin<br />
in der Kölner Praxis für Orthopädie und<br />
Unfallchirurgie Dr. Werner. Die Praxis hängt<br />
bereits seit 2017 an der TI, zunächst im Rahmen<br />
eines Modellprojekts. „Das läuft zu 90<br />
Prozent störungsfrei durch“, fasst die medizinische<br />
Fachangestellte ihre fast fünfjährige Erfahrung<br />
mit der TI zusammen: „Wir haben<br />
vielleicht dreimal im Jahr einen Absturz beim<br />
Einlesen von Karten.“ Und auch das sei kein<br />
großes Problem: „Dann werden wir kurz von<br />
der TI abgehängt, der Konnektor startet neu<br />
und wir können weitermachen.“ Auch aus ihrer<br />
Sicht spricht nichts dagegen, gleich von Anfang<br />
an mitzumachen: „Man schießt sich kein Eigentor,<br />
ich kann nichts Negatives sagen.“ —<br />
10 ZUKUNFT PRAXIS TITEL ZUKUNFT PRAXIS TITEL11
INTERVIEW<br />
„Den Nutzen halte<br />
ich für sehr groß“<br />
UWE EISNER, Mitglied im Bundesvorstand und Digitalisierungsexperte<br />
bei Physio-Deutschland, rät Physiotherapeut*innen im<br />
Interview zu frühzeitigem Anschluss an die <strong>Telematikinfrastruktur</strong>.<br />
Uwe Eisner hat vor seiner Zeit als Physiotherapeut ein Grundstudium<br />
der Informatik absolviert. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender<br />
des Deutschen Verbandes für Physiotherapie<br />
(ZVK) e. V. Als Experte für Digitalisierung ist er im Vorstand<br />
des Verbandes zentraler Ansprechpartner zu allen Fragen<br />
rund um das Thema <strong>Telematikinfrastruktur</strong>.<br />
INTERVIEW: HAJO HOFFMANN<br />
Herr Eisner, Physiotherapiepraxen können sich ab<br />
1. Juli freiwillig an die <strong>Telematikinfrastruktur</strong> (TI) anbinden<br />
lassen. Wozu raten Sie: Gleich auf den Zug<br />
aufspringen oder lieber abwarten?<br />
Die Frage ist mehrschichtig – ich sehe da drei Ebenen.<br />
Erstens: Können wir uns bis dahin überhaupt anschließen,<br />
können wir uns gegenüber der TI identifizieren?<br />
Zweitens: Spielt unsere Praxissoftware mit? Und<br />
drittens: Haben wir einen Nutzen davon? Zum ersten<br />
Punkt: Ich bin zuversichtlich, dass wir zum 1. Juli die<br />
elektronischen Heilberufsausweise und Institutskarten<br />
beantragen können, das hierfür zuständige elektronische<br />
Gesundheitsberuferegister (EGBR) wird derzeit in<br />
Münster aufgebaut – auch wenn das noch nicht heißt,<br />
dass wir die Ausweise sofort bekommen. Mit diesen<br />
Dokumenten können wir uns dann gegenüber der TI<br />
legitimieren.<br />
Und wie sieht es bei der Praxissoftware aus?<br />
Der Zugang erfolgt grundsätzlich über diese Programme,<br />
nicht über Webportale oder dergleichen. Entscheidend<br />
wird sein, wie schnell die Softwarehersteller diese<br />
Funktion implementieren. Das ist ein Faktor, den ich<br />
im Moment noch nicht überblicken kann. Stand heute<br />
kann ich nicht sagen: Die Hersteller sind zum 1. Juli am<br />
Start. Da mache ich zumindest mal ein Fragezeichen<br />
dahinter.<br />
Dann wären wir beim dritten Punkt, dem Nutzen.<br />
Den halte ich für sehr groß. Die TI ermöglicht den<br />
Zugriff auf die elektronische Patientenakte (ePA), auf<br />
Medikationspläne, Notfalldaten, Stammdaten, auf<br />
die Anwendung „Kommunikation im Medizinwesen“<br />
(KIM) für den sicheren E-Mail-Austausch zwischen<br />
den Leistungserbringern – dies führt schon zu einem<br />
wirklichen Mehrwert in den Praxen. Auch wenn diese<br />
Anwendungen teilweise erst nach und nach freigeschaltet<br />
werden – dass dies alles kommt, ist absehbar.<br />
Ich bin zuversichtlich,<br />
dass wir zum 1. Juli<br />
die elektronischen<br />
Heilberufsausweise<br />
und Institutskarten<br />
beantragen können.<br />
Sie raten also Ihren Verbandsmitgliedern, sich so<br />
bald wie möglich anschließen zu lassen?<br />
Ja, um alles, was neu hinzukommt, auch sofort nutzen<br />
zu können.<br />
Haben Physiotherapeuten ausreichende Zugriffsrechte<br />
auf die Patientenakte?<br />
Das ist tatsächlich gesetzlich umfassend geregelt worden,<br />
es gibt nur wenige Daten der ePA, auf die wir<br />
nicht zugreifen dürfen, und das ist auch o. k., das sind<br />
Daten, die uns in der Regel nicht interessieren.<br />
Gibt es Argumente, die gegen eine schnelle Anbindung<br />
sprechen?<br />
Zu bedenken wäre beispielsweise, dass später einmal<br />
auch eine Anbindung ohne Konnektor möglich sein<br />
könnte, wie einem Strategiepapier der gematik zu entnehmen<br />
ist. Es wäre also abzuwägen, ob ich mir die<br />
Hardware kaufe oder lieber auf eine Softwarelösung<br />
warte, die möglicherweise günstiger und flexibler sein<br />
wird. Aber hier ist die Rede von einem Zeithorizont bis<br />
2025 – und so empfehle ich jedem, der mich heute<br />
fragt, jetzt die Hardwarekonnektoren anzuschaffen.<br />
Zudem auch die Kosten erstattet werden.<br />
Wenn man da auf die Ärzteschaft schaut, scheint das<br />
nicht immer zwingend kostendeckend zu sein.<br />
Dies wohl in den Fällen, in denen viele mobile Geräte<br />
benötigt werden – aus der Ärzteschaft ist zu hören,<br />
dass deren Zahl zwar nach Größe der Praxis<br />
kontingentiert, aber zu knapp berechnet ist.<br />
Richtig, es gibt Pauschalen, die man ermittelt hat, und<br />
sehr große Praxen haben unter Umständen das Nachsehen,<br />
kleine dagegen profitieren.<br />
Sind die erstatteten Kosten ansonsten ausreichend?<br />
Es gibt Dienstleistungen, die nicht zu 100 Prozent subventioniert<br />
werden. Ein Beispiel ist der elektronische<br />
Heilberufsausweis, von dem die GKV sagt, na ja, das<br />
ist ja eine Legitimationskarte, die können Sie streng<br />
genommen auch für andere Dienste nutzen – ob es<br />
da Angebote gibt oder nicht, sei einmal dahingestellt.<br />
Dasselbe betrifft die gesicherte Internetverbindung<br />
zur TI, damit kann man ja auch im Internet surfen. Zu<br />
Punkten wie diesen sehe ich noch Diskussionsbedarf.<br />
Wie würden Sie vorgehen auf der Suche nach dem<br />
richtigen Dienstleister?<br />
Die Anbindung an die TI übernehmen in der Regel spezialisierte<br />
Dienstleister, Systemhäuser, die in die Praxis<br />
fahren, den Konnektor einrichten, die Verbindung<br />
herstellen, die Kartenlesegeräte einrichten. Meinen<br />
eigenen IT-Dienstleister kann ich natürlich auch damit<br />
beauftragen, wenn er sich das zutraut und vom Hersteller<br />
autorisiert ist – es ist eigentlich kein Hexenwerk.<br />
Und wenn ich für meine Praxis noch überhaupt keinen<br />
IT-Dienstleister habe – wie finde ich den?<br />
Kriterien bei der Auswahl sollten die räumliche Nähe<br />
und die Qualität des Supports sein. Es sollte also ein<br />
Anbieter vor Ort sein oder ein sehr großes Haus mit<br />
entsprechend vielen Servicetechnikern. Da ist der<br />
Markt mittlerweile groß – was auch wir in den Verbänden<br />
aufgrund der vielen Kooperationsanfragen<br />
bemerken.<br />
Herr Eisner, vielen Dank für das Gespräch. —<br />
12 ZUKUNFT PRAXIS TITEL ZUKUNFT PRAXIS TITEL13
„Die Kraft nach<br />
vorne zu schauen“<br />
Warum kommen manche besser durch die Krise als andere?<br />
SABINE DEGENKOLB-WEYERS, Leiterin der Staatlichen<br />
Berufsfachschule für Logopädie am Uni-Klinikum Erlangen,<br />
im Interview über Resilienz in Gesundheitsberufen.<br />
INTERVIEW: MARTIN SCHMITZ-KUHL<br />
Sie haben über „Resilienz in therapeutischen Gesundheitsfachberufen“<br />
geforscht. Was ist das eigentlich?<br />
In der Naturwissenschaft ist ein Stoff resilient, wenn er<br />
nach einer Dehnung oder Belastung wieder in seinen ursprünglichen<br />
Zustand zurückspringt. Übertragen heißt<br />
Resilienz also in unserem Fall, dass man aus einem Belastungs-<br />
oder Stresszustand wieder in einen Zustand der<br />
psychischen Gesundheit und Ausgeglichenheit zurückfallen<br />
kann. Umso widerstandsfähiger sich jemand in<br />
Ausnahmezuständen verhält, desto resilienter ist er.<br />
Kann die Corona-Pandemie ein solcher Ausnahmezustand<br />
sein – gerade auch für Therapeuten?<br />
Ja, die Pandemie war und ist sicherlich für die meisten<br />
von uns eine ziemlich große Herausforderung – Praxisschließungen<br />
im Lockdown, Kurzarbeit, vielleicht gar<br />
Entlassungen, später die Hygienekonzepte und die Diskussion<br />
um die Teststrategien. Das alles sind Unsicherheiten<br />
und Herausforderungen in einem Ausmaß, die für<br />
Menschen meiner Generation völlig neu sind. Solch eine<br />
Krisen versetzt die meisten Menschen erst einmal in Panik,<br />
Angst, vielleicht auch Lähmung. Inzwischen haben<br />
die meisten Menschen ja irgendwie gelernt, mit dieser<br />
Herausforderung umzugehen. Aber ich erinnere mich<br />
selbst noch gut daran, wie sich das in der Anfangszeit angefühlt<br />
hat.<br />
Es gibt bestimmte Schutzfaktoren,<br />
die wir auch bei uns<br />
selbst aktivieren können,<br />
sodass wir uns nicht mehr<br />
nur als Opfer sehen, sondern<br />
uns an die Lösung des<br />
Problems machen.<br />
Eine Umfrage von „Zukunft Praxis“ zeigte, dass manche<br />
Praxisinhaber*innen einen Umsatzrückgang um<br />
20 Prozent bitter beklagten und sich andere über die<br />
verbliebenen 80 Prozent freuten. Wie kommt das?<br />
Das ist die klassische Glas „halb-voll“ und „halb-leer“-Geschichte<br />
und ein gutes Beispiel für Resilienz. Denn die<br />
Praxisinhaber*innen, die auch in solchen Zeiten positiv<br />
nach vorne blicken können, haben eben genau die Schutzfaktoren,<br />
die man braucht, um solche Krisen zu meistern.<br />
Das Gleiche kann man auch schon bei den Studierenden<br />
feststellen: Die einen scheitern aufgrund ihrer Ängste<br />
und eines mangelnden Selbstvertrauen und andere blühen<br />
durch die Herausforderungen erst richtig auf. Das ist<br />
genau das, was mich auch in meinen eigenen Untersuchungen<br />
zur Resilienz interessiert hat: Was haben die einen,<br />
was die anderen nicht haben?<br />
Sind Heilmittelerbringer*innen nicht schon aufgrund<br />
ihrer Tätigkeit Fachleute in Sachen Resilienz?<br />
Zumindest haben wir in der Regel eine recht gute Grunddisposition.<br />
Schließlich haben wir ganz bewusst einen<br />
Beruf gewählt, in dem wir uns ein Leben lang mit schwierigen<br />
Situationen auseinandersetzen müssen. Denn die<br />
Patient*innen kommen schließlich zu uns, weil sie in<br />
solchen Situationen sind, die uns dann auch nicht gleich<br />
aus der Bahn werfen dürfen.<br />
Aber es ist eben ein Unterschied, ob man anderen Menschen<br />
hilft, ein Krise zu meistern, oder ob die Krise<br />
einen selbst betrifft.<br />
Das ist richtig. Aber es gibt bestimmte Schutzfaktoren,<br />
die wir auch bei uns selbst aktivieren können, sodass wir<br />
uns nicht mehr nur als Opfer verstehen, sondern uns an<br />
die Lösung des Problems machen. Uns Therapeuten kann<br />
dabei der Blick auf die eigene Arbeit und auf die eigenen<br />
Patienten*innen helfen. Denn wenn man den ganzen Tag<br />
mit Menschen zu tun hat, die noch ganz andere Probleme<br />
haben, kann dies auch etwas das eigene Leid relativieren.<br />
Wenn es uns gelingt, diesen Perspektivwechsel hinzubekommen,<br />
können wir unsere eigenen Schutzmechanismen<br />
aktivieren.<br />
Das heißt, Ihre Botschaft ist auch, dass man Resilienz<br />
lernen kann?<br />
Auf jeden Fall. Früher hat man geglaubt, Resilienz sei ein<br />
Wesenszug. Heute ist man da aber weiter und man weiß:<br />
Resilienz ist in jedem Lebensalter lernbar. Gerade ältere<br />
Menschen haben es da manchmal sogar leichter, weil sie<br />
schließlich dafür noch mehr aus dem eigenen Erfahrungsschatz<br />
schöpfen können. Bestenfalls haben sie dabei<br />
auch schon die Erfahrung gemacht, dass – und wie –<br />
man Krisen bewältigen kann.<br />
Was kann Therapeut*innen in Bezug auf Corona Hoffnung<br />
machen oder Mut geben?<br />
Zum Beispiel, indem wir uns bewusst machen, dass wir<br />
ohne die Pandemie in Sachen Videokonferenzen und<br />
Teletherapie nie so weit gekommen wären. Ich selbst bin<br />
ja auch alles andere als ein Digital Native und hätte mich<br />
ohne diesen äußeren Zwang sicherlich nicht mit dem<br />
Thema auseinandergesetzt. Aber jetzt empfinde ich das<br />
tatsächlich als eine Bereicherung und bin dankbar, dass<br />
wir diese Erfahrung machen durften – so bescheuert diese<br />
Situation für uns alle auch ist. —<br />
Das komplette Interview finden Sie unter<br />
www.optica.de/degenkolb-weyers<br />
14 ZUKUNFT PRAXIS THEMA ZUKUNFT PRAXIS THEMA 15
Die Logopädin SUSANNE GUTEKUNST führt im thüringischen Landkreis<br />
Saalfeld-Rudolstadt zusammen mit Ihrem Mann, dem Physiotherapeuten<br />
Timo Gutekunst, die „Gutekunst Therapien & Seminare GmbH“.<br />
Zusammenarbeit wird hier groß geschrieben.<br />
Wodurch unterscheidet sich Ihre<br />
Praxis von anderen?<br />
Wir sind ein interdisziplinäres Therapiezentrum<br />
mit den Bereichen Logopädie,<br />
Physiotherapie und Ergotherapie.<br />
Und das Besondere an unserer<br />
Praxis ist sicherlich, dass wir<br />
nicht nur nebeneinander, sondern<br />
auch miteinander – interdisziplinär<br />
– arbeiten.<br />
Worin liegt der Vorteil?<br />
Es geht bei uns zum einen, was unsere<br />
Patient*innen betrifft, nicht nur<br />
um das Abarbeiten irgendeines Rezepts,<br />
sondern wir betrachten die<br />
Menschen tatsächlich ganzheitlich.<br />
Zum anderen lernen wir Therapeuten<br />
von- und miteinander und das ist<br />
sehr befruchtend und beflügelnd.<br />
Wie funktioniert das konkret? Eine<br />
Verordnung und ihre Bezahlung gilt<br />
ja nicht für ein interdisziplinäres<br />
Team.<br />
Das heißt konkret, dass ich mich zum<br />
Beispiel bei einer Frage anden oder<br />
die entsprechenden Kolleg*in wende.<br />
Manchmal reicht nur ein Tipp, worauf<br />
der oder die Patient*in künftig achten<br />
sollte. Dafür ist übrigens von Vorteil,<br />
dass wir die Praxis als GmbH organisiert<br />
haben. Denn wären wir Einzelpraxen<br />
unter einem gemeinsamen<br />
Dach, könnte es in solchen Fällen<br />
ungeklärte Haftungsfragen geben.<br />
Ihr Mann ist auch Geschäftsführer,<br />
Chef der Physiotherapie und Therapeut<br />
in der Praxis. Was war zuerst:<br />
Die private oder die berufliche Fusion?<br />
Die Private. Ich hatte damals schon<br />
eine logopädische Praxis und mein<br />
Mann war Schauspieler. Erst später<br />
hat er die Ausbildung zum Physiotherapeuten<br />
gemacht und noch viel später<br />
haben wir die Praxen zusammengelegt<br />
und unsere GmbH gegründet.<br />
Vom Schauspieler zum Physiotherapeuten,<br />
auch ein spannender<br />
Werdegang ...<br />
Schauspieler bleibt man ja sein Leben<br />
lang – einmal Gaukler, immer<br />
Gaukler (lacht). Tatsächlich kommt<br />
ihm aber die Ausbildung auch in seinem<br />
jetzigen Beruf sehr zu Gute,<br />
weil ja beides sehr körperorientiert<br />
ist. Auch die ausgebildete Empathiefähigkeit<br />
hilft beim Verständnis für<br />
die jeweiligen Beeinträchtigungen<br />
– körperliche und seelische – der<br />
Patient*innen.<br />
Der Name der Praxis „Gutekunst“<br />
ist nicht erfunden, sondern Ihr Familienname.<br />
Müssen Sie das oft<br />
erklären?<br />
Sehr oft. Einem Arzt habe ich sogar<br />
meine Eheurkunde gezeigt, damit er<br />
mir das endlich glaubt. Auf der anderen<br />
Seite: Der Name ist ziemlich treffend,<br />
von daher hätte es mich deutlich<br />
schlechter erwischen können.<br />
Haben Sie auch ein Problem mit<br />
dem Fachkräftemangel? Wie gehen<br />
Sie damit um?<br />
Wir sind ein stabiles Team, sodass wir<br />
glücklicherweise nicht oft suchen<br />
müssen. Aber wenn, muss man natürlich<br />
kreativ sein. So habe ich vor zwei<br />
Jahre unsere damalige Bürokraft<br />
dazu gebracht, eine Logopädie-Ausbildung<br />
zu machen – die wir auch als<br />
Firma bezahlen. Denn bei uns in Thüringen<br />
gibt es leider noch das Schulgeld.<br />
So haben wir dann ab nächsten<br />
Sommer eine neue Kollegin.<br />
Karteikarte oder Praxis-EDV: Wie<br />
digital ist Ihre Praxis?<br />
Wir sind quasi noch zwischen den<br />
Welten. Das heißt, wir haben zwar<br />
noch Karteikarten, stellen aber gerade<br />
um, sodass wir jetzt schon die<br />
ganze Dokumentation auf unseren<br />
neuen iPads machen können. Gerade<br />
für Hausbesuche ist das sehr<br />
hilfreich. Durch die ganze Videotherapie<br />
in der Corona-Zeit haben wir ja<br />
alle an Medienkompetenz dazugewonnen.<br />
Und Dinge, die zuvor in der<br />
Kategorie „Wir-müssten-mal“ waren,<br />
sind plötzlich beschleunigt worden.<br />
Gemeckert wird<br />
ja immer gerne.<br />
Ich finde es erst<br />
einmal toll, wenn<br />
Menschen ihre<br />
freie Zeit für<br />
Verbandsarbeit<br />
opfern und sich<br />
engagieren.<br />
Wie stehen Sie zur elektronischen<br />
Verordnung?<br />
Wenn es funktioniert, kann es für alle<br />
Beteiligten sicherlich gut sein. Allerdings<br />
werden wir jetzt ohnehin erst<br />
einmal abwarten müssen. Denn ab<br />
Sommer können ja erst einmal nur<br />
die Physiotherapeut*innen mitmachen<br />
– und das ist für eine Praxis<br />
wie die unsrige natürlich nicht sonderlich<br />
attraktiv.<br />
Gesundheitsminister für einen Tag?<br />
Was würden Sie machen?<br />
Also jetzt zu Corona-Zeiten würde<br />
ich den Job auf jeden Fall ablehnen<br />
(lacht). Aber im Ernst: Ich würde mich<br />
nach dem Prinzip des „Best cases“<br />
am schwedischen Gesundheitssystem<br />
orientieren – inklusive Direktzugang.<br />
Sind Sie zufrieden, wie Ihre Verbände<br />
Sie in der Politik vertreten?<br />
Gemeckert wird ja immer gerne.<br />
Aber ich finde es erst einmal toll,<br />
wenn Menschen ihre freie Zeit für<br />
die Verbandsarbeit opfern und sich<br />
engagieren. Respekt für alle, die<br />
sich das antun! Da ich das selbst<br />
nicht mache, will ich mir eigentlich<br />
auch nicht das Recht herausnehmen,<br />
diese Arbeit zu kritisieren – zumal<br />
man ja wirklich sagen muss,<br />
dass sich die Rahmenbedingungen<br />
für uns Heilmittelerbringer*innen in<br />
den vergangenen Jahren durchaus<br />
verbessert haben.<br />
Noch einmal auf Start – würden Sie<br />
alles nochmal genauso machen?<br />
Unbedingt. Ich und mein Beruf sind<br />
eine echte Liebesbeziehung! —<br />
16 ZUKUNFT PRAXIS FRAGEBOGEN ZUKUNFT PRAXIS FRAGEBOGEN 17
IN KOOPERATION MIT<br />
Mit allen drei<br />
Orientierungssystemen<br />
Profisportler nutzen es längst, auch in der Physiotherapie gewinnt<br />
das neurozentrierte Training an Bedeutung, bei dem mit dem<br />
visuellen, dem vestibulären und dem propriozeptiven die drei<br />
primären Orientierungssysteme berücksichtigt werden.<br />
tatt auf Muskeln und Gelenkfehlstellungen<br />
einzugehen,<br />
zielt das neurozentrierte<br />
Training – auch als „Neuroathletik“<br />
bekannt – auf den Ursprung der<br />
Schmerzen: das Gehirn. Ausschließlich<br />
dort entsteht Schmerz auf der<br />
Grundlage von Reizen, die durch<br />
Augen (visuelles System), Gleichgewicht<br />
(vestibuläres System) und das<br />
propriozeptive System gesammelt<br />
werden. Das Gehirn priorisiert dabei<br />
im Sinne des Überlebens, welche<br />
Informationen am schnellsten mögliche<br />
Bedrohungen in der Umwelt<br />
anzeigen.<br />
Visuelles System ist wichtigster<br />
Informationsgeber<br />
Wichtigster Informationsgeber sind<br />
mit 40 Prozent die Augen, dann folgt<br />
das Gleichgewicht mit 35 Prozent<br />
und erst an dritter Stelle das propriozeptive<br />
System mit 25 Prozent<br />
(Schmid-Fetzer, 2018; Trepel, 2015).<br />
Diese groben Richtwerte können<br />
zwar leicht variieren, die Reihenfolge<br />
verändert sie nie. Sind die Systeme<br />
voll und uneingeschränkt funktionsfähig,<br />
erreicht unser Gehirn 100<br />
Prozent und fühlt sich sicher. Jedes<br />
Das neurozentrierte Training zielt auf den<br />
Ursprung der Schmerzen: das Gehirn.<br />
System hat aber individuelle Fähigkeiten,<br />
die verloren gehen, wenn sie<br />
nicht regelmäßig trainiert werden.<br />
Statt das propriozeptive System zu<br />
bevorzugen, integriert das neurozentrierte<br />
Training den primären<br />
Informationsgeber: die Augen. Sie<br />
liefern dem Gehirn die meisten Informationen<br />
über unsere Umwelt<br />
und helfen, fast alle Bewegungen<br />
zu koordinieren. Liefern die Augen<br />
mangelhafte oder zu wenige Informationen,<br />
kann das Gehirn die Lage<br />
nicht richtig einschätzen. Dies kann<br />
zu Bewegungseinschränkungen und<br />
im schlimmsten Fall zu Schmerzen<br />
führen. Dieses System in die Behandlung<br />
zu integrieren, ist unerlässlich.<br />
Die mechanische Herangehensweise<br />
erweitern<br />
Es ist empfehlenswert und notwendig,<br />
neben dem propriozeptiven auch<br />
das vestibuläre und visuelle System<br />
in den Praxisalltag zu integrieren,<br />
um über den mechanischen Ansatz<br />
hinaus die neuronalen Gesetze zu<br />
beachten und zu etablieren. Gerade<br />
bei Fällen, bei denen die klassischen<br />
Therapieansätze nicht den gewünschten<br />
Fortschritt erzielen, kann<br />
ein neurozentriertes Training helfen.<br />
Es eignet sich daher ideal, um langfristig<br />
die Behandlungsqualität und<br />
-kreativität zu steigern.<br />
Der komplette Artikel in<br />
physiopraxis, Ausgabe 3/2021.<br />
Literatur:<br />
Schmid-Fetzer U., Lienhard L.<br />
Neuroathletiktraining-Grundlagen und<br />
Praxis des neurozentrierten Trainings.<br />
München: Pflaum Verlag; 2018<br />
Trepel M. Neuroanatomie-Struktur und Funktion.<br />
6. Aufl. München: Urban & Fischer; 2015<br />
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Impressum<br />
Zukunft Praxis, Ausgabe 04/2021<br />
(Erscheinungsweise: monatlich)<br />
Herausgeber:<br />
Optica Abrechnungszentrum Dr. Güldener GmbH<br />
Marienstraße 10, 70178 Stuttgart<br />
Vertreten durch die Geschäftsführer Konrad<br />
Bommas, Markus Kinkel und Dr. Jochen Pfänder<br />
Telefon: 0711 99373-2000, Telefax: 0711 99373-2025<br />
E-Mail: info@optica.de<br />
Optica-Redaktion: Fabian Maier (V.i.S.d.P.)<br />
Verlag: FAZIT Communication GmbH,<br />
Frankenallee 71 – 81, 60327 Frankfurt am Main<br />
Konzept: Jan Philipp Rost, Martin Schmitz-Kuhl,<br />
Michael Hasenpusch<br />
Art-Direktion: Oliver Hick-Schulz<br />
Produktion: Anabell Krebs<br />
Text: Hajo Hoffmann, Martin Schmitz-Kuhl,<br />
Michael Hasenpusch<br />
Druck: Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH,<br />
Mörfelden-Walldorf<br />
Fotografie:<br />
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Wagner, S.14: Richard Drury/GettyImages, S. 16/17: Optica,<br />
S. 18: deliormanli/iStock, S. 19: Optica<br />
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