WZ Neuenbuerg 2020
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Der Duft von Weihnachten<br />
Als ich noch ein Kind war, freute ich mich auf eines ganz<br />
besonders, wenn wir zu meiner Großmutter fuhren:<br />
die zehn wunderschönen großen Apfelbäume, die in<br />
ihrem Garten standen. Oft lief sie mit mir zwischen<br />
den Bäumen umher, rieb sich die Hände und staunte<br />
über die makellos gereiften Äpfel. „Guck mal, Karin,<br />
was für herrliche Früchte wir doch haben“, lobte sie.<br />
„Gerade recht für den heiligen Nikolaus oder für den<br />
Weihnachtsbaum.“ Als sie das hörten, röteten sich die<br />
Apfelwangen noch mehr vor Freude.<br />
Eines Tages aber wurde auf dem Nachbargrundstück<br />
eine Scheune gebaut und einer der Apfelbäume stand<br />
fortan im Schatten. Darüber grämte er sich so sehr,<br />
dass seine Früchte vor Ärger ganz grün blieben und<br />
ihn seine Kräfte schneller verließen. An Spätsommertagen,<br />
wenn sich die anderen Bäume im warmen Licht<br />
sonnten und ihm ein „An dir wächst kein Liebesapfel!“<br />
zuriefen, konnte er seine Früchte nicht mehr am Ast<br />
halten. Mit einem satten ‚Plumps’ fielen sie zu Boden.<br />
Da lagen sie nun im feuchten Gras und fühlten sich<br />
ganz elend. Doch meine Oma sammelte das Fallobst<br />
auf. „Seid nicht traurig, für euch habe ich eine ganz<br />
besondere Verwendung! Ihr werdet meine<br />
leckersten Bratäpfel“, tröstete sie. Und so<br />
entstand ihr berühmtes Bratapfelrezept<br />
mit Rosinen, Zimt und Marzipan. Nur ich<br />
durfte die Bratäpfel im Ofenrohr wenden,<br />
eine schwierige Aufgabe, der ich mich zur<br />
Adventszeit mit Stolz widmete. Köstlich zog<br />
der Duft der Äpfel durch die Stube. Omas<br />
Rezept, mit dem so viele schöne Erinnerungen<br />
verbunden sind, verwende ich<br />
auch heute noch in meiner eigenen Familie.<br />
Und nur meine Tochter darf die Leckereien<br />
wenden und aus dem Ofen holen. Familientraditionen<br />
müssen schließlich weitergegeben<br />
werden.<br />
Gerade sehe ich voller Vorfreude dabei<br />
zu, wie eine Fuhre Äpfel im Backrohr gart.<br />
„Will Kalli nicht zum Adventstee herunterkommen?“,<br />
frage ich meine Jüngste. Marie<br />
schüttelt den Kopf. „Nein, du kennst ihn doch,<br />
der zockt mal wieder.“ Ja, denke ich resigniert,<br />
ein Heranwachsender von 14 Jahren ist nur<br />
schwer von seinem Smartphone loszueisen.<br />
„Kannst du deinen Bruder bitte trotzdem<br />
holen?“ – „Immer ich!“ Marie stapft die Treppe<br />
hoch. „Hey, komm runter, wir essen gleich!“ –<br />
„Vergiss es!“ – „Wir warten aber auf dich!“ – „Ich<br />
hab keine Zeit, bin gleich im nächsten Level.“<br />
Marie antwortet leichthin: „Esse ich deine<br />
Portion eben mit. Danke!“ Kalli zögert: „Das<br />
tust du nicht.“ – „Wetten, dass? Schließlich<br />
gibt es heute eine ausgewogene Mahlzeit.“<br />
Marie verschwindet wieder nach unten und verkündet:<br />
„Kalli will nichts.“ Sie lässt sich auf den Stuhl in der Küche<br />
fallen. „Hast du ihm nicht erzählt, dass es Bratäpfel<br />
gibt?“ – „Na ja, nicht direkt.“ Marie grinst. „Könntet ihr<br />
euch nicht wenigstens zur Weihnachtszeit vertragen?“ –<br />
„Tun wir doch. Er ist der beste Bruder der Welt, wenn ich<br />
seine Portion kriege.“ Ich bin skeptisch. „Dann hol mal<br />
die Äpfel aus dem Ofen, aber lass bitte die Küchentür<br />
zum Flur offen.“ – „Kein Problem, Mama!“ Marie öffnet<br />
den Backofen. Sofort zieht das altvertraute Aroma von<br />
Bratäpfeln und Zimt bis unters Dach. „Mmh, herrlich,<br />
wie das duftet!“, ruft Marie. „Und diesmal bekomme ich<br />
sogar zwei!“ – „Auf keinen Fall!“ Kalli stürmt in die Küche<br />
und knufft Marie in die Seite. „Meinst du, ich lasse mir<br />
Uromis legendäre Bratäpfel entgehen?“ – „Ich hätte es<br />
sowieso nicht übers Herz gebracht, dir deinen wegzuessen!“,<br />
lächelt Marie. „Na, mein Großer, der Bratapfelduft<br />
hat dich wohl heruntergelockt, was?“ – „Cooler<br />
Trick, Mama!“ Und so geschieht es, dass wir zur Weihnachtszeit<br />
brave Kinder haben. Zumindest immer dann,<br />
wenn Omas himmlischer Duft nach Bratäpfeln durch<br />
unser Haus weht.<br />
Quelle: ©Wogersien/DEIKE<br />
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