06.10.2021 Aufrufe

WZ Neuenbuerg 2020

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Der Duft von Weihnachten<br />

Als ich noch ein Kind war, freute ich mich auf eines ganz<br />

besonders, wenn wir zu meiner Großmutter fuhren:<br />

die zehn wunderschönen großen Apfelbäume, die in<br />

ihrem Garten standen. Oft lief sie mit mir zwischen<br />

den Bäumen umher, rieb sich die Hände und staunte<br />

über die makellos gereiften Äpfel. „Guck mal, Karin,<br />

was für herrliche Früchte wir doch haben“, lobte sie.<br />

„Gerade recht für den heiligen Nikolaus oder für den<br />

Weihnachtsbaum.“ Als sie das hörten, röteten sich die<br />

Apfelwangen noch mehr vor Freude.<br />

Eines Tages aber wurde auf dem Nachbargrundstück<br />

eine Scheune gebaut und einer der Apfelbäume stand<br />

fortan im Schatten. Darüber grämte er sich so sehr,<br />

dass seine Früchte vor Ärger ganz grün blieben und<br />

ihn seine Kräfte schneller verließen. An Spätsommertagen,<br />

wenn sich die anderen Bäume im warmen Licht<br />

sonnten und ihm ein „An dir wächst kein Liebesapfel!“<br />

zuriefen, konnte er seine Früchte nicht mehr am Ast<br />

halten. Mit einem satten ‚Plumps’ fielen sie zu Boden.<br />

Da lagen sie nun im feuchten Gras und fühlten sich<br />

ganz elend. Doch meine Oma sammelte das Fallobst<br />

auf. „Seid nicht traurig, für euch habe ich eine ganz<br />

besondere Verwendung! Ihr werdet meine<br />

leckersten Bratäpfel“, tröstete sie. Und so<br />

entstand ihr berühmtes Bratapfelrezept<br />

mit Rosinen, Zimt und Marzipan. Nur ich<br />

durfte die Bratäpfel im Ofenrohr wenden,<br />

eine schwierige Aufgabe, der ich mich zur<br />

Adventszeit mit Stolz widmete. Köstlich zog<br />

der Duft der Äpfel durch die Stube. Omas<br />

Rezept, mit dem so viele schöne Erinnerungen<br />

verbunden sind, verwende ich<br />

auch heute noch in meiner eigenen Familie.<br />

Und nur meine Tochter darf die Leckereien<br />

wenden und aus dem Ofen holen. Familientraditionen<br />

müssen schließlich weitergegeben<br />

werden.<br />

Gerade sehe ich voller Vorfreude dabei<br />

zu, wie eine Fuhre Äpfel im Backrohr gart.<br />

„Will Kalli nicht zum Adventstee herunterkommen?“,<br />

frage ich meine Jüngste. Marie<br />

schüttelt den Kopf. „Nein, du kennst ihn doch,<br />

der zockt mal wieder.“ Ja, denke ich resigniert,<br />

ein Heranwachsender von 14 Jahren ist nur<br />

schwer von seinem Smartphone loszueisen.<br />

„Kannst du deinen Bruder bitte trotzdem<br />

holen?“ – „Immer ich!“ Marie stapft die Treppe<br />

hoch. „Hey, komm runter, wir essen gleich!“ –<br />

„Vergiss es!“ – „Wir warten aber auf dich!“ – „Ich<br />

hab keine Zeit, bin gleich im nächsten Level.“<br />

Marie antwortet leichthin: „Esse ich deine<br />

Portion eben mit. Danke!“ Kalli zögert: „Das<br />

tust du nicht.“ – „Wetten, dass? Schließlich<br />

gibt es heute eine ausgewogene Mahlzeit.“<br />

Marie verschwindet wieder nach unten und verkündet:<br />

„Kalli will nichts.“ Sie lässt sich auf den Stuhl in der Küche<br />

fallen. „Hast du ihm nicht erzählt, dass es Bratäpfel<br />

gibt?“ – „Na ja, nicht direkt.“ Marie grinst. „Könntet ihr<br />

euch nicht wenigstens zur Weihnachtszeit vertragen?“ –<br />

„Tun wir doch. Er ist der beste Bruder der Welt, wenn ich<br />

seine Portion kriege.“ Ich bin skeptisch. „Dann hol mal<br />

die Äpfel aus dem Ofen, aber lass bitte die Küchentür<br />

zum Flur offen.“ – „Kein Problem, Mama!“ Marie öffnet<br />

den Backofen. Sofort zieht das altvertraute Aroma von<br />

Bratäpfeln und Zimt bis unters Dach. „Mmh, herrlich,<br />

wie das duftet!“, ruft Marie. „Und diesmal bekomme ich<br />

sogar zwei!“ – „Auf keinen Fall!“ Kalli stürmt in die Küche<br />

und knufft Marie in die Seite. „Meinst du, ich lasse mir<br />

Uromis legendäre Bratäpfel entgehen?“ – „Ich hätte es<br />

sowieso nicht übers Herz gebracht, dir deinen wegzuessen!“,<br />

lächelt Marie. „Na, mein Großer, der Bratapfelduft<br />

hat dich wohl heruntergelockt, was?“ – „Cooler<br />

Trick, Mama!“ Und so geschieht es, dass wir zur Weihnachtszeit<br />

brave Kinder haben. Zumindest immer dann,<br />

wenn Omas himmlischer Duft nach Bratäpfeln durch<br />

unser Haus weht.<br />

Quelle: ©Wogersien/DEIKE<br />

4

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!