Das ist Ballett! 50 Fragen - 50 Antworten
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klassischen <strong>Ballett</strong>. Und natürlich <strong>ist</strong> auch<br />
die zentrale Szene in diesem <strong>Ballett</strong> – die<br />
berühmte Balkonszene – ein großes leidenschaftliches<br />
Pas de deux. Doch John Cranko<br />
zum Beispiel, der mit seiner Choreo grafie<br />
von Romeo und Julia das Stuttgarter <strong>Ballett</strong><br />
1962 über Nacht berühmt macht, will in<br />
seinen <strong>Ballett</strong>en immer die Emotionen zeigen.<br />
Er will Zweifel, Ängste und Sorgen<br />
genauso offenbaren wie unendliches Glück<br />
und Freude, die große Liebe von Romeo<br />
und Julia ebenso wie die Flüchtigkeit des<br />
Moments. Dafür wählt er eine Pose, um<br />
in einer einzigen Körperhaltung dieses überwältigende<br />
Gefühl, das nicht von Dauer<br />
sein kann, darzustellen.<br />
<strong>Das</strong> Liebes-Pas de deux, das Duett der<br />
Balkonszene, beginnt mit Julia. Scheu,<br />
zitternd und aufgeregt betritt sie die Bühne<br />
auf halber Spitze und bleibt fast die ganze<br />
Szene über auf der Spitze. Sie tanzt kleine<br />
Pas de bourrées (Schritte mit mehrfacher<br />
Gewichtsverlagerung), denen fast hektisch<br />
kurze Arabesques folgen (eine Grundposition<br />
im <strong>Ballett</strong>, bei der das Standbein gestreckt<br />
und das Spielbein nach hinten im<br />
90-Grad Winkel ausgestreckt <strong>ist</strong>), die ihre<br />
große Ungeduld und Sehnsucht zeigen. Im<br />
roman tischen <strong>Ballett</strong> wird die Figur der Arabesque<br />
gerne genutzt, um die Sehnsucht<br />
nach einer höheren Welt auszudrücken.<br />
Dann endlich kommt Romeo. Sie fühlt sich<br />
so sehr zu ihm hingezogen, dass ihr Körper<br />
einen Halbkreis beschreibt. Romeo antwortet<br />
ihr mit derselben Pose. Doch sie<br />
berühren sich nicht, was die Zerbrechlichkeit<br />
ihres Liebesglücks unterstreicht.<br />
Doch auch in einem anderen <strong>Ballett</strong> werden<br />
die Fragilität und gleichzeitig die Stärke<br />
einer großen Liebe in Blicken, Posen und in<br />
einem Halbkreis sichtbar: Drei Jahre nach<br />
Romeo und Julia choreografiert John Cranko<br />
Onegin, den großen Liebesroman des russischen<br />
Dichters Alexander Puschkin. Für<br />
das <strong>Ballett</strong> in drei Akten und sechs Szenen<br />
hat Cranko nicht nur die Choreografie,<br />
sondern auch das Libretto geschaffen und<br />
dafür die Musik verschiedenen Werken<br />
Tschaikowskys entnommen. Die Uraufführung<br />
der ersten Fassung findet im April<br />
1965 in Stuttgart statt, die der zweiten im<br />
Oktober 1967.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Ballett</strong> spielt auf einem russischen<br />
Landgut um 1820 und zehn Jahre später<br />
in Sankt Petersburg. Der Zuschauer begegnet<br />
zwei sehr verschiedenen Schwestern:<br />
Tatjana <strong>ist</strong> ernst und verträumt, verbringt<br />
ihre Zeit mit Lesen und lebt ganz in der<br />
Welt der Literatur, während ihre Schwester<br />
Olga das Leben leichtnimmt, temperamentvoll<br />
<strong>ist</strong>, tanzt, spielt und lacht. Schon<br />
in der ersten Szene verdeutlicht Cranko<br />
den unterschiedlichen Charakter der beiden:<br />
Tatjana liegt auf dem Bühnenboden und<br />
liest, während Olga den Besuch ihres Verlobten,<br />
des Dichters Lenski, erwartet. Der<br />
kommt schließlich und bringt seinen neuen<br />
Freund Onegin mit. Tatjana ver liebt sich<br />
augenblicklich in ihn.<br />
Wie in Romeo und Julia wird das Verliebtsein<br />
nur mit den Augen ausgedrückt<br />
und zunächst nicht getanzt: Wie Julia auf<br />
dem Ball, auf dem sie Romeo zum ersten<br />
Mal erblickt und nicht mehr aus den Augen<br />
lässt, verfolgt auch Tatjana Onegin ausschließlich<br />
mit ihren Blicken. Onegin hingegen<br />
empfindet das Landleben und die Menschen<br />
als eine Zumutung. Hochmütig sieht<br />
er auf alle herab. Auch das wird zunächst<br />
nicht getanzt, sondern nur mit einer Kör perhaltung<br />
gezeigt: Onegin tritt mit dem Rücken<br />
zum Publikum auf. Er hat nichts als<br />
Verachtung für diese Menschen übrig.<br />
Tatjana jedoch <strong>ist</strong> verliebt und kann an<br />
niemand anderen mehr denken. Nachts,<br />
allein in ihrem Schlafzimmer, beschließt sie,<br />
ihm einen Brief zu schreiben und ihm ihre<br />
Liebe mitzuteilen. Cranko übersetzt das in<br />
eine Traumszene, die wieder mit einem<br />
Blick beginnt: Als Tatjana in den Spie gel<br />
schaut und mit ihren beiden Händen<br />
suchend, tastend über den Spiegel fährt, erblickt<br />
sie plötzlich statt ihres eigenes Spiegelbilds<br />
Onegin, der mit einer großen Kreisbewegung<br />
seines rechten Armes nach ihrer