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Das ist Ballett! 50 Fragen - 50 Antworten

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Herzen‹‹ 67 , erinnert. Petipa stammt aus<br />

Marseille, dem Geburtsort der Marseillaise.<br />

Auch deshalb will er die Carmagnole, den<br />

berühmten Tanz der Republikaner von 1792<br />

als Reaktion auf die Entthronung von<br />

Louis XVI. und seiner Frau Marie Antoinette,<br />

im Kampf gegen den Mäusekönig einbauen.<br />

In Russland <strong>ist</strong> erst 1861 die Leibeigenschaft<br />

unter dem jungen Zaren Alexander<br />

II. aufgehoben worden.<br />

Petipa plant, den Nussknacker so anzulegen,<br />

dass alles in der Carmagnole gipfeln<br />

und das <strong>Ballett</strong> mit den deutlichen Anspielungen<br />

an die Französische Revolution<br />

zugleich ein Kommentar zur gegenwärtigen<br />

russischen politischen Situation sein soll.<br />

Mit dem Kampf des Mäusekönigs spielt er<br />

zudem auf die russische Expansionspolitik<br />

und die allgegenwärtige Geheimpolizei<br />

im Reich an.<br />

Auch die vier Charaktertänze im zweiten<br />

Akt sind eine versteckte Kritik an den<br />

herrschenden Verhältnissen. Sie repräsentieren<br />

zum Teil Getränke, die an den europäischen<br />

absolut<strong>ist</strong>ischen Höfen getrunken<br />

wurden. Petipa lässt sie bewusst in absteigender<br />

Folge auftreten: Zuerst die Schokolade<br />

– sie <strong>ist</strong> im 17. Jahrhundert ausschließlich<br />

der Ar<strong>ist</strong>okratie vorbehalten und<br />

gilt geradezu als Statussymbol, ehe sie im<br />

19. Jahrhundert zum Getränk für Frauen<br />

und Kinder wird. Es folgt der teure Kaffee,<br />

der ebenfalls zunächst nur vom Adel getrunken<br />

wurde und erst nach der Französischen<br />

Revolution zum beliebten Getränk<br />

des Bürgertums wird – Russland gehört dagegen<br />

neben den Britischen Inseln, Polen<br />

und der Türkei zu den Teeregionen, Tee wird<br />

in Russland in allen Schichten getrunken.<br />

Mit dem letzten und vierten Charaktertanz<br />

Trepak sind wir dann beim russischen<br />

Volk angekommen.<br />

Doch dem Theaterdirektor Wsewoloschsky<br />

am Mariinsky-Theaters sind Petipas<br />

politische Botschaften zu heikel, und er verlangt,<br />

dass er die Carmagnole wieder herausnehmen<br />

soll. Die nationalen Charaktertänze<br />

der Getränke werden dagegen als<br />

harmlos eingestuft und dürfen bleiben.<br />

Sie finden sich noch in John Neumeiers Nussknacker-Choreografie,<br />

der sich ansonsten<br />

sehr weit von Petipas Fassung entfernt hat.<br />

Der Nussknacker, im Dezember 1892 zum<br />

ersten Mal aufgeführt, erlebt in der Folgezeit<br />

Bearbeitungen, veränderte Fassungen<br />

und Sichtweisen. So kommt Tschaikowskys<br />

musikalische Betonung des Märchenhaften<br />

viel später in Peter Wrights Choreografie<br />

für das Royal Ballet (1984) in London zum<br />

Ausdruck. Wright nennt wie schon Petipa<br />

seine Hauptfigur nicht Marie, sondern Clara.<br />

Nachdem alle schlafengegangen sind,<br />

huscht ein Weihnachtsengel über die Bühne.<br />

Bevor Clara noch einmal aufsteht, um nach<br />

dem verletzten Nussknacker zu schauen,<br />

und sie in das geheimnisvolle Reich des Mäusekönigs<br />

mitgenommen wird, lässt Wright<br />

den Weihnachtsbaum im Hintergrund riesengroß<br />

werden, so dass sein Baumschmuck<br />

mit den großen Keksen und Bonbons bereits<br />

ein Vorgeschmack auf das nachfolgende<br />

›› Reich der Zuckerfee‹‹ <strong>ist</strong>.<br />

Peter Wright, der vorher <strong>Ballett</strong>me<strong>ist</strong>er<br />

bei John Cranko in Stuttgart 1961 gewesen<br />

<strong>ist</strong>, versucht sich an die Fassung von Petipa<br />

und Iwanow zu halten, wobei er wie alle<br />

anderen Choreografen vor der Schwierigkeit<br />

steht, dass für den Nussknacker kein choreografischer<br />

›› Urtext‹‹ ex<strong>ist</strong>iert, sondern nur<br />

ein unvollständiges choreografisches Notat<br />

von Iwanow, das unter anderem die Formation<br />

des Schneeflockenwalzers dokumentiert:<br />

›› <strong>Das</strong> reine helle Leben beginnt nach<br />

24 Uhr, obwohl es Nacht <strong>ist</strong>, kann man Glück<br />

erringen. Doch muss man dazu durch den<br />

Winter hindurchgehen.‹‹ 68 So hat Petipa in das<br />

<strong>Ballett</strong> plötzlich einen Schneesturm eingefügt,<br />

den sein Ass<strong>ist</strong>ent Lew Iwanow in einen<br />

›› Schneeflockenwalzer‹‹ übersetzt.<br />

Wright möchte mit seinen Choreografien<br />

dem Original treu bleiben und es doch<br />

für ein modernes Publikum spannend machen.<br />

Sein ›› Schneeflockenwalzer‹‹ spielt daher<br />

deutlich auf die Tradition der Ballets blancs<br />

(weißen Akte) in Giselle oder La Bayadère an.<br />

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