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Das ist Ballett! 50 Fragen - 50 Antworten

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IST DAS<br />

BALLETT HEUTE<br />

NOCH<br />

ZEITGEMÄSS?<br />

<strong>Das</strong> <strong>Ballett</strong> <strong>ist</strong> über vier Jahrhunderte alt.<br />

Ist das nicht zu alt, um heute noch aktuell<br />

sein zu können? Aber müsste man dann<br />

nicht auch die folgenden <strong>Fragen</strong> stellen: Wie<br />

zeitgemäß <strong>ist</strong> es, ein Bild von Cézanne anzuschauen?<br />

Ein Musikstück von Johann<br />

Sebastian Bach zu hören? Oder die tausend<br />

Jahre alte Kathedrale Notre-Dame, die im<br />

April 2019 abbrannte, wieder aufzubauen?<br />

<strong>Ballett</strong> <strong>ist</strong> Teil der europäischen Kulturgeschichte.<br />

Aber wird es noch akzeptiert<br />

und wertgeschätzt? <strong>Das</strong>s Tanz und alle<br />

anderen Künste auch immer ein Spiegel der<br />

Gesellschaft und ihrer Zeit sind, <strong>ist</strong> eine<br />

recht triviale Aussage. Kunstwerke sollen<br />

oft ›› entstaubt‹‹ werden, ›› aktualisiert‹‹ –<br />

oft auch von Menschen, denen die ursprüng ­<br />

liche Formensprache und Aussage des<br />

Werks verschlossen bleiben.<br />

Interessanterweise entwickelt sich in<br />

den 1980er Jahren in der klassischen Musik<br />

eine Bewegung der h<strong>ist</strong>orischen Aufführungspraxis,<br />

die bis heute anhält. Hier geht<br />

es zuallererst um das Wiederentdecken: Wie<br />

wurde ein Stück zu seiner Entstehungs zeit<br />

aufgeführt und mit welchen Instrumenten?<br />

Ziel <strong>ist</strong> nicht eine Konservierung, sondern,<br />

wie John Eliot Gardiner schreibt, die ›› Musik<br />

von in jahrelanger Aufführungspraxis angelagerten<br />

Schichten zu befreien und jeden<br />

Kompon<strong>ist</strong>en – und jedes bedeutende Werk<br />

dieses Kompo nis ten – in seiner ganz individuellen<br />

Schönheit erstrahlen zu lassen. […]<br />

Überraschend häufig kommt uns dann<br />

jahrhundertealte Musik ›moderner‹ vor als<br />

eine Vielzahl von Stücken, die in den letzten<br />

100 Jahren komponiert worden sind.‹‹ 111<br />

Einen ähnlichen Versuch unternimmt<br />

im <strong>Ballett</strong> ab 2007 der russische Tänzer<br />

und Choreograf Alexei Ratmansky mit der<br />

Rekonstruktion der Petipa-<strong>Ballett</strong>e unter<br />

anderem am Bolschoi-Theater. Dabei stellt<br />

er fest, dass man zu Petipas Zeiten die<br />

Musik viel schneller gespielt hat. In den heutigen<br />

Aufführungen braucht man mehr<br />

Zeit, damit die Tänzerinnen und Tänzer<br />

ihre verfeinerte und anspruchsvollere Technik<br />

(höhere Beine, höhere Sprünge, mehr<br />

Pirouetten) zeigen können.<br />

Die Flüchtigkeit, die dem Tanzen innewohnt,<br />

die Schwierigkeit seiner Aufzeichnung<br />

und Weitergabe müssten eigentlich ein<br />

Konservieren von selbst verhindern. Denn<br />

jede Choreografie wird den gegenwärtigen<br />

Tänzern und ihren körperlichen Möglichkeiten<br />

und Ausdrucksformen angepasst.<br />

Die <strong>Ballett</strong>choreografien bleiben in diesem<br />

Sinne automatisch zeitgemäß, da sie durch<br />

die Körper und Kunstfertigkeit der Tän zerinnen<br />

und Tänzer beständig aktualisiert<br />

werden.<br />

Als um 1900 Michail Fokine mit der<br />

modernen <strong>Ballett</strong>reform beginnt, als Nijinsky<br />

mit seinen neuen, ungewöhnlichen<br />

Choreografien für Skandale sorgt, als Laban<br />

und Wigman den Ausdruckstanz proklamieren<br />

und als schließlich Pina Bausch in<br />

Wuppertal das Tanztheater begründet –<br />

immer stand und steht das klassische <strong>Ballett</strong><br />

unter einem Rechtfertigungsdruck.<br />

Entsteht daraus nun aber künstlerische<br />

Produktivität oder lähmt die stetige Beschäftigung<br />

mit der Vergangenheit? Zwar<br />

<strong>ist</strong> in den letzten Jahrzehnten viel vom<br />

Ja.<br />

›› kollektiven Gedächtnis‹‹ und der Notwendigkeit<br />

einer Erinnerungskultur die Rede,<br />

doch praktiziert wird leider auch ein ›› kollektives<br />

Vergessen‹‹. Zugespitzt formuliert<br />

könnte man auch die These für die Zukunft<br />

aufstellen: Unsere Kultur verstummt, weil<br />

das Wissen fehlt, Bilder werden nur noch als<br />

bunte Farbkleckse wahrgenommen, Kirchen<br />

als alte Bauten, in denen es auch noch<br />

kalt <strong>ist</strong>, Musik als Geräusch – und klassisches<br />

<strong>Ballett</strong> halt als Akrobatik im weißen<br />

Tutu.<br />

Doch <strong>Ballett</strong> <strong>ist</strong> so viel mehr. Choreografen<br />

und Choreografinnen in aller Welt schaffen<br />

immer wieder neue Bilder, die mit uns selbst<br />

zu tun haben, das Publikum berühren. Sie<br />

messen den Bedeutungsraum von <strong>Ballett</strong> im<br />

21. Jahrhundert aus und kommen zu überraschenden<br />

Einsichten. Immer wieder tre ten<br />

Tänzerinnen und Tänzer aus den unbekannten<br />

Tiefen des Probenraums auf die<br />

Bühne, erstrahlen im Licht der Scheinwerfer<br />

und geben einer Giselle, einem Romeo das<br />

ganz besondere Etwas neu mit. Natürlich <strong>ist</strong><br />

das <strong>Ballett</strong> zeitgemäß! Wer sich öffnet, wird<br />

dem Zauber des klassischen Tanzes auch<br />

heute noch erliegen.

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