Leseprobe_Senfls-Liedsätze
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Einleitung<br />
System ein frischer Blick auf die Materialien notwendig ist, um eingeschliffene<br />
Vorgehensweisen und unbelegte Annahmen zu hinterfragen, denn mit<br />
dem schnellen Wandel der Gesellschaft und unseres Alltagslebens im Laufe der<br />
letzten 50 Jahre dürfte sich auch dieser verändert haben, ganz zu schweigen<br />
von der Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin selbst. Tatsächlich sehe<br />
ich aber diese Schrift nicht als einen Gegenentwurf, sondern vielmehr als eine<br />
Alternative und Ergänzung zu Seidels Buch. In analytischen Fragestellungen<br />
haben seine Forschungen Referenzschemata bezüglich Aufbau, Textgestaltung,<br />
Melodik und Satzfaktur herausgearbeitet, auf die ich in meinen Studien Bezug<br />
nehme und auch in anderen Aspekten kann ich – wie andere vor mir – auf den<br />
von ihm geschaffenen Grundlagen aufbauen. Das Hauptgewicht lege ich dabei<br />
auf die musikalische Ebene der komplexen Gattung Lied, während eine textbasierte<br />
Klassifikation hier nur in Ansätzen erfolgen kann und hoffentlich in der<br />
Zukunft von Seiten der Germanistik her eine umfassendere Ergänzung findet.<br />
Einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte an Seidels System scheint unter<br />
heutigen Forschungsaspekten im Festhalten an den hergebrachten Termini<br />
,Hofweise‘ und ,Volkslied‘ zu bestehen. Wie Seidel selbst anmerkte, 3 werden<br />
sämtliche mit diesen Begriffen verbundenen sozialen oder kontextuellen Assoziationen<br />
von der modernen Musikwissenschaft als nicht auf das Repertoire<br />
des Liedsatzes in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zutreffend eingestuft.<br />
Neben der Substitution dieser Begrifflichkeiten liegt die Neuartigkeit der von<br />
mir vorgestellten Klassifikation darin, dass sie entgegen bisheriger Systeme von<br />
der polyphonen Satzfaktur ausgeht und diese auch in das Zentrum der Betrachtung<br />
rückt. Seidels bipolares Schema wird zu einer im Kern dreigliedrigen<br />
Klassifikation erweitert und soll nicht nur auf <strong>Senfls</strong> Kompositionen, sondern<br />
allgemein auf <strong>Liedsätze</strong> der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anwendbar sein.<br />
Weshalb dennoch Ludwig <strong>Senfls</strong> Liedrepertoire das Untersuchungsmaterial<br />
und den zweiten Schwerpunkt meiner Studie bildet, ist verschiedenen Voraussetzungen<br />
geschuldet. Wenngleich eine komponisten-bezogene Analyse eines<br />
Repertoires, das noch zu einem großen Teil anonym überliefert ist, fragwürdig<br />
erscheinen mag, bildet das von Senfl erhaltene Liedœuvre für das Vorhaben<br />
nichtsdestotrotz eine ideale Ausgangsbasis, da es bei weitem das umfangreichste<br />
eines Komponisten des 16. Jahrhunderts darstellt. Es ist damit ein in<br />
sich geschlossenes Repertoire eines definierten Zeitraumes und zugleich ist die<br />
Vielfalt der <strong>Liedsätze</strong> so enorm, dass ein Großteil der Gestaltungsvarianten der<br />
3 Seidel, Die Lieder Ludwig <strong>Senfls</strong> (1969), S. 19: „Obwohl der Terminus Volkslied weder dem<br />
artifiziellen noch dem soziologischen Sachverhalt gerecht wird, und obwohl er seit seiner<br />
Geburt mit romantischen Gedanken belastet ist, behalten wir ihn bei. Wir müssen uns<br />
aber seiner Grenzen bewußt sein. ›Volkslied‹ ist für uns nicht mehr als eine bekannte, aus<br />
dem schriftlosen Usus in die res facta aufsteigende Weise“.<br />
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