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Leseprobe_Wiener Operette

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Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />

die Mentalität bestimmter Schichten oder der Gesellschaft als Ganzes herleitet,<br />

im Positiven wie im Negativen: „Denn da wir nun einmal die Resultate früherer<br />

Geschlechter sind“, meint Nietzsche, „sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen,<br />

Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich<br />

ganz von dieser Kette zu lösen.“ 6<br />

[…] Zu diesen Bereichen zählt zum Beispiel die Beschäftigung, der jemand<br />

nachging, das heißt der Arbeitsprozess, in welchen ein Individuum einbezogen<br />

war. Da jedoch diese Beschäftigung zumeist auch als eine Notwendigkeit, oft<br />

sogar als ein Zwang angesehen wurde, den man nur akzeptierte, um Geld zu<br />

verdienen, das heißt um im Existenzkampf des Alltags zu bestehen und zu<br />

überleben, dürften andere Bereiche, die eine gewisse Freiwilligkeit aufwiesen,<br />

für das Bewusstsein im Allgemeinen beziehungsweise für die Kritik, die an den<br />

Zwängen des Alltags geübt wurde, oder für die Sehnsüchte, dieser Situation,<br />

wenn auch nur für wenige Stunden, zu entfliehen, symptomatischer gewesen<br />

sein als die Thematisierung der Arbeit selbst oder die Thematisierung von großen<br />

Staatsaktionen, die zumeist abseits der eigentlichen Realität der Bevölkerung<br />

stattfanden. Diese anderen Bereiche, wie etwa die Art und Weise sich zu<br />

unterhalten, verraten nämlich viel mehr über die eigentlichen Interessen von<br />

Personen und sozialen Gruppen, als jene Beschäftigungen, die das Leben in einer<br />

vielleicht ungewollten Weise reglementierten. Die Art, sich in der Zeit des<br />

ausgehenden 19. Jahrhunderts und um 1900 zu entspannen und zu unterhalten,<br />

mag heute zum Teil banal erscheinen […]. Wir erkennen darin zuweilen keinen<br />

Sinn mehr und versuchen daher jeder Unterhaltung oder, in einem übertragenen<br />

Sinne, jedem Walzer, wie Hermann Bahr meinte, eine tiefere Bedeutung zu<br />

unterstellen. Unabhängig davon wurde jedoch diese Art der Unterhaltung nicht<br />

nur für die unmittelbaren Zeitgenossen, sondern ebenso für die nachfolgenden<br />

Generationen prägend, sie sollte daher nicht gleich unter moralischen oder ästhetisch<br />

anspruchsvollen Gesichtspunkten betrachtet und mit einer gewissen<br />

Hybris beurteilt beziehungsweise verurteilt werden. Dies betrifft auch die<br />

<strong>Operette</strong>n, die zu den wichtigsten Unterhaltungsformen der Jahrhundertwende<br />

zählten, von denen die meisten wohl zurecht der Vergessenheit anheimgefallen<br />

sind, deren „klassische“ Vertreter jedoch musikalisch und thematisch interessanter<br />

sind als zuweilen angenommen wird und die daher wohl zu Recht von so<br />

bedeutenden Interpreten wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner<br />

wiederentdeckt worden sind. Wenn man des Weiteren bedenkt, dass die <strong>Operette</strong><br />

der Zeit um 1900 eine der beliebtesten Unterhaltungsformen breiter städtischer<br />

6 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen<br />

II. [1874], in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden,<br />

Bd. 1. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München–Berlin–New York: dtv, de<br />

Gruyter 1980, S. 243–334, hier S. 270.<br />

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