Leseprobe_Wiener Operette
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Moritz Csáky<br />
Das<br />
kulturelle<br />
Gedächtnis<br />
der <strong>Wiener</strong><br />
<strong>Operette</strong><br />
Regionale Vielfalt im<br />
urbanen Milieu
xxxxxxxxxx<br />
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
1
2<br />
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>
xxxxxxxxxx<br />
Moritz Csáky<br />
DAS KULTURELLE GEDÄCHTNIS<br />
DER WIENER OPERETTE<br />
Regionale Vielfalt im urbanen Milieu<br />
3
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung<br />
der MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien,<br />
Wissenschafts- und Forschungsförderung<br />
und durch das<br />
Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten<br />
Moritz Csáky: Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>. Regionale Vielfalt im urbanen Milieu<br />
Hollitzer Verlag, Wien 2021<br />
Abbildung am Cover:<br />
Titelblatt (Ausschnitt) der Klavierpartitur Ein Walzertraum von Oscar Straus (1907)<br />
Lektorat: Josef Schiffer<br />
Satz und Covergestaltung: Nikola Stevanović<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
Hergestellt in der EU<br />
© Hollitzer Verlag, Wien 2021<br />
www.hollitzer.at<br />
ISBN 978-3-99012-951-7<br />
4
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Inhalt<br />
Vorwort 9<br />
Einleitung 13<br />
I. Die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> – ein Symptom des Wertvakuums? 17<br />
<strong>Operette</strong>ngeschichte 17<br />
Ein minderwertiges Kunstprodukt? 20<br />
Vorbehalte gegenüber Unterhaltungsmusik 22<br />
Sprachrohr für Mentalitäten 27<br />
„Ernstgenommene Sinnlosigkeit“? 32<br />
„Ein zur puren Idiotie verflachter Abklatsch“? 36<br />
II. <strong>Operette</strong> und bürgerliche Gesellschaft 43<br />
<strong>Operette</strong> als das Unterhaltungstheater 43<br />
Rekontextualisierung der <strong>Operette</strong> 47<br />
<strong>Operette</strong> und urbane Bevölkerung 49<br />
„Glücklich ist, wer vergisst“ 57<br />
III. <strong>Operette</strong> – Spiegelbild von Gesellschaft und Politik 69<br />
Sozialer Ursprung eines Genres 69<br />
Beseitigung gesellschaftlicher Schranken 74<br />
Sozial- und Politikkritik 77<br />
<strong>Operette</strong> und staatliche Zensur 81<br />
Kritik am „Vaterland“ und Nationalismus 82<br />
Die verschlüsselte Sprache der „Lustigen Witwe“ 85<br />
Verfremdung der Politikkritik 90<br />
Verborgene Facetten des „Zigeunerbaron“ 95<br />
Ein realistisches Bild der „Zigeuner“? 99<br />
Ort des kulturellen Gedächtnisses 108<br />
5
IV. <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> und Ironie 113<br />
Ironie als psychisches Ventil 113<br />
Sigmund Freud und der Witz 115<br />
Jüdischer Witz 116<br />
Travestie – eine österreichische Tradition 118<br />
Identitätsstiftende Funktion des Witzes 120<br />
Obszöner und zynischer Witz 123<br />
V. <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> und Moderne 127<br />
Populäres Vehikel der Moderne? 127<br />
Moderne und sexuelle Freiheit 131<br />
Fragmentiertheit und Nervosität 132<br />
Moderne und Differenziertheit der Gesellschaft 134<br />
Moderne und national-kulturelle Heterogenität 139<br />
„<strong>Wiener</strong> Moderne“ 142<br />
<strong>Operette</strong> und Jung Wien 150<br />
„Sei modern!“ 153<br />
„Stille Häuslichkeit“ – ein Gegenbild der Moderne 158<br />
Relevanz der <strong>Operette</strong> im Fin de Siècle 161<br />
Franz Kafka und die <strong>Operette</strong> 166<br />
VI. Die Heterogenität der zentraleuropäischen Region 177<br />
„Give and take of melodies ...“ 177<br />
Zitatenreichtum in der Musik 179<br />
Juden in der Monarchie und in Wien 183<br />
Antisemitismus – Ausgrenzung des Fremden 193<br />
Widersprüchliche Kohärenz einer Region 202<br />
Politische und sprachlich-kulturelle Pluralität 206<br />
Verwaltung und Pluralität 210<br />
Österreichisch und/oder deutsch 215<br />
Pluralität und Loyalitäten 220<br />
Vielfältige Lebenswelt 222<br />
Heterogenität und Identitäten 224<br />
Pluralität und nationale Idee 227<br />
Das Wesen Österreichs ist Peripherie? 232
VII. Pluralität – Kultur – Geschichte 239<br />
Relevanz regionaler Pluralität 239<br />
Kulturelles Umfeld einer österreichischen Geschichte 243<br />
Rechtfertigung durch Historizität 247<br />
Reduktionistisches Geschichtsbild 249<br />
Totalistisches Geschichtsbild 251<br />
Kultur – ein komplexes System 255<br />
Vergangenheit als „Text“ 260<br />
Theorie einer österreichischen Geschichte 265<br />
VIII. <strong>Operette</strong>nwerkstatt in der <strong>Wiener</strong> Moderne 271<br />
Spiegelbild des komplexen Systems 271<br />
Vagabundierende Militärkapellmeister 280<br />
Langeweile 285<br />
Viele Autoren 289<br />
„Auf-Zuruf-Instrumentieren“ 294<br />
Reaktion auf die Beschleunigung 296<br />
IX. Ausklang 299<br />
Instrumentalisierung der <strong>Operette</strong> 299<br />
Neue <strong>Operette</strong>n 302<br />
Traurige <strong>Operette</strong>n? 304<br />
<strong>Operette</strong> und kulturelle Identität 307<br />
Bibliographie 313<br />
Personenverzeichnis 345
Vorwort<br />
VORWORT<br />
Es mag angebracht sein, gleich zu Beginn ganz kurz auf die Intentionen meiner<br />
Ausführungen aufmerksam zu machen. Der eigentliche Gegenstand meiner Untersuchung<br />
ist die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> oder die <strong>Operette</strong> in der Habsburgermonarchie<br />
während der Jahrzehnte um 1900. Dabei handelt es sich freilich nicht um<br />
eine <strong>Operette</strong>ngeschichte in einem herkömmlichen Sinne. Vielmehr geht es mir<br />
vor allem um einen ganz bestimmen Aspekt, ein konkretes „Formalobjekt“: Um<br />
die Kontextualisierung der <strong>Operette</strong>, das heißt um die konkreten sozialen und<br />
kulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung, um die gesellschaftliche Relevanz,<br />
den Einfluss, den die <strong>Operette</strong> in der Epoche hatte, in der sie entstanden ist<br />
und um die Frage, inwiefern daher die <strong>Operette</strong> ein Spiegelbild von gesellschaftlichen<br />
und kulturellen Verhaltensweisen sein könnte. Der Ertrag eines solchen<br />
Verfahrens bestünde, um eine Überlegung Walter Benjamins aufzugreifen, in<br />
der Erkenntnis, „daß im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und<br />
in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt ist und aufgehoben“. 1<br />
Dabei ist folglich nicht so sehr von Interesse, inwiefern sich die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
spezifischen Traditionen, etwa Operntravestien des 18. Jahrhunderts, die<br />
als <strong>Operette</strong>n bezeichnet wurden, oder dem Alt-<strong>Wiener</strong> Volksstück beziehungsweise<br />
den Nestroyschen Possen und Parodien verdankte. Ebenso wenig wird<br />
danach gefragt, welchen Einfluss die französischen Vaudevilles, die bekanntlich<br />
das Vorbild für viele Nestroystücke waren, oder die <strong>Operette</strong>n Offenbachs<br />
auf die Entstehung der <strong>Operette</strong> in Wien, vor allem die frühen <strong>Operette</strong>n von<br />
Franz von Suppè, hatten. Vielmehr konzentrieren sich die Analysen auf solche<br />
Perspektiven, die die Interdependenz zwischen einer konkreten Lebenswelt und<br />
der Produktion, der thematischen Struktur und der musikalischen Faktur der<br />
<strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> zu verdeutlichen vermögen.<br />
Dabei kann vor allem festgehalten werden, dass eine der wesentlichen Intentionen<br />
dieses musikalischen Unterhaltungstheaters, wie Walter Benjamin über<br />
die Offenbachsche <strong>Operette</strong> kritisch und zum Teil ironisch-parodistisch festgestellt<br />
hatte, vielleicht ganz allgemein darin bestehen könnte, die „öffentliche und<br />
private Zone, die im Geschwätz dämonisch ineinanderliegen, zur dialektischen<br />
Auseinandersetzung zu bringen, reales Menschentum zum Sieg zu führen, das<br />
ist der Sinn der <strong>Operette</strong> […]. Wie das Geschwätz die Knechtung der Sprache<br />
1 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften,<br />
Bd. I/2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp<br />
³1990, S. 691–704, hier S. 703 (= XVII). Ähnlich äußerte sich Benjamin bereits in seinem<br />
Essay über Eduard Fuchs. Vgl. Benjamin, Walter: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker,<br />
in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II/2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann<br />
Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2 1989, S. 465–505, hier S. 468.<br />
9
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
durch die Dummheit besiegelt, so die <strong>Operette</strong> die Verklärung der Dummheit<br />
durch die Musik.“ 2 Und ganz abgesehen von der Tatsache, dass die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
der Jahrzehnte um 1900 thematisch und musikalisch zu einem Reflex und<br />
Propagator von allgemeinen Inhalten der Moderne wurde, sollte darüber hinaus<br />
vor allem das Beachtung finden, was die <strong>Wiener</strong> oder „kakanische“ <strong>Operette</strong><br />
besonders auszeichnet, dass nämlich die vielfältigen „nationellen“ Elemente,<br />
Zeichen oder Codes der heterogenen zentraleuropäischen Region in der musikalischen<br />
Faktur der <strong>Operette</strong>, in ihrem „Interieur“, deutlich wahrnehmbare<br />
„Spuren“ hinterlassen haben, ähnlich wie Menschen und Gegenstände im Interieur<br />
einer Wohnung Spuren hinterlassen. Die Musik wird zu einem Medium,<br />
das diese kulturelle Vielfalt, diese „Mehrsprachigkeit“ der Region, erklingen<br />
lässt, indem durch die Verwendung der reichen popularen musikalischen Elemente,<br />
das heißt durch die Verwendung der Melodien, Tänze und Rhythmen<br />
der Bewohner dieser Region sich diese musikalischen Erinnerungen wie Spuren<br />
im „Interieur“ der <strong>Operette</strong> gleichsam abdrücken. 3 Die <strong>Operette</strong> ist folglich ein<br />
Spiegelbild der regionalen Vielfalt; die Beschäftigung mit der <strong>Operette</strong> wird<br />
daher zur Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den charakteristischen,<br />
differenten Merkmalen der zentraleuropäischen Region und darüber hinaus mit<br />
kulturellen Differenzen und Heterogenitäten im Allgemeinen. Das heißt, die<br />
Analysen der <strong>Operette</strong> münden unmittelbar in Reflexionen über die Pluralität<br />
und Heterogenität der Region und über die Relevanz von Differenzen in der eigenen<br />
Gegenwart. Oder: Aufgrund solcher Analysen erlangt man einen Einblick<br />
in die charakteristischen, konstitutiven Kriterien, in die Differenzen und, wie<br />
sich der Geograf Friedrich Umlauft 1876 ausgedrückt hatte, in die „Contraste“<br />
der Region beziehungsweise des habsburgischen Vielvölkerstaates. 4 Daraus ergibt<br />
sich auch eine wesentliche Perspektive auf die soziale Verfasstheit, auf die<br />
Kultur und auf die Geschichte der Völker dieser Region, eben auch ein Blick auf<br />
das, was man eine Geschichte Österreichs nennen könnte, die erst dann richtig<br />
erfasst und begriffen werden kann, wenn man sich diese Erkenntnis zunutze<br />
macht und in Bezug auf die methodische Herangehensweise stets die Differen-<br />
2 Benjamin, Walter: Karl Kraus, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II/1. Hrsg. von Rolf<br />
Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1989, S. 334–367,<br />
hier S. 356.<br />
3 Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: Benjamin, Walter: Gesammelte<br />
Schriften, Bd. V/1. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1982, S. 45–59,<br />
hier S. 53. Benjamin, Walter: Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien, in: Benjamin,<br />
Walter: Gesammelte Schriften, Bd. II/1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser,<br />
Frankfurt a. Main: Suhrkamp ²1989, S. 89–233, hier S. 217.<br />
4 Umlauft, Friedrich: Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch mit<br />
besonderer Rücksicht auf politische und Cultur-Geschichte für Leser aller Stände, Wien–Pest: Hartleben<br />
1876, S. 1–2.<br />
10
Vorwort<br />
ziertheit und Heterogenität der Region vor Augen hat, sich folglich von einer<br />
differenztheoretischen Hermeneutik leiten lässt. Es ist daher nur folgerichtig,<br />
wenn die Beschäftigung mit der <strong>Operette</strong> zugleich zu einer Beschäftigung mit<br />
der Kultur und Geschichte dieser Region gerinnt und umgekehrt, wenn die<br />
Analyse der kulturellen und historischen Konditionen der Region zu einem<br />
besseren Verständnis der <strong>Operette</strong> beiträgt. Ich habe mich daher bemüht, diese<br />
beiden Gesichtspunkte, die interaktiv miteinander korrespondieren, gebührend<br />
zu berücksichtigen.<br />
Dieser Essay erschien unter dem Titel Ideologie der <strong>Operette</strong> und <strong>Wiener</strong> Moderne<br />
in erster Auflage bereits vor mehr als zwanzig Jahren (Böhlau, 1996) und wurde<br />
ins Ungarische (1999), Russische (2001), Slowenische (2001) und Rumänische<br />
(2013) übersetzt, was ein Beleg dafür sein mag, dass meine Überlegungen mit<br />
einem gewissen Interesse wahrgenommen wurden. Der nun präsentierte Text<br />
folgt zwar der alten Kapiteleinteilung, ist jedoch eine im Wesentlichen aktualisierte,<br />
verbesserte, erweiterte und somit veränderte Version der zweiten Auflage<br />
(Böhlau, 1998) dieser Monographie. All jenen, die mit ihren Anregungen zu<br />
der vorliegenden veränderten Fassung beigetragen haben, möchte ich an dieser<br />
Stelle aufrichtig danken. Mein Dank gilt nachträglich vor allem Norbert Linke<br />
(1933–2020), dem ausgewiesenen Strauß-Spezialisten und hervorragenden Kenner<br />
der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>. Seinem Andenken sei posthum in Dankbarkeit diese<br />
Untersuchung gewidmet.<br />
Wien, im April 2021<br />
11
12<br />
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>
Einleitung<br />
AUS DER EINLEITUNG VON 1996<br />
Da wird immer gefragt, was stellt es dar? Immer soll es etwas sagen, soll erzählen.<br />
... Wenn man von einem Walzer verlangen würde, dass er eine Geschichte erzählen<br />
sollte, fragen würde, was er denn eigentlich meint und sagt, tadeln würde, dass<br />
er keinen deutlichen und klaren Sinn hat, müsste jeder lachen. Ein Walzer ist<br />
doch keine Novelle. Was braucht ein Walzer Vernunft und ethische Bedeutung?<br />
Wenn er nur klingt! Er soll schöne Töne schön gesellen, dass der Fluß dem Ohre<br />
schmeichle. Das ist sein Um und Auf. Ob sich dabei auch noch was denken läßt,<br />
ist gleich. Es kann ja sein. Es kann geschehen, dass er in uns den Tanz von Elfen<br />
oder Flüge von Libellen, also dichterischen Traum oder wirkliches Leben weckt.<br />
Das gibt ihm dann zu seinem musikalischen noch einen anderen unmusikalischen<br />
Reiz. Aber seinen musikalischen Werth wird es nicht ändern, nicht mehren.<br />
Hermann Bahr 5<br />
[…] Alle, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen und die diese Vergangenheit<br />
im Sinne von Friedrich Nietzsches Zweiter unzeitgemäßer Betrachtung:<br />
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben nicht nur „monumentalisch“<br />
sehen, das heißt, sich nicht nur vom Vorbildcharakter historischer Personen und<br />
Ereignisse faszinieren lassen, oder aber nicht nur überwältigt von der Fülle, die<br />
sie bietet, möglichst alle Daten und Fakten einfach sammeln und insofern „antiquarisch“<br />
aneinanderreihen und bewahren wollen, sondern Geschichte auch<br />
„kritisch“ zu hinterfragen beginnen, werden bisweilen traditionellen Themen,<br />
die etwa von der klassischen politischen Geschichte behandelt wurden, weniger<br />
Beachtung schenken und gerade solchen Aspekten eine besondere Aufmerksamkeit<br />
zuwenden, die für eine „monumentalische“ oder „antiquarische“ Sicht<br />
ungewohnt sein mögen, die jedoch anscheinend das Bewusstsein, die Lebenseinstellung<br />
und die alltäglichen Handlungen von Personen und sozialen Gruppen<br />
in der Vergangenheit nachhaltiger geprägt haben und daher eine Vergangenheit<br />
vermutlich verständlicher erscheinen lassen als sogenannte „große“ Ereignisse.<br />
Solche mögen zwar bis in die Gegenwart äußerst folgenreich gewesen sein und,<br />
um ein Bild zu verwenden, vielleicht sogar die politischen Grenzen über den<br />
Köpfen der Bevölkerung hin und her geschoben haben. Doch ebenso folgenreich<br />
sind vermutlich auch die Formen des alltäglichen Lebens, von sozialen<br />
Umgangsformen, von technischen Innovationen oder von kulturellen Fertigkeiten,<br />
die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben und von denen sich<br />
5 Bahr, Hermann: Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 2: 1890–1900. Hrsg. von Moritz Csáky,<br />
bearbeitet von Helene Zand, Lottelis Moser, Lukas Mayerhofer, Wien–Köln–Weimar: Böhlau<br />
1996, S. 89 (1894 Skizzenbuch 1).<br />
13
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
die Mentalität bestimmter Schichten oder der Gesellschaft als Ganzes herleitet,<br />
im Positiven wie im Negativen: „Denn da wir nun einmal die Resultate früherer<br />
Geschlechter sind“, meint Nietzsche, „sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen,<br />
Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich<br />
ganz von dieser Kette zu lösen.“ 6<br />
[…] Zu diesen Bereichen zählt zum Beispiel die Beschäftigung, der jemand<br />
nachging, das heißt der Arbeitsprozess, in welchen ein Individuum einbezogen<br />
war. Da jedoch diese Beschäftigung zumeist auch als eine Notwendigkeit, oft<br />
sogar als ein Zwang angesehen wurde, den man nur akzeptierte, um Geld zu<br />
verdienen, das heißt um im Existenzkampf des Alltags zu bestehen und zu<br />
überleben, dürften andere Bereiche, die eine gewisse Freiwilligkeit aufwiesen,<br />
für das Bewusstsein im Allgemeinen beziehungsweise für die Kritik, die an den<br />
Zwängen des Alltags geübt wurde, oder für die Sehnsüchte, dieser Situation,<br />
wenn auch nur für wenige Stunden, zu entfliehen, symptomatischer gewesen<br />
sein als die Thematisierung der Arbeit selbst oder die Thematisierung von großen<br />
Staatsaktionen, die zumeist abseits der eigentlichen Realität der Bevölkerung<br />
stattfanden. Diese anderen Bereiche, wie etwa die Art und Weise sich zu<br />
unterhalten, verraten nämlich viel mehr über die eigentlichen Interessen von<br />
Personen und sozialen Gruppen, als jene Beschäftigungen, die das Leben in einer<br />
vielleicht ungewollten Weise reglementierten. Die Art, sich in der Zeit des<br />
ausgehenden 19. Jahrhunderts und um 1900 zu entspannen und zu unterhalten,<br />
mag heute zum Teil banal erscheinen […]. Wir erkennen darin zuweilen keinen<br />
Sinn mehr und versuchen daher jeder Unterhaltung oder, in einem übertragenen<br />
Sinne, jedem Walzer, wie Hermann Bahr meinte, eine tiefere Bedeutung zu<br />
unterstellen. Unabhängig davon wurde jedoch diese Art der Unterhaltung nicht<br />
nur für die unmittelbaren Zeitgenossen, sondern ebenso für die nachfolgenden<br />
Generationen prägend, sie sollte daher nicht gleich unter moralischen oder ästhetisch<br />
anspruchsvollen Gesichtspunkten betrachtet und mit einer gewissen<br />
Hybris beurteilt beziehungsweise verurteilt werden. Dies betrifft auch die<br />
<strong>Operette</strong>n, die zu den wichtigsten Unterhaltungsformen der Jahrhundertwende<br />
zählten, von denen die meisten wohl zurecht der Vergessenheit anheimgefallen<br />
sind, deren „klassische“ Vertreter jedoch musikalisch und thematisch interessanter<br />
sind als zuweilen angenommen wird und die daher wohl zu Recht von so<br />
bedeutenden Interpreten wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner<br />
wiederentdeckt worden sind. Wenn man des Weiteren bedenkt, dass die <strong>Operette</strong><br />
der Zeit um 1900 eine der beliebtesten Unterhaltungsformen breiter städtischer<br />
6 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Unzeitgemäße Betrachtungen<br />
II. [1874], in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden,<br />
Bd. 1. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München–Berlin–New York: dtv, de<br />
Gruyter 1980, S. 243–334, hier S. 270.<br />
14
Einleitung<br />
Bevölkerungsschichten war, kann man aus ihr auch auf das Bewusstsein dieser<br />
sozialen Gruppen schließen. Darüber hinaus kann man mit Hilfe einer eingehenden<br />
Analyse mancher <strong>Operette</strong>n auch Mentalitäten entdecken, die nicht nur<br />
in den Städten, sondern in einer ganzen europäischen Region vorhanden waren<br />
und die in der kulturellen Erinnerung anscheinend bis in die Gegenwart von<br />
Bedeutung geblieben sind. Sowohl in ihren musikalischen Ausdrucksformen als<br />
auch in ihren Inhalten sind nämlich kulturelle Zusammenhänge wahrnehmbar,<br />
die gleichermaßen für das individuelle und kollektive Selbstverständnis jener<br />
Zeit, in welcher sie entstanden sind, als auch, in einem übertragenen Sinne, für<br />
das Selbstverständnis in der Gegenwart charakteristisch sein mögen.<br />
[…] Zwar bietet gerade der Facettenreichtum des Genres <strong>Operette</strong> die Möglichkeit,<br />
auf Zusammenhänge aufmerksam zu machen, welche die <strong>Operette</strong><br />
neben ihrem reinen Unterhaltungswert enthält und die erst aus ihrer Rückversetzung<br />
in jenen sozial-kulturellen Kontext, dem sie entstammten, sichtbar<br />
werden. So lassen sich anhand der <strong>Operette</strong> nicht nur wesentliche Merkmale der<br />
Moderne der Jahre um 1900 beziehungsweise der <strong>Wiener</strong> Moderne verdeutlichen,<br />
sondern ebenso auch Fragen nach den Kriterien einer zentraleuropäischen<br />
beziehungsweise einer „österreichischen“ Kultur und Geschichte aufzeigen.<br />
Freilich, verschiedene Gesichtspunkte, die ich in einem jeweils unterschiedlichen<br />
Zusammenhang nur andeuten konnte, würden es verdienen, ausführlicher<br />
und begründeter dargestellt zu werden. Jene, die sich daher vielleicht eine neue,<br />
eine umfassende Darstellung der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> erwarten, werden von meinen<br />
Ausführungen ebenso enttäuscht sein wie jene, die nach einer detaillierteren<br />
Hintergrundinformation über den sozialen und kulturellen Kontext der Zeit<br />
um 1900 Ausschau halten. Ich wollte jedoch weder eine Geschichte der <strong>Operette</strong><br />
schreiben noch einen umfassenden Überblick über die historisch-kulturellen<br />
Gegebenheiten der Zeit um 1900 anbieten. Hätte ich diesen beiden Forderungen<br />
gerecht werden wollen, wäre die vorliegende Untersuchung auf das Vielfache<br />
ihres gegenwärtigen Umfangs angewachsen. Ich hielt es lieber mit Stefan Collini,<br />
der bereits vor mehreren Jahren den „Geisteswissenschaftlern“ geraten<br />
hatte, um auch gelesen zu werden, nicht viel zu schreiben, sondern sich auf<br />
Wesentliches zu beschränken. 7 Dieses Wesentliche anzudeuten sehe ich darin,<br />
versucht zu haben, mit Hilfe einer vielleicht ungewohnten Analyse der <strong>Wiener</strong><br />
<strong>Operette</strong> der Jahrhundertwende nicht nur die gesellschaftlichen und kulturellen<br />
Implikationen eines der beliebtesten Unterhaltungsgenres darzustellen, sondern<br />
gleichzeitig aufzuzeigen, wie aus einer Rekontextualisierung eines musikalischen<br />
Genres in seinen breiteren gesellschaftlichen, politischen und kulturellen<br />
7 Collini, Stefan: Neue Leier, neue Dreier. Forschung in den Geisteswissenschaften, in: Kursbuch 91<br />
(März 1988), S. 2–9.<br />
15
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
Kontext Rückschlüsse auf Bewusstseinsinhalte gezogen werden können, die das<br />
Leben in einer bestimmten europäischen Region in der Vergangenheit bestimmt<br />
haben und die in gewissem Sinne wohl auch bis in unsere eigene Gegenwart<br />
relevant geblieben sind. […]<br />
16
Die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> – ein Symptom des Wertvakuums?<br />
I. DIE WIENER OPERETTE – EIN SYMPTOM DES<br />
WERTVAKUUMS?<br />
<strong>Operette</strong>ngeschichte<br />
Es ist erstaunlich, dass das Genre <strong>Operette</strong> als Ganzes bis heute noch kaum einer<br />
gründlichen musik- und sozialwissenschaftlichen Analyse unterzogen worden<br />
ist. Erst recht gilt dies für jenen <strong>Operette</strong>ntypus, der im Bereich der ehemaligen<br />
Habsburgermonarchie entstanden war, für die sogenannte „<strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>“.<br />
Einer solchen Feststellung widerspricht auch nicht die Tatsache, dass gerade in<br />
den letzten Jahren die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit der<br />
<strong>Operette</strong> wieder in Mode gekommen zu sein scheint, mag auch ein Biograph<br />
des Komponisten Emmerich Kálmán schon vor vielen Jahren emphatisch gemeint<br />
haben: „Die Zeiten, wo man die <strong>Operette</strong> nicht ernst nahm und sie in<br />
künstlerischer Beziehung als zweit- oder drittrangig hintansetzte, sind heute<br />
endgültig überwunden, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß alles, was<br />
sich heutzutage <strong>Operette</strong> nennt, auch tatsächlich auf das Prädikat ‚künstlerisch‘<br />
Anspruch erheben darf.“ 1 Trotz eines solchen offen zur Schau getragenen Optimismus<br />
in Bezug auf eine Neubelebung der <strong>Operette</strong> scheint hingegen die<br />
nunmehr bereits hundert Jahre zurückliegende Einschätzung Erwin Riegers im<br />
Grunde genommen auch heute noch von einer gewissen Gültigkeit zu sein und<br />
an Glaubwürdigkeit kaum etwas eingebüßt zu haben:<br />
Es ist merkwürdig, dass man sich so selten zu einer ernstlichen Auseinandersetzung<br />
mit dieser immerhin beachtenswerten und für das europäische Kulturbild<br />
der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mitbestimmenden Erscheinung<br />
entschloß, umso merkwürdiger, als sie das Theater in die tiefsten Niederungen<br />
riß und für sie heute sehr wohl das Wort gilt, das Emile Zola in seiner<br />
naturalistischen Unerbittlichkeit einst schon Offenbach entgegenzuschleudern<br />
für notwendig hielt: ‚Die <strong>Operette</strong> ist ein öffentliches Übel. Man soll sie erwürgen<br />
wie ein schädliches Tier‘. 2<br />
1 Oesterreicher, Rudolf: Emmerich Kálmán. Das Leben eines <strong>Operette</strong>nfürsten. Mit einem Vorwort von<br />
Maurus Pacher, Beiträgen von Hans Arnold, Charles, Lily und Yvonne Kálmán, Wien: Amalthea ²1988,<br />
S. 209.<br />
2 Rieger, Erwin: Offenbach und seine <strong>Wiener</strong> Schule, Wien–Berlin: <strong>Wiener</strong> Literarische Anstalt 1920,<br />
S. 24.<br />
17
Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
Sieht man vor allem von den Monographien von Volker Klotz ab 3 , die den<br />
allgemeinen musik- und literatursoziologischen Zusammenhang der <strong>Operette</strong>nproduktion<br />
und ihre Rezeption zu erörtern versuchen (was teilweise vor allem<br />
auf den historisch-analytischen ersten Teil und die Besprechung einzelner <strong>Operette</strong>n<br />
in dem umfangreichen <strong>Operette</strong>nführer <strong>Operette</strong>. Porträt und Handbuch einer<br />
unerhörten Kunst zutrifft), verdienen zunächst vor allem zwei bereits ältere Untersuchungen<br />
erwähnt zu werden: die des Amerikaners Richard Traubner, 4 zwar<br />
„<strong>Operette</strong>ngeschichte“ in traditioneller Manier, jedoch gut recherchiert und mit<br />
relativ vielen Hintergrundinformationen, und die voluminöse Monographie des<br />
Italieners Carlo Runti über die <strong>Wiener</strong> beziehungsweise über die <strong>Operette</strong> der<br />
Habsburgermonarchie. 5 Runti kommt das große Verdienst zu, über die gewohnte<br />
<strong>Wiener</strong> lokalhistorische Berichterstattung hinaus auch den zumeist vernachlässigten<br />
italienischen Kulturraum miteinzuschließen, statistisches Vergleichsmaterial<br />
anzubieten 6 und sich zumindest ansatzweise auch in musikalische Analysen vorzuwagen.<br />
Traubner läßt es dem gegenüber, ähnlich wie die älteren Darstellungen<br />
von Otto Keller 7 , von Bernhard Grun 8 oder von Franz Hadamowsky und Heinz<br />
Otte 9 , bei einem geschichtlichen Überblick bewenden und verzichtet weitgehend<br />
3 Klotz, Volker: Bürgerliches Lachtheater. Komödie – Posse – Schwank – <strong>Operette</strong>, München: dtv 1980,<br />
bes. S. 185–252. Klotz: Volker: <strong>Operette</strong>. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. 4., durchgesehene<br />
und erweiterte Auflage, Kassel–Basel u. a.: Bärenreiter 2016.<br />
4 Traubner, Richard: Operetta. A Theatrical History, Garden City–New York: Doubleday & Company<br />
1983.<br />
5 Runti, Carlo: Sull’onda del Danubio blu. Essenza e storia dell’operetta viennese, Trieste: LINT 1985.<br />
6 Zum Beispiel eine Übersicht über Orte der Handlungen S. 221–227, über Theater- und Opernparodien<br />
S. 228–238, über <strong>Operette</strong>n-Erstaufführungen, mit Angabe der Theater S. 242–246, über<br />
„amerikanische“ <strong>Operette</strong>n S. 265 usw.<br />
7 Keller, Otto: Die <strong>Operette</strong> in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Musik – Libretto – Darstellung, Leipzig–<br />
Wien–New York: Stein 1926.<br />
8 Grun, Bernard: Kulturgeschichte der <strong>Operette</strong>, Berlin: VEB Lied der Zeit Musikverlag 1967.<br />
9 Hadamowsky, Franz/Otte, Heinz: Die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>. Ihre Theater- und Wirkungsgeschichte, Wien:<br />
Bellaria 1947. Es sei hier auch auf zwei ungarische Werke hingewiesen: Gáspár, Margit: A múzsák<br />
neveletlen gyermeke. A könnyűzenés színpad kétezer éve (Das unerzogene Kind der Musen. Zweitausend<br />
Jahre musikalisches Unterhaltungstheater), Budapest: Zeneműkiadó 1963. Gál, György Sándor/<br />
Somogyi, Vilmos: <strong>Operette</strong>k könyve. Az operett regényes története (Das Buch der <strong>Operette</strong>n. Romanhafte<br />
Geschichte der <strong>Operette</strong>), Budapest: Zeneműkiadó 1976. Über die <strong>Operette</strong> v. a. der Monarchie, also<br />
auch der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> in Tschechien informiert u. a. Šulc, Miroslav: Česká Operetní Kronika<br />
1863–1948. Vyprávení a fakta (Tschechische <strong>Operette</strong>n-Chronik 1863−1948. Geschichten und Fakten),<br />
Praha: Divadelní ústáv 2002. Außerordentlich nützlich ist auch ein von Otto Brusatti und Wilhelm<br />
Deutschmann verfasster Ausstellungskatalog: Fle Zi Wi Csá & Co. Die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>. 91.<br />
Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1985. Über die <strong>Operette</strong> im<br />
Allgemeinen vgl. u. a. Zimmerschied, Dieter: <strong>Operette</strong>. Phänomen und Entwicklung, Wiesbaden:<br />
Breitkopf & Härtel 1988. Über die <strong>Operette</strong> in Frankreich vgl. u. a. das umfangreiche Werk von<br />
Bruyas, Florian: Historie de l’operette en France, 1855–1965, Lyon: Emmanuel Vitte 1974. Dufresne,<br />
Claude: Histoire de l’operette à nos jours, Paris: Nathan 1981. Zu Italien siehe Massimini, Sandro/<br />
Nugnes, Pino: Storia dell’operetta, Milano: Ricordi 1984.<br />
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Die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> – ein Symptom des Wertvakuums?<br />
nicht nur auf eine eingehende musikalische Analyse, die uns die Musikologen,<br />
abgesehen von einigen wenigen verdienstvollen Beispielen, 10 bis heute schuldig<br />
geblieben sind, sondern vor allem auch auf jene komparatistische Sichtweise, die<br />
der Erforschung eines so komplexen Phänomens, das die <strong>Operette</strong> darstellt, gerecht<br />
werden könnte. Denn erst eine Zusammenschau der vielfältigen Facetten<br />
der <strong>Operette</strong>, ein Vergleich ihrer rezeptions- und institutionsgeschichtlichen<br />
Paradigmen und die Berücksichtigung des sozio-kulturellen, des literarischen<br />
und des politischen Umfeldes wären wohl imstande, das zu leisten, was man von<br />
einer Sozial- und Kulturgeschichte der <strong>Operette</strong> zu Recht erwarten müsste 11 .<br />
Abgesehen von neueren, wichtigen Forschungsansätzen und -ergebnissen zum<br />
Beispiel von Kevin Clarke sind bereits vor längerer Zeit zwei Untersuchungen<br />
erschienen, die diesen Forderungen noch am nächsten kommen und damit eine<br />
neue Sicht auf die <strong>Operette</strong> ermöglicht haben. Es sind dies die Untersuchung von<br />
Michael Klügl über die <strong>Operette</strong> im Allgemeinen und eine subtile Analyse über<br />
Franz Lehár von Stefan Frey. 12<br />
Wenn es also bisher, trotz solcher zögerlicher Versuche, zu keiner umfassenden,<br />
ernsthaften Beschäftigung mit der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> gekommen ist, muss<br />
das wahrscheinlich seine Gründe gehabt haben. Abgesehen davon, dass sich die<br />
Geschichtswissenschaft in der Tat erst seit wenigen Jahrzehnten jenen kulturellen<br />
Phänomenen zuwandte, die für das alltägliche Leben und somit auch für das<br />
Bewusstsein, für die Mentalitäten breiterer sozialer Schichten von Bedeutung<br />
waren, ließen sich einige Gründe dafür namhaft machen, weshalb vor allem die<br />
<strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong>, jene erfolgreiche Variante eines musikalischen Genres, das<br />
seinerzeit große Teile des theaterhungrigen Publikums auch der Habsburgermonarchie<br />
zu begeistern vermochte, bisher keiner kritischen Analyse unterzogen<br />
worden ist. Die Aufforderung zu einer solchen kritischen Bestandsaufnahme ist<br />
freilich nicht gleichzusetzen mit dem Versuch der simplen Aufwertung einer<br />
10 Vgl. z. B. Freeze, Timothy David: ‚Fit for an Operetta‘. Mahler and the Popular Music of His Day, in:<br />
Partsch, Erich Wolfgang/Solvik, Morten (Hrsg.): Mahler im Kontext. Contextualizing Mahler. Mit<br />
einer Einleitung von Constantin Floros, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2011, S. 365–396.<br />
11 Vgl. dazu auch die Einführung zum Thema <strong>Operette</strong> in: Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts.<br />
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6, Laaber: Laaber 1980, S. 187–197. Erste<br />
Informationen über die <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong> in: Flotzinger, Rudolf/Gruber, Gernot (Hrsg.): Musikgeschichte<br />
Österreichs. 2., überarbeitete und stark erweiterte Auflage, Bd. 3: Von der Revolution 1848<br />
zur Gegenwart, Wien–Köln–Weimar: Böhlau 1995, S. 42–50 (G. Gruber), S. 113–115, S. 208–209<br />
(Friedrich C. Heller).<br />
12 Klügl, Michael: Erfolgsnummern. Modelle einer Dramaturgie der <strong>Operette</strong>, Laaber: Laaber 1992. Frey,<br />
Stefan: Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik, Tübingen: Niemeyer 1995. In<br />
der Folge verfasste Frey zwei weitere Monographien über Lehár. Vgl. Frey, Stefan: „Was sagt ihr<br />
zu diesem Erfolg“. Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik, Frankfurt a. Main: Insel 1999. In einer<br />
erweiterten Überarbeitung: Frey, Stefan: Franz Lehár: Der letzte <strong>Operette</strong>nkönig. Eine Biographie,<br />
Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2020.<br />
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Das kulturelle Gedächtnis der <strong>Wiener</strong> <strong>Operette</strong><br />
Kunstgattung, die in sich so große Unterschiede aufweist, dass es schwerfällt, allen<br />
einzelnen und äußerst unterschiedlichen <strong>Operette</strong>nproduktionen und -typen<br />
gleichermaßen gerecht zu werden. Daher ist es noch immer leichter, die <strong>Operette</strong><br />
insgesamt in das Reich der reinen Unterhaltung, des Amüsement zu verweisen<br />
und sie damit mit der Etikette eines Vorbehalts zu versehen, der weder einer<br />
gerechten Beurteilung ihrer unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucksmittel,<br />
ihrer Formensprache, noch ihrer sozialhistorischen Einordnung dienlich sein<br />
kann. Solche Pauschalurteile sind noch immer sehr verbreitet und finden sich<br />
allemal auch bei ernsthaften Musik- und Kulturwissenschaftlern.<br />
Ein minderwertiges Kunstprodukt?<br />
So hatte zum Beispiel der Soziologe und Musikwissenschaftler Theodor W.<br />
Adorno zeit seines Lebens ein äußerst ambivalentes Verhältnis zu dem, was<br />
allgemein als „leichte Musik“ apostrophiert wird. Sein Urteil hatte vor allem<br />
in der Musikwissenschaft lange Zeit großes Gewicht. Daher sollte man seine<br />
Kritik ernst nehmen und sich gleichermaßen davor hüten, eine analytische<br />
Untersuchung des Genres <strong>Operette</strong> in dessen simple Verteidigung ausarten zu<br />
lassen, denn: „Wie stets der Schwachsinn den erstaunlichsten Scharfsinn aufbringt,<br />
sobald ein schlechtes Bestehendes zu verteidigen ist, haben die Sprecher<br />
der leichten Musik sich angestrengt, solche Standardisierung, das Urphänomen<br />
musikalischer Verdinglichung, des nackten Warencharakters, ästhetisch zu<br />
rechtfertigen und den Unterschied der gesteuerten Massenproduktion von der<br />
Kunst zu verwischen“. 13 Genügt es aber, die <strong>Operette</strong> einfach dem Bereich der<br />
„leichten Musik“ zuzuweisen, diese, Adorno folgend, pauschal als minderwertig<br />
abzutun, die „heute ausnahmslos schlecht ist, schlecht sein muß“ 14 und sich folglich<br />
auch mit der <strong>Operette</strong> nicht ernsthaft weiter auseinanderzusetzen? Ohne<br />
Zweifel gibt es und gab es schon immer auch in der Musik Qualitätsunterschiede,<br />
wie auch im Theater und in anderen Kunst- und Kulturbereichen. Dennoch<br />
lässt sich vom Standpunkt ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz feststellen, dass<br />
gerade die zu ihrer Zeit oder im Nachhinein oft als minderwertig apostrophierten<br />
Kunstprodukte in bestimmten Gesellschaftsschichten populärer waren und<br />
mehr Zuspruch erhielten als die sogenannte „hohe Kunst“. Wenn dem so ist,<br />
13 Adorno, Theodor W.: Leichte Musik, in: Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie<br />
(= Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 14. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter<br />
Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz), Darmstadt: WBG 1998,<br />
S. 199–218, hier S. 204.<br />
14 Adorno, Theodor W.: Nachwort Musiksoziologie, in: Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie,<br />
S. 422–433, hier S. 429.<br />
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