12.05.2022 Aufrufe

Unterwegs 0522 Ausgabe Nr. 47

Was «Unterwegs» heisst, kann unmöglich stillstehen. Brügglis Mitarbeiter- und Kunden­magazin will bewegen und inspirieren. Es versteht sich als Navigator und Leuchtturm. Möge es Ihren Alltag erhellen. «Unterwegs» wird mit wenig Ressourcen und viel Leidenschaft in Brügglis Unternehmenskommunikation konzipiert, geschrieben und gestaltet und bei Brüggli Medien gedruckt und weiterverarbeitet.

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Fokus<br />

«Heute geht es mir gut»<br />

Richard Schmid hat Schlimmes erlebt in Kinder- und<br />

Jugendheimen. Die Schatten der Vergangenheit sind nicht fort,<br />

aber das Gute hat Platz gefunden in seinem Leben.<br />

Das Wichtigste zuerst: «Heute geht es mir gut», sagt<br />

Richard Schmid. Der 59-Jährige arbeitet im Papierlager<br />

von Brüggli Medien und sorgt dafür, dass das richtige Papier<br />

zur rechten Zeit an der rechten Druckmaschine ist. Den<br />

Lastwagen ausladen, die Paletten anschreiben,<br />

das Lager bewirtschaften: «Ich<br />

mag die Bewegung und die Abwechslung»,<br />

sagt er, «und bin froh, dass ich<br />

selbständig arbeiten darf.»<br />

Weggegeben und ausgebeutet<br />

Die Kindheit von Richard Schmid führt zu einem traurigen und<br />

unbequemen Kapitel in der Schweizer Geschichte: Von 1800 bis<br />

in die 1960er-Jahre wurden Kinder zu Zehntausenden von überforderten<br />

Eltern weggegeben oder von Behörden dem Elternhaus<br />

entrissen. Vor allem Waisen und Scheidungskinder wurden weitergereicht<br />

als billige Arbeitskräfte ohne Rechte. Man liest von<br />

Verdingmärkten, auf denen die Mädchen und Buben feilgeboten<br />

wurden. Oft landeten sie auf Bauernhöfen, wo sie wie Leibeigene<br />

und Sklaven arbeiten mussten. Oft auch fristeten sie ein<br />

trauriges Dasein in Kinderheimen. Zeitzeugen und Opfer erzählen<br />

von seelischer und körperlicher Misshandlung und von sexuellem<br />

Missbrauch. Die Rolle der Ämter und Behörden ist dabei genauso<br />

fraglich wie die Rolle von Schulen, Kinderheimen und Kirche: Sie<br />

haben zu einem Verbrechen beigetragen, für das sich die Schweizer<br />

Regierung 2013 entschuldigte. Justizministerin Simonetta<br />

Sommaruga sprach von einer Verletzung der Menschenwürde,<br />

die nicht mehr gutzumachen sei. 2016<br />

kam vonseiten Politik die Zustimmung,<br />

den noch lebenden Opfern von Kinderund<br />

Zwangsarbeit eine finanzielle Entschädigung<br />

zu leisten.<br />

Eine Anerkennung<br />

Auch Richard Schmid hat eine solche Entschädigung erhalten. Am<br />

16. Dezember 2021 bekam er die Nachricht: Sein Fall wird anerkannt.<br />

«Mir ist fast der Telefonhörer aus der Hand gefallen, und<br />

ich musst lange weinen», erinnert er sich an den Tag, der sein Leben<br />

verändern sollte. Die Entschädigung kann nicht gutmachen,<br />

was ihm die Nonnen in einem katholischen Kinderheim im Kanton<br />

Luzern angetan haben. Sie kann nicht die Demütigungen wegwischen,<br />

die dem kleinen Jungen mit Essensentzug und Isolation<br />

im Kellerverlies beigebracht wurden. Und sie mag auch nicht die<br />

Er hat die Würde, die ihm<br />

als Kind genommen wurde,<br />

wiedererlangt.<br />

Zwangsarbeit und Missbrauch:<br />

ein düsteres Kapitel<br />

in der Schweizer Geschichte.<br />

Schläge und verbalen Erniedrigungen vergessen machen, die ihm<br />

ein Schulleiter oder andere Kinder zugefügt haben. Und doch ist<br />

die Entschädigung sowas wie ein Abschluss und zugleich ein Urteil,<br />

das unterstreicht: Da lief verdammt viel schief.<br />

Ein verstörendes Ganzes<br />

Fingerdicke Akten und Protokolle damaliger<br />

Behörden vermitteln, wie der junge<br />

Richard durch die Heime geschleppt<br />

wurde, wie Schulen, Heilpädagogen,<br />

psychiatrische Einrichtungen und die IV<br />

ihn taxierten. Da ergibt sich das Bild eines Buben mit Lernschwierigkeiten<br />

und Verhaltensauffälligkeiten, der mal liebenswert-zurückgeblieben<br />

und mal übermütig-offensiv seinen Platz suchte.<br />

Die Gewalt und Demütigung, die er schildert, und die nüchternen<br />

Worte der Heimvertreter, Behörden und Ärzte in den Akten fügen<br />

sich zu einem verstörenden Ganzen, das von zwei unterschiedlichen<br />

Seiten verstanden werden will: einerseits im historischen<br />

Kontext und im Auge eines damals unerbittlichen Systems, andererseits<br />

in der traurigen Realität eines Kindes, das diesem System<br />

zum Opfer fiel, sowie in der Gegenwart eines Seniors, der verzeihen,<br />

aber nicht vergessen kann.<br />

Stolz auf die Kinder<br />

Die Wunden sind tief. Und doch blüht das Leben. Richard Schmid<br />

hat zwei Kinder aus einer Ehe, die in die Brüche ging: Seine Tochter<br />

ist 30, sein Sohn 28. «Ich bin stolz, dass meine Kinder wissen,<br />

dass ich ihr Vater bin. Wir haben regelmässig<br />

Kontakt.» Es hätte anders kommen<br />

können, sagt er. Für jemanden mit<br />

seiner Geschichte und seiner Vorbelastung<br />

hätte das Leben auch Abwege bereithalten<br />

können.<br />

Nach seiner Odyssee durch Kinder-, Jugend- und Erziehungsheime<br />

während etwa 12 Jahren machte Richard Schmid eine Anlehre zum<br />

Möbelschreiner. Aus dem Buben war ein junger Mann geworden,<br />

der sich besser wehren und besser für sich einstehen konnte. Er<br />

arbeitete nach der Lehre in einer Möbelfabrik und später bei einem<br />

Fenster- und Türenbauer. 2009 holt ihn die Vergangenheit<br />

ein: Konzentrationsstörungen, Gedächtnisverlust, womöglich Folgen<br />

der Schläge und Erniedrigungen, machen ihn zum IV-Fall.

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