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150 Jahre BOKU Festrede Olga Flor

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Kipppunkte<br />

Langsam sollten wir als Menschen das verinnerlicht haben: Dinge, die ins Rutschen geraten, sind dann irgendwann erstaunlich oft wirklich weg, über die<br />

Kante geglitten, abgestürzt und aus dem Blick geraten. Von einem Moment auf den anderen passiert das, und dieser Zwischenraum, dieser auf seltsame<br />

Weise eingefrorene Augenblick, an dem das Entscheidende passiert, ist ein Kipppunkt: Er markiert die Grenze, ab der es kein Zurück mehr gibt. Points<br />

of no return, wie sie den Ereignishorizont um ein Schwarzes Loch bilden, eine astronomische Singularität, die alles Licht und alle Materie aufsaugt, die<br />

ihr zu nahekommen.<br />

Wenn etwas aus der Hand rutscht, und man hält es zuerst noch mit drei Fingern, dann mit zwei, schafft einen Zangengriff mithilfe des Daumens, glaubt<br />

für ein paar Sekunden, die Bewegung zumindest stabilisieren zu können, den Status quo zu halten, aber leider, leider ist der Schwerpunkt schon zu tief<br />

unten, muss man schließlich einsehen, dass die Sache entgleitet, und kann nur noch hoffen, dass sie bis zum Aufprall nicht mehr ausreichend beschleunigt<br />

wird, als dass das Gefüge völlig zerstört würde. Natürlich gibt es immer Stimmen, die meinen, man könne den Vorgang, da er nun einmal nicht mehr<br />

zu bremsen sei, wenigstens zum eigenen Vorteil nutzen, nutzbringend vermarkten, zumindest entsteht ja so etwas wie Reibungswärme, und Wärme<br />

ist Energie, Energie ist Geld. Man will schließlich weiterleben, und da hält man sich am besten an dem bisschen Gewohnten fest, das noch zu finden ist:<br />

der Suche nach dem eigenen Vorteil, und sei er noch so kurzfristig.<br />

Menschen scheinen auch durchaus imstande zu sein, solche Bewegungsabläufe zu erkennen, zu beschreiben, als systematisch zu begreifen und ihren<br />

zukünftigen Verlauf vorherzusagen - ein Problem haben wir allerdings damit, diesen Entwicklungen entgegenzusteuern. Nun ist naturgemäß nicht jede<br />

Entwicklung eine zum Schlechteren hin. Angesichts des Ausbeutungsgrades unserer Biosphäre durch die Hochleistungsökonomie und den immer<br />

gravierender werdenden Umweltfolgen muss jedoch konstatiert werden, dass es viele Entwicklungen gibt, die nicht nur dem Überleben bestimmter<br />

Ökosysteme etwa entgegenstehen, sondern dem eines stabilen Erdklimas insgesamt und damit eines Großteils des Lebens auf der Erde, nicht zuletzt<br />

des menschlichen. Denkbar ist allerdings auch, dass sich die Menschheit zwar selbst um die eigene Lebensgrundlage bringt, dass aber Leben in anderer<br />

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Form eine Klimakatastrophe durchaus überstehen und ohne menschliche Dauereingriffe vielleicht sogar prosperieren würde … Oder, wie eine<br />

Klimawissenschaftlerin in einem Vorgespräch zu mir sagte: Um die Erde mache ich mir keine Sorgen, die überlebt das.<br />

Forschungsinstitutionen wie die Universität für Bodenkultur Wien, deren <strong>150</strong>-jähriges Bestehen wir heute feiern, sind ganz wesentlich für die Analyse<br />

der Ursachen des krisenhaften Klimageschehens und die Erforschung von Mechanismen zur Gegensteuerung. Der wissenschaftliche Bogen der <strong>BOKU</strong><br />

spannt sich von Prozesstechnik über (Nano-)Biotechnologie, Wasser-Atmosphäre-Umwelt-Forschung, Lebensmittelwissenschaften und soziologische<br />

Ökologie, Raum, Landschaft und Infrastruktur, nachhaltige Agrarsysteme, Wald- und Bodenwissenschaften bis hin zur angewandten Genetik und<br />

Zellbiologie, sie erforscht Fragen der Biodiversität ebenso wie die des Globalen Wandels, der Bioökonomie und der Nachhaltigkeit, und die Liste ist<br />

noch lange nicht zu Ende, wenn man sie sich vollständig durchliest, rauscht es durchaus in den Ohren. Ich möchte mich an dieser Stelle bei all den<br />

Forscher*innen der <strong>BOKU</strong>, die mir im Vorfeld dieser Veranstaltung so bereitwillig, geduldig und erhellend Auskunft über ihre Arbeit gegeben haben,<br />

ganz herzlich bedanken.<br />

Die Jugendsicherheit, die mich als Kind des Kalten Krieges in meinem Erwachsenwerden begleitete, dass nämlich alles immer besser werden würde,<br />

dass man hoffen könne auf die Entwicklung hin zu einer demokratischeren, friedlicheren Welt, die Umwandlung der Gesellschaften hin zu<br />

partizipativeren, integrativeren und gleichberechtigteren, ja, sogar die Einsicht in die Umweltzerstörung und die Umorientierung in Richtung<br />

nachhaltigeren Wirtschaftens, hat sich offensichtlich aufgehört, legte ab den mittleren Neunzigerjahren in diesem Jahrtausend abrupt eine Bauchlandung<br />

nach der anderen hin. Man konnte in Europa auch auf eine Demokratisierung Russlands hoffen - und mich rührte es damals sehr, als sich die finnische<br />

Band „Leningrad Cowboys“ ihren Herzenswunsch erfüllte und in ihrer „Total Balalaika Show“ mit dem Red Army Choir gemeinsam schreckliche<br />

amerikanische und russische Schnulzen sang, bezeichnenderweise den Song „Those were the days“, der fortgeführt wird mit der hoffnungsvollen Zeile<br />

„we thought they’d never end“. Nun, das taten sie sehr rasch und sehr entschieden. Und der Begriff des Totalen, der sich in den Titel geschlichen<br />

hatte, war sicher eine mehrfache ironische Aufdopplung von Realität, die in den heutigen Totalitarismen nachwirkt. Der Begriff „Wandel durch Handel“<br />

war ebenfalls nicht per se verwerflich, wenn er allerdings schon das brutale Gesicht des Kapitalismus in sich trug, dessen zentrale Proponent*innen sich<br />

wie auch die Politik und breite Teile der Öffentlichkeit den Abbau der eben erworbenen demokratischen Strukturen im größten Sowjetnachfolgestaat<br />

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schönredeten, ebenso wie die Kriege in Georgien, Tschetschenien und Syrien, die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass, in Transnistrien,<br />

Südossetien und Abchasien, die Morde an Regimekritiker*innen wie etwa Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko, so lange der wirtschaftliche<br />

Austausch reibungslos funktionierte, also bis zum Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Und irgendwann in diesem langen Prozess des<br />

Wegsehens und Hinwirtschaftens muss es wohl auch einen Punkt gegeben haben, jenseits dessen der Machtwille des russischen Präsidenten nicht mehr<br />

zu stoppen war, ebensowenig das, was er aus einem imperialistischen Impuls heraus bereit war zu tun, einem Impuls, der irgendwo zwischen Iwan dem<br />

Schrecklichen und Stalin angesiedelt war, wie das Vladimir Sorokin in seinem hellsichtigen Buch „Der Tag des Opritschniks“ schon 2006 beschrieb: Ein<br />

Kipppunkt der Weltgeschichte hin zum großflächigen Angriffskrieg wurde überschritten.<br />

Nicht nur sorgt dieser Krieg - und dies ist offensichtlich nicht der erste in Europa seit 1945 und schon gar nicht global - für Flucht, Vertreibung,<br />

massenhaften Mord, Folter, Vergewaltigung und nicht zuletzt Umweltzerstörungen. Der Krieg hat auch Folgen für die weltweite Ernährungssicherheit<br />

aufgrund der Mais- und Getreideproduktion - nicht zuletzt für die Massentierhaltung -, die auf den Schwarzerdeböden der Ukraine basiert, die, wie der<br />

altösterreichische Autor Josef Roth schrieb, ihre Fruchtbarkeit „faulenden Gebeinen“ 1 der Toten verdankten, ein Gedanke, der sich bruchlos an die<br />

Gegenwart fügt. Die Getreideproduktion der Ukraine ist nun stark gefährdet, wenn sie nicht ganz zum Erliegen kommt, von den mangelnden<br />

Exportmöglichkeiten aufgrund der Belagerung der Schwarzmeerhäfen ganz abgesehen. Die weltweite Hungerkrise verschärft sich, etwa im Jemen, in<br />

Nigeria und im Süd-Sudan 2 .<br />

Nicht nur dieser Krieg also, besonders auch die immer krasseren Folgen des scheinbar unbremsbaren ökonomischen Wachstumsgebots für alles Leben<br />

auf der Erde, nicht nur der Backlash gegen den Feminismus - durch den Krieg sowieso, aber auch durch Versuche in vielen Staaten, das Recht auf<br />

Zugang zu Abtreibung einzuschränken und überhaupt in vielfältiger Weise die Kontrolle über weibliche Körper zu erlangen - und alles, was heute<br />

„woke“ genannt wird und was doch eigentlich nur die Einfühlung und den Respekt gegenüber vielfältigen Lebens- und Identifikationsformen zum Ziel<br />

hat, nicht nur die nicht enden wollenden pandemischen Varianten, nein, nichts Einzelnes des Genannten, doch alles zusammen führt zu einem<br />

1 hier zitiert nach: Klaus Nüchtern: Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Würdigung. Falter 14/22, S. 34ff.<br />

2 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/weizen-palmoel-indien-indonesien-exportverbot-1.5585553<br />

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Lebensgefühl der permanenten Überforderung. Das Gefährliche an diesem Gefühl ist, dass es leicht ist, darüber die Handlungsfähigkeit zu verlieren.<br />

Handlungsfähigkeit, die es doch ganz bestimmt braucht, um dem Klimawandel entgegenzutreten, der wohl das wirkmächtigste aller Probleme der<br />

Menschheit ist - sofern sie sich nicht rechtzeitig selbst ausrottet, denn auch das würde dem menschengemachten Klimawandel eindeutig ein Ende<br />

bereiten.<br />

Zum Erlangen der Handlungsfähigkeit angesichts von Krisen bedarf es mindestens der Fähigkeit zur Reflexion. Um Reflexionsfähigkeit zu erwerben,<br />

braucht es Ausbildung. Die Universität für Bodenkultur Wien bildet seit <strong>150</strong> <strong>Jahre</strong>n junge Menschen aus (seit 1919 auch Frauen), zunächst, wie der<br />

Name schon nahelegt, hauptsächlich für die Theorie und Praxis in Forst- und Landwirtschaft, aber auch und immer stärker für Fragen der Nachhaltigkeit<br />

derselben, sodass es zu der schon angesprochenen beeindruckenden aktuellen Breite an Fachgebieten und interdisziplinären Forschungsstrukturen<br />

kommt. Dabei war die Geschichte der <strong>BOKU</strong>, wie die der meisten Universitäten in Österreich, leider nicht immer rühmlich, nicht unerwähnt bleiben<br />

darf auch im heutigen Kontext die nationalsozialistische Ausrichtung der damaligen <strong>BOKU</strong> schon in der Zwischenkriegszeit, einer ihrer ehemaligen<br />

Professoren, der dem entgegenstand, Hans Karl Zeßner-Spitzenberg, wurde 1938 im KZ Dachau ermordet, auch 66 jüdische und mindestens neun<br />

weitere Absolvent*innen und Studierende fielen dem NS-Terror zum Opfer. Trotz eines fast völligen Wechsels der Professorenschaft nach 1945 wurde<br />

mit der Vergangenheitsaufarbeitung erst in den 1980er-<strong>Jahre</strong>n und auf Druck der Studierenden begonnen, seit den 1990ern wurde sie intensiv von der<br />

<strong>BOKU</strong> betrieben, eines ihrer Ergebnisse war die Aberkennung des anlässlich der 100-Jahr-Feier 1972 verliehenen Ehrenrings an einen ehemaligen<br />

Veterinär- und Humanmediziner dieser Universität, der in der Kriegszeit Menschenversuche an schwarzafrikanischen KZ-Gefangenen durchgeführt<br />

hatte.<br />

Zurück in die Gegenwart: Was alle diese krisenhaften Entwicklungen, zumindest in der retrospektiven Aufarbeitung, so sie denn noch möglich ist und<br />

sein wird, eint, ist die immer deutlicher an die Oberfläche drängende Ahnung, dass man wissen hätte können und müssen, wo die points of no return<br />

waren, die einen Ereignishorizont konstituieren, ab dessen Überquerung keine Rückkehr mehr möglich ist. Diese points of no return entsprechen dem<br />

Bild des „Kipppunktes“, und, möchte ich hinzufügen, ich habe mich persönlich sehr gefreut, als die Rechtschreibreform endlich eine Aneinanderreihung<br />

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von drei gleichen Konsonanten ermöglichte, ich fühlte mich als Kind um herrliche Superlative betrogen, als man mich etwa zwang, Flussschifffahrt mit<br />

nur je zwei s oder f zu schreiben, verschenkte Schönheit, fand ich.<br />

Was bedeutet nun: das Kippen eines Systems? Das Kippen beschreibt den Übergang eines (labilen) Systems in einen anderen Zustand, von dem aus die<br />

Rückkehr in den Ursprungszustand nicht mehr möglich ist. Ein Beispiel: Stellen Sie sich einen gasgefüllten Ballon vor, stechen Sie ihn auf, der Ballon<br />

wird platzen. Die Gasmoleküle im Ballon werden ausströmen und sich mit den Umgebungsluftmolekülen vermischen. Es ist nicht mehr möglich, sie in<br />

den Raum, der einst von der Ballonhülle umschlossen war, zurückzudrängen. Dies ist ein einfaches Beispiel aus der Thermodynamik: Die Entropie - das<br />

Maß für die Wahrscheinlichkeit eines Zustands - ist sprunghaft angestiegen. Thermodynamische Systeme entwickeln sich, sich selbst überlassen, stets<br />

in Richtung des Zustands mit der höchsten Entropie, man könnte auch sagen: Die Entropie nimmt zu, immerzu. Um den erwähnten Grundzustand -<br />

ein bestimmtes Gas, z.B. Helium, befindet sich nur in dem kleinen Teil des Raums, den der Ballon markiert - wieder herzustellen, müsste das Gas aus<br />

dem Luftraum wieder extrahiert werden, zum Beispiel, indem man den Raum extrem abkühlt, bis die Gase kondensieren. Dann müsste man die Hülle<br />

flicken, das Gas wieder auf Raumtemperatur bringen und in den Ballon füllen. Das bedarf enorm viel an Energie und menschlicher Arbeit - also wiederum<br />

Energie, wird aber den vorherigen Zustand, den unversehrten, gefüllten Ballon, nur mehr annähernd erreichen. Der Kipppunkt hierbei ist also das<br />

Platzen des Ballons.<br />

Kippelemente haben Kipppunkte, also Kennwerte, die nicht überschritten werden dürfen, ab denen die Rückkehr nicht mehr möglich ist: Der Vorgang<br />

ist irreversibel. Wie exakt die jeweiligen Grenzwerte für die verschiedenen Systeme definierbar sind, mag zwar noch strittig sein, unstrittig ist, dass es<br />

Kipppunkte gibt. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass das Kippen von Kippelementen weiteres Kippen triggert, etwa wie bei einem<br />

Kartenhaus, einer Reihe von Dominosteinen oder, noch reizvoller, bei einer Rube-Goldberg-Maschine, einem Nonsense-Spielzeug für Erwachsene,<br />

dessen einziger Sinn im Erzeugen einer präzisen Choreografie aus Kettenreaktionen besteht. Ballons bieten sich für die Konstruktion interessanter<br />

Effekte dabei übrigens durchaus an.<br />

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Im Fall der Erde sind Kippelemente, bei denen Kippeffekte auftreten könnten und teilweise auch bereits aufgetreten sind, vielfältig und der Kippvorgang<br />

weniger erfreulich. Im Folgenden werden nur einige wenige aufgezählt 3 : tropische Korallenriffe, die unwiederbringlich absterben (aufgrund des<br />

veränderten Säuregehaltes des Meeres und der Temperaturerhöhung), Polarkappen, die aus eben letzterem Grund abschmelzen und den<br />

Meereswasserstand erhöhen, die thermohaline Zirkulation - also die Strömung, die den Dichte-, Salzgehalts- und Temperaturunterschied in<br />

verschiedenen Meeresgebieten ausgleicht - des Nordatlantiks. Eine Störung des letzteren Systems hin zu einer Veränderung des Golfstroms hätte<br />

unabsehbare Folgen für große Teile der europäischen Landmasse. Jetstreams, die Luftmassen des Nordens und Südens von den dazwischen liegenden<br />

trennen, und die eigentlich Hoch- und Tiefdruckgebiete rund um den Erdball schieben. Allerdings graben sie sich aufgrund des sich verringernden<br />

Temperaturunterschieds zwischen der Polarregion und den mittleren Breiten immer weiter ein (ähnlich den Schlingen eines mäandernden Flusslaufs)<br />

und bauen damit längerfristig stehende Wellen in der Atmosphäre auf, die für das lange Anhalten von Hoch- und Tiefdruckgebieten auf der<br />

Nordhalbkugel verantwortlich sind, was wiederum zu gehäuften Starkregen- oder staubtrockenen Hitzeperioden mit dem damit einhergehenden<br />

Absinken des Grundwasserpegels führt. Ohnehin wirkt schon die erhöhte Wasserkonzentration in der Atmosphäre, die mit der Temperaturerhöhung<br />

korreliert, als treibendes Element für Extremwetterereignisse, wie heftige Winde und Starkregen. Die Reduktion der Biodiversität schwächt<br />

empfindliche Ökosysteme noch weiter: Die Fähigkeit, Störungen auszugleichen, die Resilienz also, sinkt mit abnehmender Artenvielfalt. Viele dieser<br />

Ereignisse, wie Überschwemmungen, Trocken- und Hitzeperioden, bedeuten, dass weite Landstriche unbewohnbar werden können und Menschen<br />

fliehen müssen.<br />

Das Abschmelzen der Polarkappen hat aufgrund der frei werdenden dunkleren Land- bzw. Wasseroberflächen einen selbstverstärkenden Effekt, Eis<br />

reflektiert das Sonnenlicht, Meerwasser und Erdboden absorbieren Strahlung in wesentlich höherem Maße. Dieser Schmelzprozess ebenso wie die<br />

thermische Ausdehnung des Wassers - je wärmer, desto größer das Volumen - hat nicht nur den Anstieg des Meeresspiegels zur Folge, sondern auch<br />

Auswirkungen auf die Schiffbarkeit des Polarmeeres, und hier gerät wieder der Mensch ins Spiel: Der Wettlauf um die Ausbeutung arktischer submariner<br />

Vorkommen fossiler Brennstoffe hat längst begonnen. Und ja: Die Abhängigkeit davon ist unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine ein noch<br />

3 Nach: Tipping elements in the Earth’s climate system, Timothy M. Lenton*†, Hermann Held‡, Elmar Kriegler‡§, Jim W. Hall, Wolfgang Lucht‡, Stefan<br />

Rahmstorf‡,<br />

and Hans Joachim Schellnhuber†‡**, PNAS 2007. https://www.pnas.org/doi/pdf/10.1073/pnas.0705414105<br />

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schärferes Problem, als sie es ohnehin schon wäre, man fragt sich, was für eines Anlasses es eigentlich noch bedarf, um von dieser globalen Sucht zu<br />

lassen, wenn schon das Wissen um die exorbitant hohe und durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe munter weiter ansteigende Menge des<br />

Klimatreibers CO2 nicht ausreicht. (Auch an aktiven Abbaumöglichkeiten dafür forscht übrigens die <strong>BOKU</strong>: Hefen und andere Mikroorganismen binden<br />

Kohlenstoff und können sogar Rohmaterial für Kunststoffe erzeugen.) Unangefochten von jeder Einsicht und den deklarierten Klimazielen der<br />

Regierungen werden von den Global Players der Branche munter weiter sogenannte „carbon-bombs“ geplant, Öl- und Gasextraktionsvorhaben, von<br />

denen jedes über eine Milliarde Tonnen CO2 erzeugen würde 4 . Die Troposphäre erhitzt sich, die Stratosphäre kühlt ab und die dazwischen liegende<br />

Tropopause wandert nach außen, man weiß nicht, welche Auswirkungen das auf das dynamische Geschehen in der Atmosphäre haben wird, aber so<br />

viel ist sicher: Es bleibt spannend.<br />

Der Selbstverstärkungseffekt gilt auch für das Grönlandeis, dessen kontinuierliche Schmelze ab einem gewissen Kipppunkt irreversibel wird, da das sich<br />

erwärmende Eis zu Tal rutscht und umso schneller zu Wasser wird: Auch hier wäre eine gravierende Auswirkung auf die Höhe des Meeresspiegels zu<br />

erwarten. Das wirklich Fatale scheint dabei zu sein, dass die Triggerung gewisser Kipppunkte zu einem weiteren Temperaturanstieg führt, der das<br />

Weltklima wiederum neue Kipppunkte überschreiten lässt. Das Auftauen des Permafrosts etwa oder die Vernichtung des Amazonas-Regenwaldes<br />

würden große Mengen von CO2 freisetzen, die wieder eine weitere Erhitzung der Atmosphäre zur Folge hätten. Ein Teufelskreis: Das Kippen von<br />

Kippelementen triggert weiteres Kippen.<br />

Aus diesem Grund, weil die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5° Celsius - pessimistischere Interpretationen nennen nur mehr ein 2°-Ziel 5 , da das<br />

ursprünglich angestrebte 1,5°-Ziel ohnehin nicht mehr zu halten sei - nach der überwiegenden Ansicht der Klimawissenschafts-Community gerade noch<br />

davor schützen würde, dass bekannte Formationen, auf denen die Verhältnisse bereits gewaltig ins Rutschen gekommen sind, ihren Kipppunkt<br />

überschreiten, ist ein Aufhalten der globalen Erwärmung so wesentlich für das Überleben von Leben, wie wir es kennen.<br />

4Der Guardian nennt 195 solcher geplanter Projekte mit einem Gesamt-CO2-Ausstoß von ca. 600 Milliarden Tonnen,<br />

https://www.theguardian.com/news/audio/2022/may/18/the-carbon-bombs-set-to-blow-up-the-worlds-climate-pledges<br />

5 Realization of Paris Agreement Pledges may limit warming just below 2°C. Malte Meinshausen<br />

et al., Nature 604, 14. April 2022, S. 304 ff.<br />

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Die Universität für Bodenkultur Wien leistet mit all ihren Forschungsgebieten, die sich um Klimaschutz, Biowissenschaften, Biodiversität, nachhaltiges<br />

Land-, Forst- und Energiewirtschaften und soziale Aspekte dabei verdient machen, einen wichtigen Beitrag dazu. Gerade auch die auf der <strong>BOKU</strong> so<br />

wichtige Inter- und Transdisziplinarität ermöglicht eine Zusammenschau, die einen holistischen Systemwandel in die Wege zu leiten vermag, und nichts<br />

weniger wird es wohl brauchen, um die globale Klimanotbremse zu ziehen. Ganz speziell muss dabei auch die soziale Verträglichkeit und globale<br />

Gerechtigkeit der Verteilung der, sagen wir, „Klimareparaturkosten“ mitgedacht werden. Interdisziplinäre Schwerpunkte wie die auf der <strong>BOKU</strong> sind<br />

dafür unerlässlich.<br />

Und dies ist nun der positive Aspekt der Vernetzung von für sich genommen sehr vielen sehr dystopisch anmutenden Befunden, Wissenschaftler*innen<br />

der <strong>BOKU</strong> versuchen, nicht nur Wandel in die Wege zu leiten, sondern auch Wege zu einem positiven Wandel hin zu skizzieren. Ich kann Ihnen allen<br />

nur wünschen, dass Sie in Öffentlichkeit und Politik auch Gehör finden, dass die Wahrnehmung der krisenhaften Außenrealitäten in Sachen Energie,<br />

Biodiversität und Klima endlich einsinkt und einen Kipppunkt im öffentlichen Bewusstsein hin zu einem positiveren Handeln überschreitet, anders<br />

gesagt: Ich möchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir Menschen doch lernfähiger sind, als es den Anschein haben mag, diese Hoffnung, scheint<br />

mir, ist alles, was wir haben.<br />

Ich gratuliere der Universität für Bodenkultur Wien, ihren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Lehrenden und Lernenden ganz herzlich zu<br />

ihrem Jubiläum und wünsche in diesem Sinn viel erkenntnisreiche Forschung und die möglichst rasche und flächendeckende Umsetzung des dabei<br />

gewonnenen Wissens in die Praxis. Und natürlich die Freude an der Entdeckung und am Spielerischen nebenbei, die für das Auffinden neuer<br />

Lösungswege so wichtig sind, ob in der Wissenschaft oder beim Aufbauen von Nonsense-Maschinen mit oder ohne Ballons.<br />

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