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wina Maerz 2022

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März <strong>2022</strong><br />

Adar I 5782<br />

#3. Jg. 11; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

„Frieden ist nicht alles,<br />

aber ohne Frieden ist alles<br />

nichts.“ Willy Brandt<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W / JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

03<br />

9 120001 135738<br />

Together we stand!<br />

Wie ein Künstler in Dnipro<br />

den Krieg erlebt<br />

Krieg gegen die Ukraine<br />

Die lange Geschichte und die<br />

stürmische Gegenwart einer<br />

jungen Demokratie<br />

Weit weg und doch so nah<br />

Israelis blicken auf<br />

die Kriegsbilder in Europa<br />

cover_0322.indd 1 07.03.22 12:29


Sehen Sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Blickrichtungen.<br />

DiePresse.com/Sonntagsabo<br />

Menschen. Geschichten. Perspektiven.<br />

cover_0322.indd 2 07.03.22 12:29


Editorial<br />

Julia Kaldori<br />

Es gibt Situationen, in denen die eigenen Worte nur hohl<br />

klingen, die eigenen Gedanken umherfliegen und nach<br />

Ordnung suchen und andere bereits viel klügere Worte<br />

dafür gefunden haben, was man selbst fühlt und hofft.<br />

„Nichts ist unentschuldbarer als der Krieg und der<br />

Aufruf zum Völkerhass. Aber ist der Krieg einmal aus-<br />

gebrochen, ist es zwecklos und feige, sich unter dem<br />

Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, ab-<br />

seits zu stellen ... Jeder Mensch besitzt einen mehr<br />

oder weniger großen Einflussbereich ... Individuen<br />

sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum<br />

sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt<br />

den Frieden zu schenken? ... In dem Zeitraum, der<br />

von Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt:<br />

man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt<br />

gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man<br />

es inständig, stark und lange will.“<br />

Albert Camus (1913–1960), Tagebuch von 1939<br />

© 123rf<br />

wına-magazin.at<br />

1<br />

marz_22.indb 1 07.03.22 11:48


S.40<br />

Noa Beinart. Die junge Israelin fühlt sich<br />

mit ihrer stimmlichen Bandbreite im deutschen<br />

Fach gut aufgehoben – und auch im<br />

Ensemble der Wiener Staatsoper.<br />

INHALT<br />

„Es ist keine Frage,<br />

was für ein<br />

schrecklicher<br />

Mensch er<br />

war.“<br />

Noa Beinart<br />

über Richard Wagner<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

Herstellungsort: Bad Vöslau<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Russischer Angriffskrieg<br />

Die Ukraine wurde brutal überfallen.<br />

Auf <strong>wina</strong>-magazin.at berichten wir<br />

dazu tagesaktuell aus jüdischer Sicht<br />

– Hintergründe dazu im Magazin.<br />

12 „Ein Marathon“<br />

Vor einem Jahr wurde die Nationale<br />

Strategie gegen Antisemitismus mit 38<br />

konkreten Maßnahmen präsentiert.<br />

Neun davon sind bereits umgesetzt.<br />

14 Auf zu Olympia<br />

Der Wiener Sportverein Hakoah,<br />

schon in der Zwischenkriegszeit eine<br />

echte Größe, verzeichnet in jüngerer<br />

Vergangenheit wieder einen Aufschwung<br />

– in Judo.<br />

16 „Respekt vor anderen“<br />

Ariel Muzicant ist 70. Zeit für ein Blick<br />

auf Geleistetes und Zukünftiges wie<br />

ein ambitioniertes zeithistorisches<br />

Projekt …<br />

19 Gegen die Gleichgültigkeit<br />

Dem polnischen Politiker, katholischen<br />

Widerstandskämpfer<br />

und hundertfachen Judenretter<br />

Władysław Bartoszewski in Gedenken<br />

zum 100. Geburtstag.<br />

22 „Wie ein Bruder“<br />

Seit Anfang Februar ist Benjamin<br />

Vyssoki neuer ärztlicher Leiter des<br />

psychosozialen Zentrums ESRA in<br />

Wien, das sein Vater David Vyssoki<br />

1994 mitbegründete.<br />

24 Koscher im Schloss<br />

Das Jagdschloss Schönau im<br />

Süden von Wien hat eine bewegte<br />

Geschichte. Heute wird es für Hochzeitsfeiern<br />

genutzt – und das auch mit<br />

koscherem Catering.<br />

28 Steaks ohne Kühe<br />

Israelische Unternehmen zählen zu<br />

den globalen Innovatoren, was die<br />

Entwicklung von künstlichem Fleisch<br />

betrifft. Darunter sind zahlreiche kreative<br />

Start-ups.<br />

„Die<br />

Menschen in<br />

der Ukraine<br />

dürfen nicht<br />

im Stich gelassen<br />

werden,<br />

unter Beschuss, in<br />

den zu Bombenkellern<br />

umfunktionierten<br />

Metrostationen,auf der<br />

Flucht.“<br />

Julya Rabinovich<br />

S.06<br />

S.30<br />

Viva la Diva<br />

Sie bringen – nicht nur an den letzten trüben Wintertagen – Glamour<br />

ins Haus: jüdische Diven. Hier finden Sie die passenden Accessoires!<br />

2 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 2 07.03.22 11:48


Coverfoto: Evakuierung auf dem Bahnhof in Odessa. BULENT KILIC / AFP / picturedesk.com<br />

KULTUR<br />

32 Das Museum des SS-Offiziers<br />

Eduard Paul Tratz gründete 1924 das<br />

Haus der Natur in Salzburg. Er gestaltete<br />

es in der NS-Zeit im Sinn der Rassenlehre<br />

um und übernahm 1949<br />

erneut die Leitung.<br />

34 Joseph Roth mit der Lupe<br />

Victoria Lunzer-Talos und Heinz Lunzer<br />

widmen sich seit fast 40 Jahren dem<br />

Leben und Werk des 1939 verstorbenen<br />

großen jüdischen Autors Joseph<br />

Roth.<br />

37 Briefe an die Liebsten<br />

Die Schoah-Überlebende Helena<br />

Ganor kleidete ihre Erinnerungen an<br />

die NS-Zeit in vier Briefe: an die ermordete<br />

Mutter und Schwester sowie an<br />

den überlebenden Vater und die spätere<br />

Stiefmutter.<br />

38 „Auf das Leben!“<br />

Die französische Rabbinerin Delphine<br />

Horvilleur schreibt über das Sterben,<br />

den Tod, die Lebenden und das<br />

Judentum.<br />

40 Eine auffallende Stimme<br />

Im deutschen Fach fühlt sich die junge<br />

Israelin Noa Beinart mit ihrer stimmlichen<br />

Bandbreite gut aufgehoben.<br />

Ebenso als neues Mitglied des Wiener<br />

Staatsopernensembles.<br />

43 Orte der Bewegung<br />

Die Theaterregisseurin Anna Maria<br />

Krassnigg ist bekannt für ihre herausfordernden<br />

Zugänge an neue Theaterorte<br />

– derzeit macht sie in Wiener Neustadt<br />

Station.<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

05 WINA_Kommentar<br />

Schafft es Viktor Orbán am 3. April,<br />

wiedergewählt zu werden?<br />

Von Marta S. Halpert<br />

10 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Israelis blicken entsetzt auf die<br />

Kriegsbilder aus der Ukraine.<br />

Von Gisela Dachs<br />

26 Matok & Maror<br />

„das Mezzanin“ – gehobenes<br />

Brasserie-Gefühl in der ehemaligen<br />

CreditAnstalt<br />

27 WINA_kocht<br />

Gibt es eigentlich eine koschere<br />

Alternative für Austern? Wir liefern<br />

die Antwort<br />

30 WINA_Lebensart<br />

Jüdische Diven und die Accessoires,<br />

um sich so zu fühlen wie eine<br />

44 WINA_Werkstädte<br />

Die Spanische Synagoge findet sich<br />

nicht da, wo man sie wohl vermuten<br />

würde, sondern in Prag.<br />

45 Urban Legends<br />

Alexia Weiss über falsche, anmaßende<br />

und schmerzliche Corona-<br />

Holocaust-Vergleiche<br />

46 KulturKalender<br />

WINA-Tipps für den März<br />

48 Das letzte Mal<br />

Warum Komponist, Sänger und Orchesterleiter<br />

Roman Grinberg auf<br />

Kaffeehausmusik verzichten kann.<br />

„Weiters haben wir uns<br />

bemüht, die EU aus<br />

ihrer Israelfeindlichen<br />

Position herauszuholen.“<br />

Ariel Muzicant<br />

S.16<br />

Ariel Muzicant ist 70. Zeit<br />

für ein Blick auf Geleistetes<br />

und Zukünftiges, darunter<br />

ein ambitioniertes Projekt<br />

zur Nachkriegsgeschichte<br />

der IKG.<br />

WINA ONLINE:<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

facebook.com/<strong>wina</strong>magazin<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

marz_22.indb 3 07.03.22 11:48


WINA ON UKRAINE<br />

Together we stand!<br />

Diese Worte erhielten wir am sechsten Tag der kriegerischen Aggression der russischen<br />

Armee gegen die Ukraine. Jetzt schon sind über eine Million Menschen auf<br />

der Flucht, Tausende getötet und Zehntausende verletzt. Aus der Stadt Dnipro<br />

erreichten uns am siebten Tag des russischen Angriffs folgende Zeilen des<br />

Künstlers Mikita Shalenii, der die Stadt nicht verlassen hat.<br />

ls der Krieg begann, sprangen einige reiche<br />

Mitglieder unserer Gemeinde in ihre privaten<br />

Jets und flohen. Die anderen aber blieben, um<br />

zu kämpfen. Der Rabbiner blieb genauso in der<br />

Stadt wie viele wichtige Geschäftsleute. Sie alle<br />

tun, was sie können: Unternehmen, die mit Eisen arbei-<br />

teten, stellen jetzt Panzerabwehrsysteme her, Restaurant-<br />

und Cafébesitzer kochen für die Armee und die Flücht-<br />

linge. In den letzten Tagen hatten wir einen Zustrom von<br />

Flüchtlingen aus Charkiw. Gestern hat die chassidische<br />

Gemeinde einen Evakuierungszug für alte Menschen,<br />

Frauen und Kinder in den Westen des Landes organisiert.<br />

Viele Juden haben sich auch der Verteidigung ange-<br />

schlossen und werden für unsere Stadt kämpfen, so auch<br />

Asher Cherkaskyi und sein Sohn David. Das Foto der bei-<br />

den in unserer Synagoge, das wir ins Netz gestellt haben,<br />

ging viral, und der französische Comic-Zeichner Joann<br />

Sfar hat sie bereits zu Figuren eines Comic-Romans ge-<br />

macht.<br />

Als der Krieg begann, beschlossen auch meine Freundin<br />

und ich, bei unserer Gemeinde zu bleiben. Wir arbei-<br />

ten als Freiwillige – ich mache alles: Lastwagen fahren,<br />

Sandsäcke abladen, alles, was man sich vorstellen kann.<br />

Meine Freundin, die ein Organisationstalent ist, hat 24 Re-<br />

staurants zusammengebracht, die gemeinsam zu kochen<br />

und die Soldaten und Flüchtlinge mit Essen versorgen.<br />

Ich bin neben der Sorge für alle Menschen in unse-<br />

rem Land auch sehr besorgt über das Schicksal unseres<br />

Kunstmuseums. Ich habe als Künstler aber auch Sorge,<br />

was meine eigenen Werke betrifft. Mir ist klar, dass die<br />

großen Installationen, die ich in den letzten Jahren rea-<br />

lisieren durfte und die in der ganzen Stadt gelagert sind,<br />

nicht mehr abtransportiert werden können. Alle Lastwagen<br />

und Züge werden dringend für die Flüchtlinge gebraucht.<br />

Ich stelle aber alles, was ich kann, in die Internet-<br />

Cloud – das ist gut für Video-Arbeiten, doch Installationen<br />

kann man hier nicht lagern.<br />

Was mir im Moment vorschwebt, ist eine künstlerische<br />

Arbeit, die eine Metapher für die russische Besatzung<br />

werden soll – über Feinde, die unsere Körper begra-<br />

ben wollen.<br />

Der mehrfach ausgezeichnete ukrainische Multimedia-Künstler<br />

Mikita Shalenii wurde 1982 in Dnipro geboren. Seine Arbeiten<br />

Nr. 5 der Serie Where is Your Brother?<br />

von Mikita Shalenii, 2013.<br />

Asher Cherkaskyi und sein Sohn David in der<br />

Synoge von Dnipro.<br />

der letzten Jahre sind bereits von anhaltenden Konflikten und<br />

Auseinandersetzungen geprägt, darunter Where is your brother?,<br />

Album about War und Long Way to Freedom.<br />

Mit Mikita Shalenii gesprochen hat der in Kiew geborene Kunsthis-<br />

toriker, Journalist und Kurator Konstantin Akinsha, , der bereits<br />

seit Mitte Februar versucht, die internationale Aufmerksamkeit<br />

auch auf die Bedrohung tausender Kultureinrichtungen und<br />

unzähliger Museen samt international bedeutender Sammlun-<br />

gen vor Ort zu lenken. Darunter auch zahlreiche Synagogen,<br />

jüdische Museen und Archive.<br />

©artsvit.dp.ua; privat<br />

4 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 4 07.03.22 11:48


WINA KOMMENTAR<br />

Wird es die Macht des Geldes<br />

wieder richten?<br />

Die Wiederwahl von Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen<br />

in Ungarn am 3. April ist nicht auszuschließen.<br />

er politisch schlaue Fuchs muss es geahnt haben:<br />

Viktor Orbáns jüngste Androhung eines möglichen<br />

EU-Austritt Ungarns (HUXIT) und die verschärften<br />

verbalen Attacken gegen Brüssel lassen<br />

eindeutig darauf schließen. Denn nur drei<br />

Tage, bevor der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Klagen<br />

Ungarns und Polens wegen<br />

Von Marta S. Halpert der Ahndung von Verstößen gegen<br />

die Rechtsstaatlichkeit in der<br />

EU abwies und sich damit die Möglichkeit eröffnet, die üppig<br />

nach Budapest fließenden EU-Gelder zu kürzen, ließ der<br />

ungarische Ministerpräsident bei seinem Wahlkampfauftakt<br />

Folgendes wissen: „Die Europäische Union führt unter<br />

dem Schlagwort des Rechtsstaats einen heiligen Krieg, einen<br />

Dschihad, gegen unsere Nation. So wollen sie uns zu etwas<br />

kneten, was ihnen ähnelt.“ Er forderte unter anderem<br />

von der EU „Toleranz“ gegenüber Ungarn, ansonsten werde<br />

es nicht möglich sein, weiterhin einen gemeinsamen Weg<br />

zu gehen. Wenn man bedenkt, dass fast 80 Prozent der Menschen<br />

in Ungarn die EU-Mitgliedschaft begrüßen, ist das eine<br />

mutige bis waghalsige Ansage. Oder doch nur die kalkulierte<br />

Taktik zur Vorbereitung auf einen „Jetzt erst recht!“-Wahlkampf?<br />

Am 3. April wird in Ungarn ein neues Parlament<br />

gewählt, die bedingungslose Fangemeinde des Ministerpräsidenten<br />

schwächelt, seine rechtsnationale Fidesz-Partei<br />

steht nicht sehr glamourös da. Trotzdem schließt auch<br />

ein erfahrener Ungarn-Experte wie Paul Lendvai nicht aus,<br />

dass dem „Untermieter in Putins Tasche“ noch Etliches einfallen<br />

könnte, um weiter an der Macht zu bleiben.<br />

Dennoch verhilft die Richterschaft in Luxemburg jetzt<br />

der EU-Kommission zu mehr Biss, denn obwohl das Gesetz<br />

über den Rechtsmechanismus seit 1. Jänner 2021 in Kraft ist,<br />

traf man die politische Entscheidung, vor dem praktischen<br />

Durchgriff das Urteil über die Klagen von Ungarn und Polen<br />

beim EuGH abzuwarten. Seit 16. Februar steht nun fest: Wer<br />

sich nicht an gemeinsame Werte halte, müsse Abstriche bei<br />

der EU-Förderung machen. Falls EU-Gelder, also die Steuergelder<br />

aller Mitgliedsländer, zum Abbau von Demokratie<br />

und Justiz sowie zur Einschränkung der Pressefreiheit,<br />

der Opposition und des Schutzes von Minderheiten missbräuchlich<br />

verwendet wurden und zu wenig gegen Korruption<br />

getan wurde, droht jetzt die Kürzung des EU-Budgets.<br />

Aus welcher Quelle wird der großzügige Landesvater Orbán<br />

zukünftig seine innenpolitischen Geschenke verteilen?<br />

Orbán von rechts besiegen? Sechs bisher völlig zerstrittene<br />

Oppositionsparteien – von links-grün bis rechtskonservativ –<br />

wollen dem Beispiel der USA, Israels und Tschechiens folgen,<br />

indem sie mit einem Zweckbündnis die derzeit Regierenden<br />

abwählen. Die Chancen dafür sind laut ihrem gemeinsamen<br />

Kandidaten intakt. Der promovierte Wirtschafts- und<br />

Geschichtswissenschafter und ehemalige Orbán-Unterstützer<br />

Péter Márki-Zay ist seit 2018 parteiloser Bürgermeister<br />

von Hódmezővásárhely, einer früheren Hochburg der Regierungspartei<br />

Fidesz.<br />

Der 49-jährige Katholik und siebenfache Vater weiß, dass<br />

er nur mit den Stimmen der enttäuschten Orbán-Wähler<br />

zu einer realistischen Mehrheit kommen kann. „Das ist genau<br />

die wichtigste strategische Neuerung: Ich konnte in<br />

Hódmezővásárhely gewinnen, weil die Mehrheit meiner Anhänger<br />

– dort sind es Linke – verstanden hat, dass wir Fidesz<br />

Er forderte von der EU „Toleranz“<br />

gegenüber Ungarn, ansonsten werde<br />

es nicht möglich sein, weiterhin<br />

einen gemeinsamen Weg zu gehen.<br />

nur besiegen können, wenn wir mit Unterstützung der gesamten<br />

rechten und linken Opposition jemanden vorschlagen,<br />

der auch für Rechte und ehemalige Orbán-Wähler eine<br />

akzeptable und glaubwürdige Alternative bietet.“<br />

Die bietet der oft als „ungarischer Trump“ apostrophierte<br />

Márki-Zay, der von 2004 bis 2009 in Kanada und den USA<br />

lebte, reichlich, denn er setzt sich keine moralische Grenzen,<br />

um sein Ziel zu erreichen. So erhalten auch die Rechtskonservativen<br />

bis Rechtsextremen ihre Portion Aufmerksamkeit<br />

– sogar auf Kosten jüdischer Menschen. Auf einen verbalen<br />

Angriff vonseiten Fidesz parierte Márki-Zay mit dem Verweis<br />

auf die „hohe Anzahl von Schwulen und Juden“ in der Partei.<br />

Als er öffentlich des Antisemitismus geziehen wurde, folgte<br />

diese beschämende Verteidigung: „Einen Juden dort kenne<br />

ich persönlich, also stimmt es.“<br />

Márki-Zay gelang es sogar, Viktor Orbán Migranten-<br />

Freundlichkeit umzuhängen: „Hasskampagnen gegen Migranten<br />

lehnen wir eindeutig ab. Aber unter Orbán ist deren<br />

Zahl rasant gestiegen. Allein 2019 haben 55.000 Migranten<br />

eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten“, so der Oppositionskandidat.<br />

Besonders empörend sei, dass 20.000 im Rahmen<br />

eines Ansiedlungsprogramms aufgenommen wurden,<br />

darunter auch international gesuchte islamistische Terroristen<br />

und Kriminelle.<br />

Ist das der Hoffnungsträger eines proeuropäischen Ungarns?<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

marz_22.indb 5 07.03.22 11:48


Russischer Angriffskrieg<br />

gegen die Ukraine<br />

Als Monatsmagazin hat WINA nicht die Aufgabe, tagesaktuelle Berichte<br />

und Kommentare zu bringen. Das bieten wir aber jederzeit auf<br />

unserer Website: <strong>wina</strong>-magazin.at. Daher haben wir uns auf Hintergrund-Information<br />

konzentriert. Ungeachtet der Ereignisse, die bis<br />

zum Erscheinen unseres Heftes passieren können, dürfen wir voller<br />

Hochachtung auf die menschlich furchtlose und beeindruckende<br />

Leistung Präsident Wolodymyr Selenskyjs hinweisen.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

6 wına | März <strong>2022</strong><br />

Geschichte Russland – Ukraine<br />

„Die Menschen<br />

in der Ukraine<br />

dürfen nicht im<br />

Stich gelassen<br />

werden, unter Beschuss,<br />

in den zu<br />

Bombenkellern<br />

umfunktionierten<br />

Metrostationen,<br />

auf der<br />

Flucht. Europa<br />

ist für sie mitverantwortlich.“<br />

Julya Rabinowich,<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Ein Blick in die Geschichte zeigt uns,<br />

dass sich die gegenwärtige Ukraine<br />

aus Teilen zusammensetzt, die in<br />

der Zwischenkriegszeit (1918–1939)<br />

ehemaliges Staatsgebiet der Tschechoslowa-<br />

kei, Rumäniens und Polens waren, aber zum<br />

Hauptteil jene der Sowjetunion. Die heutige<br />

Ausdehnung erlangte die Ukraine erst nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg in Form der Ukrai-<br />

nischen SSR.<br />

Das gemeinsame Erbe der beiden Nationen<br />

ist über tausend Jahre alt und geht zu-<br />

rück auf eine Zeit, in der Kiew im Zentrum<br />

des ersten slawischen Staats, der Kiewer<br />

Rus, lag. Aus diesem Landesteil gingen so-<br />

wohl die Ukraine wie auch Russland hervor.<br />

Im Jahr 988 n. Chr. nahm Wladimir I., Fürst<br />

von Nowgorod und Großfürst von Kiew, den<br />

christlich-orthodoxen Glauben an: Die Taufe<br />

dieses vormals heidnischen Herrschers fand<br />

auf der Krim statt. Wladimir Putin beruft sich<br />

auf dieses historische Ereignis und bezeich-<br />

net es als den Moment,„in dem das russische<br />

und das ukrainische Volk eins wurden“.<br />

Dennoch wurde die Ukraine in den ver-<br />

gangenen zehn Jahrhunderten laufend von<br />

konkurrierende Mächten geteilt und zer-<br />

splittert. Mongolische Krieger fielen im<br />

13. Jahrhundert von Osten in der Kiewer Rus<br />

ein. Im 16. Jahrhundert griffen die polnische<br />

und litauische Armee von Westen an. Wäh-<br />

rend des Kriegs zwischen dem Ständestaat<br />

Polen-Litauen und dem Russischen Kai-<br />

serreich im 17. Jahrhundert fielen Gebiete<br />

östlich des Dnepr – die sogenannte „linksufrige<br />

Ukraine“ – unter russische Herrschaft.<br />

Die „rechtsufrige Ukraine“ hinge-<br />

gen wurde von Polen kontrolliert. Im Jahr<br />

1793 eroberte das Russische Kaiserreich<br />

auch das ukrainische Gebiet auf der rechten<br />

Uferseite. Daraufhin setzte die Rus-<br />

sifikation ein: Die ukrainischen Sprache<br />

wurde verboten, die Bevölkerung gezwun-<br />

gen, zum russisch-orthodoxen Glauben zu<br />

konvertieren.<br />

Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917<br />

fand sich die Ukraine, wie viele andere<br />

Länder, in einem brutalen Bürgerkrieg<br />

wieder, bis sie schließlich im Jahr 1922<br />

Teil der Sowjetunion wurde. In den frü-<br />

hen Dreißigerjahren führte Diktator Josef<br />

Stalin eine strategische Hungersnot herbei,<br />

die die Bauern der Ukraine in die Kol-<br />

lektivierung der Landwirtschaft zwingen<br />

sollte. Millionen von Ukrainern starben<br />

den Hungertod. Nach diesem Holodomor<br />

(„Tod durch Hunger“) verschickte Stalin<br />

Russen und andere sowjetische Bürger in<br />

die verwaisten Landstriche der Ukraine,<br />

um diese wieder zu bevölkern. Diese hat-<br />

ten weder ukrainische Sprachkenntnisse<br />

noch anderweitige Verbindungen zu dem<br />

Land.<br />

All dies führte zu einem andauernden<br />

Bruch zwischen den beiden Seiten der Ukraine.<br />

Da der Osten des Landes schon frü-<br />

her durch Russland annektiert wurde, ist<br />

© Vadim Ghirda / AP / picturedesk.com<br />

marz_22.indb 6 07.03.22 11:48


© Vadim Ghirda / AP / picturedesk.com<br />

die Bindung dieses Teils der Ukraine zu Russ-<br />

land weitaus enger und seine Bevölkerung<br />

zeigt eine größere Bereitschaft, die russische<br />

Regierung zu unterstützen. Die Westukraine<br />

hingegen befand sich über Jahrhunderte<br />

unter der Kontrolle von ständig wechselnden<br />

europäischen Mächten, darunter Polen<br />

und Österreich-Ungarn. Sie neigt des-<br />

wegen dazu, westliche Ideen und Politiker<br />

zu unterstützen. Während die Bevölkerung<br />

in der Ostukraine vorrangig russischspra-<br />

chig und orthodox ist, sind die Menschen in<br />

der Westukraine größtenteils katholisch und<br />

sprechen die ukrainische Landessprache.<br />

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im<br />

Jahr 1991 wurde die Ukraine eine unabhän-<br />

gige Nation, doch die Wiedervereinigung der<br />

beiden Landesteile ist bis heute nicht gelun-<br />

gen. Steven Pifer, Professor an der Stanford<br />

University und ehemaliger US-Botschafter<br />

in Warschau, Moskau und der Ukraine, er-<br />

klärt den Grund für die Schwierigkeiten auf<br />

National Geographic.com damit, dass „das ukrainische<br />

Nationalgefühl im Osten bei Wei-<br />

tem nicht so ausgeprägt ist wie im Westen“.<br />

Der Übergang zur Demokratie sei schmerz-<br />

haft und chaotisch gewesen und viele in der<br />

östlichen Bevölkerung sehnten sich nach der<br />

relativen Stabilität vergangener Tage.<br />

Laut Experten ist auch in ökologischer<br />

Hinsicht eine Teilung des Landes zu er-<br />

kennen: Im Süden und Osten der Ukraine<br />

gibt es in der sogenannten Steppe fruchtbaren<br />

Mutterboden, während die nördlichen<br />

und westlichen Regionen eher bewal-<br />

det sind. Die Grenzen, in denen die beiden<br />

verschiedenen Landschaftsformen liegen,<br />

seien erstaunlich deckungsgleich mit den<br />

politischen Karten der Ergebnisse der uk-<br />

rainischen Präsidentschaftswahlen in den<br />

Jahren 2004 und 2010.<br />

Im Jahr 2014 annektierte Russland die Krim,<br />

eine Halbinsel in der Südukraine. Kurz da-<br />

rauf kam es zu Unruhen im ostukrainischen<br />

Donbass, die in der Gründung der beiden<br />

„Volksrepubliken” Luhansk und Donezk<br />

gipfelten. Die hier aktiven bewaffneten Se-<br />

paratisten und Volksmilizen wurden und<br />

werden im Kampf gegen die Ukraine von<br />

russischen Truppen unterstützt.<br />

„Putin fürchtet nicht die NATO, sondern<br />

die Sehnsucht der Ukrainer nach einem<br />

westlichen Lebensmodell“, brachte es der<br />

deutsche Politiker Jürgen Trittin (Die Grü-<br />

nen) auf den Punkt. Denn die meisten nach<br />

1991 geborenen Ukrainer wollen, dass ihr<br />

Land aus dem Schatten Russlands tritt und<br />

sich Europa und dem Westen anschließt.<br />

Juden in der Ukraine<br />

einst und jetzt<br />

„Schon jetzt<br />

will die Mehrheit<br />

der Menschen<br />

in Russland<br />

diesen<br />

Krieg NICHT,<br />

und wenn die<br />

Ukraine für<br />

Russland zu<br />

einem zweiten<br />

Afghanistan<br />

wird,<br />

werden die<br />

Menschen<br />

in Russland<br />

auch Putin<br />

und sein<br />

autoritäres<br />

Regime nicht<br />

mehr wollen.“<br />

Vladimir Vertlieb,<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

Die ersten Juden siedeln sich be-<br />

reits im 8. und 9. Jahrhundert<br />

n. C. auf der Krim an. Es handelt<br />

sich um Karaäer und Chasaren,<br />

die aus Zentralasien und dem Kaukasus ein-<br />

wandern. Sie gründen auf der Krim Städte,<br />

die eine zu dieser Zeit beispiellose Kulturblüte<br />

erleben. In Kiew selbst gab es wahr-<br />

scheinlich bereits im 10. Jahrhundert eine<br />

jüdische Gemeinde, die auch großteils cha-<br />

sarischer Herkunft war. Sie standen unter<br />

fürstlichem Schutz von Jaroslav dem Wei-<br />

sen. Es gab sogar ein jüdisches Stadtviertel<br />

mit dem „Tor der Juden“.<br />

Im Mittelalter erlebt der westliche Teil<br />

der heutigen Ukraine Einwanderungswellen<br />

jüdischer Emigranten, die vor Verfol-<br />

gung und Pogromen aus Westeuropa und<br />

Böhmen flüchten. Sie lassen sich zuerst in<br />

Galizien, der Buko<strong>wina</strong> und Podolien nie-<br />

der. Man lässt Juden hier siedeln, denn sie<br />

sind bekannt als gute Handwerker, sie ar-<br />

beiten als Wirte und Händler. So entstehen<br />

im 16. und 17. Jahrhundert große jüdische<br />

Siedlungen mit jüdischen Gelehrten. Der<br />

Begründer des Chassidismus, Israel Ben<br />

Eliezer, bekannt als Baal Schem Tov (1698–<br />

1760), übt großen Einfluss auf das jüdische<br />

Leben in der Ukraine und auf das osteuro-<br />

päische Judentum aus.<br />

Anfeindungen und Gerüchte führen zu<br />

einer starken Isolierung der jüdischen Gemeinden<br />

und entladen sich im 17. Jahr-<br />

hundert in mehreren Pogromen. Hierbei<br />

spielt der ukrainische Nationalheld Bog-<br />

dan Chmelnizki eine negative Rolle, der<br />

während seines Aufstandes gegen die pol-<br />

nischen Fürsten auch jüdische Dörfer und<br />

Siedlungen überfällt, ausraubt und zehn-<br />

tausende Juden ermordet. Aber nach der<br />

Aufteilung der Ukraine zwischen dem<br />

Habsburger Reich und Russland Ende des<br />

18. Jahrhunderts genossen die Juden im ös-<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

marz_22.indb 7 07.03.22 11:48


Krieg in der Ukraine<br />

„Die Menschen<br />

dort hätten<br />

schon vor 30<br />

Jahren die Hilfe<br />

des Westens<br />

gebraucht.<br />

Nun frage ich<br />

mich, ob es<br />

sie überhaupt<br />

gibt, die uneigennützige<br />

Hilfe in der<br />

Politik.“<br />

Roman Grinberg,<br />

<strong>wina</strong>-magazin.at<br />

terreichisch-ungarischen Gebiet, in Galizien,<br />

in der Buko<strong>wina</strong> und in Transkar-<br />

patien die gleichen Bürgerrechte wie alle<br />

anderen Bürger, und der Antisemitismus<br />

war marginal. Anders im Zarenreich, wo<br />

der Antisemitismus Teil der Politik war<br />

und es in den Jahren 1871, 1881, 1903 und<br />

1905 grausame Pogrome gab, die zahlreiche<br />

Juden dazu bewogen, in den öster-<br />

reichischen Teil der Ukraine, in die USA,<br />

nach Südamerika oder nach Palästina aus-<br />

zuwandern.<br />

Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt<br />

sich innerhalb der jüdischen Gemeinde<br />

im Kaiserreich von Österreich und Un-<br />

garn eine Reformbewegung. Angestoßen<br />

durch die Gleichstellung aller Religionen<br />

1772 haben Juden die Möglichkeit, bedeutende<br />

gesellschaftliche Positionen einzu-<br />

nehmen, und es setzt eine schrittweise<br />

Assimilierung der Juden in der k.u.k. Ge-<br />

sellschaft ein. Dadurch entstehen bis in<br />

das 20. Jahrhundert bedeutende kultu-<br />

relle Meisterwerke in der Literatur unter<br />

anderen von Paul Celan, Rose Ausländer,<br />

Alfred Gong, Selma Meerbaum-Eisinger,<br />

Moses Rosenkranz, Karl Emil Franzos und<br />

Joseph Roth. In den Städten werden beeindruckende<br />

Synagogen und Bürgerhäu-<br />

ser errichtet, jüdische Zeitungen erschei-<br />

nen, populäre jüdische Schauspieler und<br />

Musiker werden in Theatern und Opernhäusern<br />

gefeiert, in Lemberg wirken bedeutende<br />

jüdische Mediziner. Es entste-<br />

hen jüdische Parteien, die die Interessen<br />

des jüdischen Bürgertums vertreten. Zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts lebten im<br />

Gebiet der heutigen Ukraine, die damals<br />

unter Herrschaft von Österreich-Ungarn<br />

und Russland stand, etwa drei Millionen<br />

Juden, das heißt, fast ein Drittel der dama-<br />

ligen jüdischen Weltbevölkerung.<br />

Seinen Höhepunkt erreichte der Staats-<br />

antisemitismus Russlands 1913 mit dem<br />

skandalösen Gerichtsprozess gegen Mendel<br />

Bejlis in Kiew. Er wurde zu Unrecht beschuldigt,<br />

einen Ritualmord an einem uk-<br />

rainischen Jungen verübt zu haben. Dank<br />

der entschiedenen Fürsprache seitens der<br />

ukrainischen und russländischen Intelli-<br />

genzija sowie der einfachen ukrainischen<br />

Bevölkerung wurde Bejlis freigesprochen.<br />

Anders als vielen mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten wie Polen, der Tschecho-<br />

slowakei, Rumänien und den Baltischen<br />

Staaten brachte das Ende des Ersten Weltkriegs<br />

der Ukraine keine staatliche Unab-<br />

hängigkeit. Von 1917 bis 1921 kämpften im<br />

Vom Komödianten zum Superhelden<br />

Wolodymyr<br />

Selenskyj<br />

wurde 1978 in Kriwoi Rog<br />

geboren, im Südosten<br />

der damals noch sowjeti-<br />

schen Ukraine (Oblast Dnipropetrowsk).<br />

Sein Vater, Oleksandr Selenskyj, ist ehemaliger<br />

Kybernetik-Professor, seine Mutter,<br />

Rimma Selenska, Ingenieurin. Wolo-<br />

dymyrs Großvater war Rotarmist, dessen<br />

Geschwister wurden in der Schoah ermor-<br />

det. Die jüdische Familie lebte vier Jahre<br />

in der Mongolei, wohin der Vater versetzt<br />

worden war.<br />

Nach der Rückkehr nach Kriwoi Rog<br />

legte Wolodymyr einen Englisch-Test ab,<br />

der ihm mit 16 Jahren bereits ein Stipen-<br />

dium für Israel ermöglich hätte. Sein Vater<br />

verbot ihm zu fahren, so beendete er 1995<br />

das Gymnasium. Anschließend absolvierte<br />

er ein Jus-Diplomstudium an der Wirt-<br />

schaftsuniversität in Kiew, war jedoch nie<br />

als Jurist tätig. 1997 gründete Selenskyj die<br />

nach seinem Stadtviertel benannte Kaba-<br />

retttruppe und Produktionsfirma Kwartal<br />

95 („95. Wohnblock“), mit der er für Auf-<br />

sehen sorgte: Mit beißenden Humor und<br />

viel Satire nahm die Truppe, die fünf Jahre<br />

von Moskau aus durch Staaten der ehemaligen<br />

Sowjetunion tourte, zahlreiche Poli-<br />

tiker aufs Korn, unter anderen auch Kiews<br />

Bürgermeister Vitali Klitschko.<br />

Selenskyjs Rolle des Geschichtslehrers<br />

Wassyl Holoborodko in der TV-Serie Die-<br />

ner des Volkes wurde zum Grundstein für<br />

seinen politischen Durchbruch. Die Fi-<br />

gur Holoborodko ist von der Korruption<br />

ukrainischer Politiker angewidert, macht<br />

über Social Media Wahlkampf, sammelt<br />

Geld über eine Crowd-Funding-Kampagne<br />

und wird unversehens zum Präsidenten<br />

gewählt. Als ehrlich bleibender Prä-<br />

sident räumt Holoborodko dann in der<br />

notorisch korrupten ukrainischen Politik<br />

auf. Hier übte er wohl schon für seine Prä-<br />

sidentschaft, denn seine Figur wurde ganz<br />

zufällig Präsident.<br />

© Sipa Press / Action Press/Sipa / picturedesk.com<br />

Standing Ovations für Selenskyj<br />

nach dessen Rede im EU-Parlament.<br />

8<br />

wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 8 07.03.22 11:48


Mutig gegen das System<br />

Gebiet der Ukraine die Armee des Zaren,<br />

die Bolschewiken und ukrainisch-natio-<br />

nale Kräften gegeneinander. Die Juden<br />

waren Opfer aller drei Seiten: Die Bol-<br />

schewiken sagten den Juden nach, sie<br />

paktierten mit den ukrainischen Nationalisten,<br />

während diese den Juden vorwarfen,<br />

mit den Bolschewiken zu kolla-<br />

borieren. Die Truppen des Zarenreiches<br />

setzten die antijüdische Politik der Roma-<br />

nov-Dynastie fort. Während die Juden in<br />

den westlichen Landesteilen ihren Tra-<br />

ditionen weiterhin nachgehen konnten,<br />

existierte das jüdische Leben in der sow-<br />

jetischen Ukraine praktisch nicht mehr.<br />

In den 1930er-Jahren wurden dort die Synagogen<br />

und religiöse Schulen geschlos-<br />

sen und die jiddische Sprache verboten.<br />

Nach dem deutschen Überfall auf die<br />

Sowjetunion im Juni 1941 fanden in vielen<br />

Gebieten der Ukraine Massaker an Juden<br />

durch Ukrainer statt. Mit dem Vor-<br />

rücken der SS-Einsatzgruppen begannen<br />

die massenhaften Erschießungen von Juden<br />

durch diese Einsatzgruppen. Das be-<br />

kannteste dieser Massaker fand am 29.<br />

und 30. September 1941 in Babi Jar, ei-<br />

ner Schlucht bei Kiew statt, wo mehr<br />

als 33.000 Menschen ermordet wurden,<br />

gefolgt von weiteren regelmäßigen Mas-<br />

senerschießungen mit weiteren etwa<br />

70.000 Toten. Die Schoah wütet in der<br />

Ukraine bis zur Befreiung durch die Rote<br />

Armee und kostet mehr als 1,5 Millionen<br />

ukrainischen Juden das Leben.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrie-<br />

ges war das jüdische Leben im Gebiet der<br />

Ukraine ausgelöscht – über die Hälfte der<br />

Juden in der Ukraine ermordet. Ende der<br />

1940er-Jahre wandelte sich Stalins latenter<br />

Antisemitismus in eine offene Verfol-<br />

gung alles Jüdischen und gipfelte 1952<br />

in der Erschießung von sowjetisch-jüdischen<br />

Intellektuellen. Großteils ver-<br />

schwiegen wurde auch der Beitrag der<br />

jüdischen Soldaten und Offiziere, die im<br />

Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Roten<br />

Armee gekämpft haben.<br />

In den 1990er-Jahren erfolgte eine<br />

Welle der Auswanderung (Alija) nach Is-<br />

rael. Trotzdem ist die heutige jüdische<br />

Gemeinde die fünftgrößte in der Welt<br />

– nach den USA, Israel, Russland und<br />

Frankreich. Der European Jewish Congress<br />

(EJC) beziffert die jüdische Bevöl-<br />

kerung mit bis zu 400.000. Die größte<br />

Gemeinde ist in Kiew (110.000), gefolgt<br />

von Dnipropetrovsk (60.000), Charkow<br />

© Markiv Mykhailo / Action Press / picturedesk.com<br />

(45.000) und Odessa (45.000). In der<br />

Westukraine leben in den ehemals jüdischen<br />

Zentren wie Lemberg und Czerno-<br />

witz nur mehr etwas 6.000 Juden.<br />

Hinweis der Redaktion: In den nächsten Ausgaben<br />

des WINA-Magazins beschreiben wir einzelne<br />

bekannte jüdische Gemeinden und be-<br />

leuchten auch die Geschichte der ukrainischen<br />

Faschisten, unter anderen Stepan Bandera.<br />

Geschichte, die sich wiederholt. Twitter-Meldung<br />

Selenskyjs nach der Bombadierung des Holocaust-<br />

Mahnmals in Kiew durch die russische Armee.<br />

„Wir kämpfen<br />

für unsere<br />

Rechte, für<br />

unsere Freiheit,<br />

für unser<br />

Leben. Und<br />

nun kämpfen<br />

wir ums Überleben.<br />

Aber wir<br />

kämpfen auch,<br />

um gleichwertige<br />

Mitglieder<br />

Europas zu<br />

sein.“<br />

Wolodymyr<br />

Selenskyj<br />

Nachdem Selenskyj am 21. April 2019<br />

den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko<br />

im zweiten Durchgang die Präsidentschaftswahl<br />

mit 73,2 Prozent der ab-<br />

gegebenen Stimmen klar besiegt hatte,<br />

wurde er am 20. Mai 2019 in Kiew als Präsident<br />

vereidigt. Der einflussreiche ukrai-<br />

nische Oligarch Igor Kolomojski, der nicht<br />

nur Hauptgesellschafter der verstaatlich-<br />

ten PrivatBank, sondern ein Jahr auch<br />

Gouverneur der Oblast Dnipropetrowsk<br />

war, zählt zu den Förderern des Präsidenten.<br />

Kolomojski unterstützte ihn finanziell<br />

in seinem Wahlkampf und als Fernseh-<br />

produzent.<br />

In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft<br />

versuchte Selenskyj die ukrainischen<br />

Oligarchen – darunter Rinat Ach-<br />

metow, Igor Kolomojski, Wiktor Pintschuk,<br />

Dmytro Firtasch – zu überzeugen, freiwillig<br />

Macht abzugeben, sich für das Gemeinwohl<br />

einzusetzen und dem Staat bei ein-<br />

zelnen Projekten zu helfen. Als dies nicht<br />

gelang, verabschiedete Selenskyj mit Hilfe<br />

des Parlamentes ein Lobbygesetz, das den<br />

Einfluss der Oligarchen offenlegte und et-<br />

was beschnitt. Seither ist es Oligarchen<br />

verboten, Parteien zu finanzieren, und<br />

Amtspersonen müssen jedes nicht öffent-<br />

liche Treffen mit Oligarchen deklarieren.<br />

Außerdem gründete Selenskyj im selben<br />

Jahr einen Nationalen Sicherheitsrat, der<br />

Sanktionen gegen Oligarchen verhängen<br />

kann, und er hat dies auch sofort nach<br />

Gründung gegen Wiktor Medwedtschuk<br />

getan. Damit wurde Selenskyj der erste<br />

Präsident in der Geschichte der Ukraine,<br />

der eine konfrontative Politik gegenüber<br />

Oligarchen einging.<br />

Selenskyj ist seit 2003 mit Olena Se-<br />

lenska-Kijaschko verheiratet. Obwohl<br />

beide in die gleiche Schule gingen, lernten<br />

sie einander erst an der Universität in Kiew<br />

kennen: Olena ist gleich alt und schloss ihr<br />

Studium als Ziviltechnikerin und Archi-<br />

tektin ab. Tochter Oleksandra wurde 2005<br />

geboren, Sohn Kiril 2013. Olena Selenska<br />

begleitete ihren Mann auf Tourneen und<br />

widmete sich in der Folge gänzlich dem<br />

Schreiben von Texten für Kvartal 95.<br />

Nicht zu überprüfen war die Meldung,<br />

dass Selenskyj 2020 Rosch ha-Schana, das<br />

jüdische Neujahrsfest, zum nationalen Fei-<br />

ertag erklärt haben soll.<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

marz_22.indb 9 07.03.22 11:48


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Weit weg<br />

und sehr nah<br />

Israelis blicken entsetzt auf die Kriegsbilder<br />

aus Europa und rüsten sich für Einwanderer<br />

aus der Ukraine.<br />

Ilya Axelrod ist gerade oft im israelischen<br />

Fernsehen zu sehen. Allerdings nicht in seiner<br />

üblichen Rolle als Standupist, der gerne<br />

Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion<br />

aufs Korn nimmt, sondern als jemand,<br />

der den ukrainischen Präsidenten<br />

persönlich kennt. Mit ihm zusammen trat Axelrod,<br />

der aus Belarus stammt, früher in ukrainischen TV-<br />

Shows auf. Zwei Juden, die sich gut verstanden. „Wolodymyr<br />

Selenskyj war aber immer schon mehr als<br />

ein Komiker“, erzählt Axelrod. In der Ankleide hat<br />

„Wolodymyr Selenskyj war aber immer<br />

schon mehr als ein Komiker. Taxifahrer<br />

haben gesagt, es wäre schön, wenn er<br />

Präsident wäre. Das hat er sich dann wohl<br />

zu Herzen genommen.“ (Ilya Axelrod)<br />

damals schon ein Bodyguard auf ihn aufgepasst, weil<br />

seine Witze über Korruption und die Oligarchen im<br />

Land nicht allen gefielen. Beim den Bürgern machte<br />

ihn das beliebt. „Taxifahrer haben gesagt, es wäre<br />

schön, wenn er Präsident wäre. Das hat er sich dann<br />

wohl zu Herzen genommen.“<br />

Keiner hätte gedacht, fügt Axelrod hinzu, dass der<br />

junge und unerfahrene ukrainische Präsident jetzt<br />

so durchhalten werde. „Aber er ist nirgendwo hingegangen,<br />

er ist geblieben, ein Mann des Volkes, er<br />

geht raus, zeigt sich und benutzt sein Handy als<br />

Waffe.“ Er hat sich damit auf Twitter und Instagram<br />

auch direkt an die russischen Künstlerkollegen<br />

gewandt, damit sie seinem Land im<br />

Von Gisela Dachs<br />

Kampf um die Unabhängigkeit beistehen. Selenskyj,<br />

mit seinem grünen Pullover und den mutigen Selfies,<br />

ist auch in Israel längst zum Star avanciert. Man<br />

müsse keiner Eliteeinheit angehören, um ein Held<br />

zu sein, hieß es auf einem oft geteilten Facebook-Eintrag.<br />

(Es könne aber nichts schaden, antwortete darauf<br />

ein anderer).<br />

Natürlich dominiert der Krieg in der Ukraine<br />

auch hier die Nachrichten. Die Bilder von den Raketeneinschlägen,<br />

den leeren Straßen unter Ausgangsperre<br />

und all den schutzsuchenden Menschen erschüttern<br />

und erinnern unweigerlich auch an die<br />

eigenen Kriege. Es sei schon ein eigenartiges Gefühl,<br />

wenn man wegen eines eskalierenden Konflikt<br />

mit Besorgnis aus Israel auf Europa blickt, sagt<br />

eine Freundin. Alles ist diesmal weit weg und geht<br />

doch sehr nah. Viele haben Familie und Freunde in<br />

der Ukraine und/oder in Russland. Im Supermarkt<br />

tauschten heute Morgen Kassiererinnen Telefonnummern<br />

aus, in der Hoffnung, mit ihren Kontakten<br />

vor Ort anderen helfen zu können. Israel hat Ärzteteams<br />

losgeschickt und humanitäre Hilfe. Keine<br />

Waffen, wie es sich Selenskyj erhofft hatte.<br />

Sollte der Krieg andauern, rüstet man sich für<br />

eine große Einwanderungswelle. Insgesamt 200.000<br />

Ukrainer mit jüdischen Wurzeln sind nach dem<br />

Rückkehrgesetz befugt, israelische Staatsbürger zu<br />

werden. In den ersten Tagen nach der Invasion stellten<br />

2.500 Ukrainer einen Antrag. All jene, die bereits<br />

vor der russischen Invasion ihre Einwanderererlaubnis<br />

bekommen hatten, wurden von Gesandten<br />

bis nach Polen begleitet und über Warschau ausgeflogen.<br />

Im vorigen Jahr kamen über 3.100 Neuein-<br />

© flash90/Shlomi Cohen<br />

10 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 10 07.03.22 11:48


Der ukrainische<br />

Präsident Wolodymyr<br />

Selenskyj bei seinem<br />

Israel-Besuch im Jänner<br />

2020 in der Jerusalemer<br />

Altstadt.<br />

© flash90/Shlomi Cohen<br />

wanderer aus der Ukraine, jetzt stehen 12.000 Betten<br />

zur Aufnahme bereit, verstreut über Hotels und<br />

städtische Einrichtungen im ganzen Land.<br />

Es gibt auch viele Israelis in der Ukraine. Nach<br />

Schätzungen hielten sich 15.000 israelische Staatsbürger<br />

dort auf, darunter Araber aus Ostjerusalem.<br />

Die Wege nach draußen sind äußerst schwierig. Bei<br />

der Evakuierung sollen israelische Diplomaten auch<br />

libanesischen, syrischen und ägyptischen Bürgern<br />

bis zur Grenze geholfen haben.<br />

Boris Gorodnidsky, der in Lod lebt, kann nur<br />

schwer fassen, was sich gerade in seinem Geburtsland<br />

abspielt. Er ist Jahrgang 1968, in Lviv/Lemberg<br />

geboren und in ständigem Kontakt mit seinen Cousins,<br />

die an die Grenze zu den Karpaten geflohen<br />

sind. Sein Neffe hat es geschafft, Kinder und Frau<br />

in Sicherheit zu bringen, er selbst ist geblieben, um<br />

zu kämpfen. In verschiedenen WhatsApp-Gruppen<br />

tauscht sich Boris mit Ukrainern und Russen in Israel<br />

und vor Ort aus. Darunter sind auch ehemalige<br />

russische Soldaten in Moskau. „Ich war fünf Jahre in<br />

der Roten Armee, wir haben alle zusammen die Offiziersausbildung<br />

in Estland gemacht, bis die Sowjetunion<br />

auseinanderbrach, Juden, Russen, Ukrainer.“<br />

Auch seine ehemaligen russischen Gefährten<br />

könnten diesen Bruderkrieg nicht fassen, erzählt Boris.<br />

„Sie sind auch gegen das Regime, aber schweigen;<br />

sie haben es eher gut mit ihren abgesicherten<br />

Pensionen, dafür hat Putin vorausschauend gesorgt.“<br />

Potenzial für eine große Rebellion aus diesen Reihen<br />

sieht Gorodnidsky nicht. „Ich war in dieser Einrichtung.<br />

Das funktioniert wie in allen totalitären Staaten,<br />

Patriotismus, Propaganda, Gehirnwäsche, Fake<br />

Bei der Evakuierung sollen israelische Diplomaten<br />

auch libanesischen, syrischen<br />

und ägyptischen Bürgern bis zur Grenze<br />

geholfen haben.<br />

News.“ Vielleicht aber ändere sich ja dennoch gerade<br />

etwas.<br />

In der großen israelischen Politik hat man sich<br />

bisher mit offener Abscheu gegenüber dem Machthaber<br />

im Kreml ebenso wie mit der Begeisterung für<br />

Selenskyj zurückgehalten. Aus Rücksicht auf die jüdische<br />

Diaspora in Russland, wie es heißt, vor allem<br />

aber auch aus geopolitischen Gründen. Es ist ein Balanceakt,<br />

der sich auf Dauer kaum durchhalten lässt.<br />

Wenige Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine hatte<br />

sich Außenminister Yair Lapid dann erstmals doch<br />

vorsichtig die Seite des Westens gestellt. „Wenn es zu<br />

einer Invasion kommt, sind wir mit den Amerikanern,<br />

mit dem Westen“, sagte er, aber Israel müsse<br />

auch vorsichtiger sein als andere, denn es habe eine<br />

gemeinsame Grenze mit Russland: an der Grenze zu<br />

Syrien, und dort bestimmt Putin mit. Vier Tage nach<br />

der Invasion stellte Lapid dann klar, dass Israel in einer<br />

anberaumten UNO-Sitzung für die Verurteilung<br />

Russlands stimmen werde. „Israel war und wird auf<br />

der richtigen Seite der Geschichte sein. Das sind unsere<br />

Werte.“ Dem Aufruf Selenskyjs, eine Vermittlerrolle<br />

im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine<br />

einzunehmen, ist Israel nicht nachgekommen. Ein<br />

solches Unterfangen gilt als abwegig und unrealistisch.<br />

Bisher jedenfalls. Ausschließen aber lässt sich<br />

in Zeiten wie diesen wohl gar nichts mehr.<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

marz_22.indb 11 07.03.22 11:48


Thema<br />

Selbstbewusstes Leben<br />

„Ein Marathon“<br />

Vor einem Jahr präsentierte die Regierung die Nationale Strategie<br />

gegen Antisemitismus mit 38 konkreten Maßnahmen zur<br />

Bekämpfung der Judenfeindlichkeit in Österreich. Ein Jahr<br />

später sind neun dieser Maßnahmen ganz umgesetzt, alle<br />

weiteren wurden in Angriff genommen, wie Verfassungsministerin<br />

Karoline Edtstadler bei der Präsentation des<br />

Umsetzungsberichts 2021 betonte.<br />

Von Alexia Weiss<br />

IKG-Präsident Oskar Deutsch<br />

und Verfassungministerin Karoline<br />

Edtstadler bei der Präsentation<br />

des Umsetzungsberichts.<br />

© IKG/Schmidl<br />

„Dieses Gesetz<br />

trägt dazu bei,<br />

jüdisches Leben in<br />

Österreich physisch<br />

und immateriell<br />

abzusichern.“<br />

Oskar Deutsch<br />

Es ist eine zwiespältige Bilanz:<br />

Einerseits setzte die<br />

Regierung im vergangenen<br />

Jahr Meilensteine im Kampf gegen<br />

Antisemitismus und zur Absicherung<br />

jüdischen Lebens in Österreich.<br />

Andererseits stieg der Antisemitismus<br />

gerade 2021 weiter<br />

massiv an. Im ersten Halbjahr 2021<br />

hatte die Antisemitismus-Meldestelle der<br />

IKG Wien 562 Vorfälle registriert – im Vergleichszeitraum<br />

2020 waren es 257 gewesen.<br />

Die Bilanz für das gesamte Jahr 2021<br />

lag zu Redaktionsschluss noch nicht vor.<br />

IKG-Präsident Oskar Deutsch ging bei der<br />

Präsentation des Umsetzungsberichts aber<br />

davon aus, dass diese Zahlen „verrückt<br />

hoch“ sein würden. Ein großes Problem<br />

sei noch größer geworden, formulierte es<br />

die Verfassungsministerin.<br />

Zwei Gründe für diesen massiven Anstieg<br />

führt der IKG-Präsident ins Treffen:<br />

Einerseits komme es im Zug der Demonstrationen<br />

gegen die Corona-Maßnahmen<br />

und die Impfpflicht zu vielen Vorfällen.<br />

Edtstadler meinte dazu, es gebe derzeit<br />

„offene Kanäle für antisemitisches Gedankengut“,<br />

weil die Gesellschaft unter<br />

Druck stehe. Fake News und Verschwörungserzählungen<br />

rund um das Corona-<br />

Virus würden in kurzer Zeit ein Millionenpublikum<br />

erreichen. „Deren Erfolg liegt<br />

darin, einfache Erklärungen für komplexe<br />

Problemstellungen zu geben und einen<br />

Sündenbock zu benennen. Das ebnet den<br />

Weg für Antisemitismus und Rassismus:<br />

Konkrete physische und verbale Angriffe<br />

auf konkrete Gruppen wie Jüdinnen und<br />

Juden, aber auch andere Minderheiten,<br />

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />

oder gar das Gesundheitspersonal sind<br />

die Folge“, meinte die Ministerin.<br />

Aber auch der Israel-bezogene Antisemitismus<br />

nehme zu, gab Deutsch zu<br />

bedenken. Nichtsdestotrotz sei die österreichische<br />

Nationale Strategie gegen Antisemitismus<br />

wegweisend in Europa, betonte<br />

der IKG-Präsident. „Gleichzeitig müssen<br />

wir uns deutlich machen, alles ist nur der<br />

Anfang, der Beginn eines langen, steinigen<br />

Weges.“ Edtstadler bemühte ein anderes<br />

Bild: Der Kampf gegen Antisemitismus<br />

sei „kein Sprint, sondern ein Marathon“.<br />

Einige der Meilensteine von 2021, aufgelistet<br />

im Umsetzungsbericht: die Einrichtung<br />

der Stabstelle österreichisch-jüdisches<br />

Kulturerbe im Bundeskanzleramt<br />

(geleitet wird sie von Antonio-Maria Martino);<br />

die Verabschiedung des Gesetzes<br />

über die Absicherung des<br />

österreichisch-jüdischen Kulturerbes;<br />

der Abschluss eines Zuwendungsvertrages<br />

zur Umsetzung<br />

des Kulturerbegesetzes zwischen<br />

dem Bund und der israelitischen<br />

Religionsgesellschaft (dotiert mit<br />

vier Millionen Euro zur Sicherung<br />

jüdischen Lebens); die Antisemitismusstudie<br />

2020 von IFES, beauftragt vom Parlament;<br />

der Regierungsbeschluss, noch vorhandene<br />

Teile des KZ-Außenlagers Gusen<br />

zu erwerben; die Implementierung eines<br />

Flag, also einer Markierung, für Hasskriminalität<br />

im polizeilichen Protokollierungssystem;<br />

die erstmalige Ausschreibung<br />

des Simon-Wiesenthal-Preises für<br />

zivilgesellschaftliches Engagement gegen<br />

Antisemitismus sowie die Eröffnung der<br />

Gedenkstätte „Shoah Namensmauer“ im<br />

Ostarrichipark in Wien.<br />

Für IKG-Präsident Deutsch ist der wichtigste<br />

Beitrag, den die jüdische Gemeinde<br />

im Kampf gegen Antisemitismus leisten<br />

könne, „das selbstbewusste Leben selbst“.<br />

Daher sei auch das Österreich-jüdische<br />

Kulturerbegesetz historisch und aus seiner<br />

Sicht einer der wichtigsten Meilensteine.<br />

„Dieses Gesetz trägt dazu bei, jüdisches<br />

Leben in Österreich physisch und<br />

immateriell abzusichern, und unterstützt<br />

damit den wichtigsten und effektivsten<br />

Weg, um Antisemitismus entgegenzutreten.<br />

Es geht um nicht weniger als um jüdisches<br />

Leben in der Mitte der österreichischen<br />

Gesellschaft und als untrennbarer<br />

Teil österreichischer Kultur nicht nur in<br />

Vergangenheit und Gegenwart, sondern<br />

auch in Zukunft.“<br />

12 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 12 07.03.22 11:48


Wort-Rap mit Chuzpe<br />

HIGHLIGHTS | 02<br />

Podcasting ist das neue Radiohören – jederzeit und überall abrufbar<br />

und anhörbar. Avia Seeliger, die sonst klassische Radiobeiträge gestaltet,<br />

hat mit Chuzpe einen Hör-Ort geschaffen, an dem sie mit ihren<br />

Gästen aus Kunst und Kultur länger und intensiver in ein Thema eintauchen<br />

kann. Diesmal sprach sie mit dem Kurator, Architekten und Designer<br />

Itai Margula, der dabei über sein jüngstes Projekt Dali – Freud. Eine<br />

Obsession im Unteren Belvedere erzählt.<br />

AUSSTELLUNGS.TIPP<br />

Dalí – Freud.<br />

Eine Obsession:<br />

die Geschichte zweier Genies, die das<br />

20. Jahrhundert geprägt haben. Dalís<br />

Faszination für Freuds Erkenntnisse<br />

prägte sein Werk und seine Bildsprache<br />

grundlegend. Demgegenüber stand<br />

Freuds Skepsis dem Surrealismus gegenüber.<br />

Zu einem Treffen kam es nur<br />

ein einziges Mal. Von Itai Margula im<br />

Unteren Belvedere in Szene gesetzt, erzählt<br />

Kurator Jaime Brihuega noch bis<br />

29. Mai die Geschichte dieser kreativen<br />

Obsession.<br />

belvedere.at<br />

Chuzpe ist für mich ... eine<br />

Frechheit Kunst ist für mich ...<br />

eine Möglichkeit, sich auszudrücken<br />

Erfolg ist für mich ...<br />

glücklich zu sein Judentum ist<br />

für mich ... Tradition Wien<br />

ist für mich ... anders Die Corona-Pandemie<br />

ist für mich ...<br />

hoffentlich bald Geschichte!<br />

Itai Margula, geboren 1981, studierte in Wien und London Architek-<br />

tur und arbeitet als Ausstellungsarchitekt, Designer und freier Kurator.<br />

Mit Michael Mauch gründete er 2020 das Architekturbüro Margula &<br />

Mauch und entwickelt zudem Ausstellungsformate für Museen oder<br />

private Sammlungen, Publikationen und Kunstbücher.<br />

Chuzpe – jung und irgendwie jüdisch mit Avia Seeliger und ihren<br />

Gästen gibt es in voller Länge unter anderen auf ikg-wien.at.<br />

Räume voller<br />

Leidenschaft. Ausstellungsarchitektur<br />

im Wiener Belvedere<br />

von Itai Margula.<br />

© David Payr; © Johannes Stoll/Belvedere, Wien; © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

marz_22.indb 13 07.03.22 11:48


Olympische Spiele<br />

Stephan Hegyi, Micky Hirschl<br />

und der Bogen der Hakoah<br />

Der Wiener Sportverein Hakoah, schon in der Zwischenkriegszeit eine echte Größe,<br />

verzeichnet in jüngerer Vergangenheit wieder einen Aufschwung. Dieser manifestierte<br />

sich auch in der ersten Olympia-Teilnahme eines Hakoahners seit fast 90 Jahren.<br />

Von Fritz Neumann<br />

Angst? Stephan Hegyi lacht nicht<br />

rasend oft, aber bei dieser Frage<br />

muss er lachen. „Ich habe vor<br />

nichts und niemandem Angst.“<br />

Und wer wollte daran zweifeln? Hegyi ist<br />

1,86 Meter groß und bringt gut und gerne<br />

120 Kilogramm auf die Waage, manchmal<br />

auch etwas mehr. Er ist einer der weltbesten<br />

Judoka im Schwergewicht, war zweimal<br />

EM-Dritter – und ist zweifellos das Aushängeschild<br />

des Wiener Sportvereins SC Hakoah.<br />

Hätte es eines Beweises bedurft, lieferte<br />

ihn Hegyi, als er das Ticket für die von<br />

2020 auf 2021 verschobenen Olympischen<br />

Spiele löste. Die Hakoah war stolz, ihr Präsident<br />

Paul Haber lobte Hegyi und dessen<br />

Trainer Axel Eggenfellner und hielt fest:<br />

„Eine Olympia-Qualifikation passiert nicht<br />

alle Tage.“ Immerhin fast 90 Jahre hatte die<br />

Hakoah darauf gewartet, dass einer der ihren<br />

wieder die olympische Bühne betrat.<br />

Garantiert war nicht Angst der Grund<br />

dafür, dass für Hegyi schon im ersten<br />

Kampf Endstation war. Es lag eher an der<br />

Klasse des Gegners. Der Österreicher hatte<br />

das Pech gehabt, just den Franzosen Teddy<br />

Riner zugelost zu bekommen, den mit einer<br />

Körpergröße von 2,05 Metern und –<br />

mittlerweile – drei Olympiatiteln herausragenden<br />

Judoka der Jetztzeit. „Ich hab mir<br />

natürlich etwas ausgerechnet“, gesteht Hegyi,<br />

schließlich hatte er Riner zuvor schon<br />

einmal an den Rand einer Niederlage gebracht.<br />

In Tokio freilich war es Riner, der<br />

alles im Griff hatte. „Ich bin nicht reingekommen“,<br />

sagt Hegyi über den Kampf, der<br />

nach gut zwei Minuten zu seinen Ungunsten<br />

vorbei gewesen war.<br />

Judo ist nicht Ringen, und 2021 ist nicht<br />

1932. Ringkämpfe vor 90 Jahren haben<br />

manchmal zwanzig Minuten lang gedauert.<br />

Ebenfalls ein Kampf Mann gegen Mann<br />

– und doch eine ganz andere Angelegenheit.<br />

Aus Hakoah-Sicht war es der Sport<br />

und war es die Zeit des Micky Hirschl. Seine<br />

Geschichte ist eine außergewöhnliche, das<br />

hat mit der Person wie mit der Zeit zu tun.<br />

Zunächst als Turner aktiv, war der junge<br />

Hirschl von Makkabi zur Hakoah und dort<br />

von den Fußballern bald ins Lager der Ringer<br />

übersiedelt. Diese Disziplin wurde der<br />

stattlichen Statur, die er in seiner Jugend<br />

entwickelt hatte, eher gerecht. Nebenbei<br />

war auch bei seinem Vornamen einiges<br />

weitergegangen, aus dem Nikolaus (oder<br />

Nickolaus) wurde ein Nicky, aus dem Nicky<br />

ein Micky, der manchmal auch als Mickey<br />

daherkam. Und jedenfalls als einer, der weder<br />

Tod noch Teufel fürchtete.<br />

Teufel, das waren die Nazis, die in den<br />

1930ern in Wien immer unverschämter<br />

und grausamer ihr Unwesen trieben. Der<br />

Hakoahner Hirschl tat sich insofern hervor,<br />

als er sich und seine Statur nicht selten<br />

schützend vor andere Juden stellte, vor<br />

Freunde, Freundinnen und Vereinskollegen.<br />

Er wehrte sich vehement und durchaus<br />

erfolgreich, was letztlich freilich auch<br />

zur Folge hatte, dass Hirschl aus Österreich<br />

flüchten musste. Doch dazu etwas später.<br />

Vorerst befinden wir uns noch im Jahr<br />

1932. Es ist das Jahr der Olympischen Sommerspiele<br />

in Los Angeles, und der Hakoah-<br />

Ringer Hirschl ist Teil eines 19-köpfigen österreichischen<br />

Aufgebots, das sich auf die<br />

wochenlange Reise macht. In Los Angeles<br />

wird Hirschl im Schwergewicht zwei olympische<br />

Bronzemedaillen davontragen, eine<br />

im freien, eine im griechisch-römischen<br />

Stil.<br />

Der ehemalige Krone-Reporter Olaf<br />

Brockmann, ein Doyen der österreichi-<br />

© GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com; Pressesports / EXPA / picturedesk.com;<br />

Jüdisches Museum Wien / Archiv, Inv. Nr. 15 876/1<br />

„Ich h<br />

was a<br />

Hegy<br />

14 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 14 07.03.22 11:48


Judo & Ringkampf<br />

© GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com; Pressesports / EXPA / picturedesk.com;<br />

Jüdisches Museum Wien / Archiv, Inv. Nr. 15 876/1<br />

„Eine Olympia-<br />

Qualifikation<br />

passiert nicht<br />

alle Tage.“<br />

Hakoah-Präsident<br />

Paul Haber<br />

„Ich hab mir natürlich etwas<br />

ausgerechnet“: Stephan<br />

Hegyi bei einer Pressekonferenz.<br />

Olymischer Kampf. Stephan<br />

Hegyi im Fight mit dem späteren<br />

Olympiasieger, dem Franzosen<br />

Teddy Riner, in Tokio 2021.<br />

schen Sportjournalisten, verfügt über ein<br />

einzigartiges Archiv sporthistorischer Artikel<br />

und Dokumente. Dankenswerterweise<br />

hat er darin gewühlt und nicht wenig<br />

über Los Angeles 1932 gefunden. Selbst<br />

von den Siegerehrungen hat Brockmann<br />

das eine oder andere Foto aufgetan. Österreich<br />

belegte bei diesen Spielen dank insgesamt<br />

fünf Medaillen den 18. Platz in der<br />

Nationenwertung. Die Fechterin Ellen Müller-Preis<br />

ragte mit ihrer Florett-Goldenen<br />

heraus, Silber und Bronze gab es für die Gewichtheber<br />

Hans Haas und Karl Hipfinger,<br />

und Hirschls Bronze-Doppelpack rundete<br />

das erfreuliche Ergebnis ab.<br />

Zurück in Wien, hat Micky Hirschl nicht<br />

nur Ehrungen, sondern auch antisemitische<br />

Schmähungen erfahren. Die Attacken<br />

der Nazis wurden häufiger und brutaler.<br />

Als Micky einmal, im März 1934, mit seiner<br />

Verlobten nächtens durch einen Park<br />

ging, wurden sie von einer Gruppe überfallen.<br />

Die Berichte über den Vorfall gehen<br />

auseinander. Einmal heißt es, Hirschl sei,<br />

weil er sich immer öfter einer Überzahl gegenübersah,<br />

mit einer Pistole bewaffnet gewesen<br />

und habe einen der Nazis niedergeschossen.<br />

Ob der Mann tödlich oder nur<br />

schwer verletzt worden war – auch darüber<br />

gehen die Meldungen auseinander. In<br />

einem anderen Bericht ist zwar von einem<br />

Schuss, aber nur von einer schweren Verletzung<br />

des Nazis die Rede. Und ein dritter<br />

Bericht zitiert Hirschl selbst wie folgt:<br />

„Jedenfalls habe ich einen erwischt, der ist<br />

vier Monate im Spital gelegen.“<br />

Nikolaus „Micky“<br />

Hirschl. Der jüdische<br />

Ringer errang bei<br />

den olympischen<br />

Spielen 1932 in Los<br />

Angeles sowohl im<br />

griechisch-römischen<br />

wie im Freistil-Ringen<br />

die Bronzemedaille für<br />

Österreich.<br />

Sei’s drum. Verbrieft ist, dass Micky<br />

Hirschl nicht zuletzt auf Anraten der Polizei<br />

und eines Rechtsanwalts bald seine Sachen<br />

gepackt hat. „Ansonsten hätten mich die<br />

Nazis umgebracht“, sagte er später in Interviews.<br />

Seine lange Reise führte ihn über<br />

Italien nach Palästina und sollte letztlich in<br />

Australien enden, wo er seine Verlobte heiratete,<br />

eine Familie gründete und eine erfolgreiche<br />

Fleischhauerei betrieb. Im Krieg<br />

hatte sich Hirschl britischen Truppen angeschlossen<br />

und gegen die Nazis gekämpft.<br />

Das Ringen, hat Hirschl immer wieder<br />

betont, habe ihn fürs Leben geprägt und<br />

geschult. Schon 1933 hatte er seinem Sport<br />

in dem Band Körpersport gehuldigt. Allein<br />

der Griechisch-Römische Ringkampf, hielt<br />

er da fest, „macht Ausdauer, Flinkheit, Intelligenz,<br />

technisches Feingefühl, Entschlossenheit,<br />

Körperstärke, Elastizität,<br />

Atemkunst, Körperbeherrschung, Nervenkraft,<br />

Routine usw. auf einmal notwendig“.<br />

Man könne sich „gute Tennisspieler, Fußballer,<br />

Schwimmer, ja Eis- und Skiläufer<br />

ohne die eine oder andere der aufgezählten<br />

Eigenschaften vorstellen, niemals aber<br />

einen Ringer“. Seine Gegner in Los Angeles,<br />

schrieb Hirschl, seien ihm an Größe, Gewicht<br />

und Kraft überlegen gewesen, durch<br />

feine Technik habe er das Manko aber größtenteils<br />

wettmachen können.<br />

1984 hat Los Angeles noch einmal Olympische<br />

Sommerspiele veranstaltet. Micky<br />

Hirschl reiste auf Einladung aus Australien<br />

an, war Ehrengast der Bewerbe im Ringen,<br />

52 Jahre nach seinem ersten, so erfolgreichen<br />

Ausflug nach Los Angeles. Im Wrestling<br />

USA Magazine erschien eine große Geschichte<br />

über den legendären Ringer. 1991<br />

ist Hirschl in Australien gestorben.<br />

Stephan Hegyi, der nun den Bogen<br />

spannt über fast 90 Jahre, kam 1998 zur<br />

Welt. Der Name Micky Hirschl hat ihm bis<br />

vor Kurzem nicht viel gesagt. Doch jetzt, da<br />

Hegyi die Geschichte kennt, mag er sich an<br />

Hirschl durchaus orientieren. Mit seinen<br />

23 Jahren befindet er sich, als Schwergewicht<br />

sowieso, in einem noch immer jungen<br />

Wettkampfalter. „Die meisten Weltklasse-Judoka<br />

im Schwergewicht“, sagt<br />

Stephan Hegyi, „sind 26 bis 32 Jahre alt“.<br />

Bei den nächsten Olympischen Sommerspielen,<br />

2024 in Paris, wird er 26, bei den<br />

übernächsten 30 Jahre alt sein. Die übernächsten<br />

werden 2028 von Los Angeles<br />

veranstaltet, von jener Stadt, in der Micky<br />

Hirschl zweimal Bronze errungen hat, am<br />

anderen Ende des Hakoah-Bogens.<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

marz_22.indb 15 07.03.22 11:48


Gegenüber seinem Schreibtisch im Innenstadtbüro,<br />

also immer im Blick, hängt ein<br />

riesiges Foto seiner großen Familie. Kinder,<br />

Schwiegerkinder und jede Menge<br />

Enkel. Wie viele es sind? „Viele, aber wir zählen<br />

nicht“, lächelt der Patriarch.<br />

Privates will Ariel Muzicant überhaupt nicht gern<br />

preisgeben und auch seinen 70er womöglich ignorieren.<br />

Ein neues Leben, das fing für ihn mit 60 an<br />

und davon erzählt er gern.<br />

WINA: Was hat sich im letzten Jahrzehnt konkret für dich<br />

verändert?<br />

Ariel Muzicant: Ich hab die Präsidentschaft der<br />

Kultusgemeinde abgegeben und die Firma meinem<br />

Sohn übergeben. Aus dem Tagesgeschäft bin ich<br />

komplett heraus und entwickle nur noch große zusammenhängende<br />

Immobilienprojekte mit tausenden<br />

Wohnungen, zurzeit ein Projekt am Handelskai.<br />

Und auf Grund meiner langjährigen Erfahrungen<br />

als „Berufsjude“ hab ich im European Jewish Congress<br />

(EJC) und im World Jewish Congress versucht,<br />

einige Dinge, die mir wichtig sind, weiterzubringen.<br />

So wurde 2012 die Sicherheit der jüdischen Gemeinden<br />

mit einer neu geschaffenen Institution überregional<br />

verstärkt und wird heute von lokalen Regierungen<br />

und Gemeinden unterstützt. Außerdem haben<br />

wir Ende 2018 eine EU-Ratsresolution mit konkreten<br />

Maßnahmen gegen Antisemitismus erwirkt, die zum<br />

ersten Mal Zähne hat. Plötzlich haben alle EU-Regierungen<br />

begonnen, eigene Aktionspläne zu erstellen<br />

und Antisemitismus-Beauftragte zu ernennen, mittel-<br />

oder langfristig werden wir also hoffentlich einen<br />

Unterschied sehen. Weiters haben wir uns bemüht,<br />

die EU aus ihrer Israel-feindlichen Position<br />

„Der Respekt<br />

vor den anderen<br />

und ihren<br />

Lebensformen,<br />

ihren<br />

Traditionen<br />

und Bräuchen,<br />

ist wesentlich.“<br />

Ariel Muzicant war von<br />

1998 bis 2012 Präsident<br />

der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien.<br />

herauszuholen, und haben das bei etwa 15 der 27<br />

langsam gemeinsam geschafft. Als „Elder Statesman“<br />

hat man natürlich internationale Beziehungen und<br />

Kontakte und kann Einfluss nehmen, und das tun<br />

wir, das heißt der EJC auch.<br />

Vor einigen Wochen hast du in einem Schreiben die etwas<br />

älteren IKG-Mitglieder, genauer gesagt, die Generation 55<br />

plus, zur Mitarbeit am Forschungsprojekt Die Geschichte<br />

der IKG und der jüdischen Gemeinde von 1945 bis 2012<br />

eingeladen. Wie ist es dazu gekommen?<br />

INTERVIEW MIT ARIEL MUZICANT<br />

„Wird das Ding<br />

eine Muzicant-Story?“<br />

„Hoffentlich nicht!“<br />

„Berufsjude“, „Elder Statesman“ , Ehren- und Vizepräsident:<br />

Dr. Ariel Muzicant ist 70 geworden. Zeit für eine Tour d’Horizon<br />

auf Geleistetes, ein ambitioniertes zeithistorisches Projekt und auf die<br />

Zukunft der Kultusgemeinde. Interview: Anita Pollak<br />

© HANS KLAUS TECHT / APA / picturedesk.com<br />

16 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 16 07.03.22 11:48


Geschichte der IKG<br />

© HANS KLAUS TECHT / APA / picturedesk.com<br />

I Als wir um die Mitte der 1970er-Jahre in der IKG angetreten<br />

sind, hatten wir eine Art Aktionsplan für die<br />

Gemeinde, den wir abgearbeitet haben. Nach meinem<br />

Rücktritt blieben auf meiner Checkliste aber<br />

noch einige unerledigte Punkte, die mir persönlich<br />

wichtig sind. Einer davon betrifft die Geschichte der<br />

IKG. Leider sterben die Leute, die sie mit aufgebaut<br />

haben, alle weg. Ich konnte zwar das Archiv von Alex<br />

Friedmann retten und die Archive der „Heruth“ und<br />

vom „Bund“ in die Kultusgemeinde einbringen, aber<br />

vor allem die Menschen verschwinden ja. Deshalb<br />

wollte ich ein historisches Projekt initiieren, das<br />

sich mit der Geschichte der Kultusgemeinde nach<br />

1945 auseinandersetzt und zu diesem Thema einzelne<br />

Bereiche erforscht und entsprechende Publikationen<br />

herausbringt. Da ich kein Historiker bin,<br />

hab ich Professor Klaus Davidowicz mit der wissenschaftlichen<br />

Leitung beauftragt. Außerdem wurden<br />

einige Positionen ausgeschrieben und etwa sechs<br />

bis sieben Leute mit verschiedenen Themenkreisen<br />

betraut: Die geschichtliche Aufarbeitung der knapp<br />

70 Jahre, Bildungswesen und Erziehung, Sozialwesen,<br />

Juden und Film nach 1945 in Österreich, weiters<br />

200 wesentliche jüdische Persönlichkeiten nach 1945<br />

und ihr Einfluss auf die österreichische Gesellschaft.<br />

Ein letztes Thema beschäftigt sich mit Sammlungen<br />

von Judaica aus dem österreichischen Raum und hat<br />

auch mit meiner eigenen Sammlertätigkeit zu tun.<br />

Wir hoffen, nach insgesamt drei Jahren einige Publikationen<br />

in Buchform veröffentlichen zu können.<br />

Ist auch an digitale Erscheinungsformen gedacht, und<br />

wer finanziert das Projekt?<br />

I Ich bin ein konservativer Mensch, ich mag das Internet<br />

nicht. Das Projekt wird zur Gänze von mir finanziert.<br />

„Ich bin ein<br />

konservativer<br />

Mensch, ich<br />

mag das Internet<br />

nicht.“<br />

Ariel Muzicant<br />

In welcher Weise sollen nun die<br />

Gemeindemitglieder quasi als<br />

„Geschichte von unten“ in diese<br />

wissenschaftlichen Arbeiten integriert<br />

werden?<br />

I Jeder Historiker schreibt<br />

und recherchiert natürlich<br />

subjektiv, daher erscheint es<br />

mir sinnvoll, zusätzlich Gemeindemitglieder<br />

zu befragen,<br />

die diese Zeit erlebt haben.<br />

Wir möchten Material,<br />

Geschichten und Dokumente<br />

dieser Personen einbauen. Bei<br />

geschichtlichen Narrativen geht es immer um die<br />

Vielseitigkeit der Blickwinkel. Objektivität gibt es ohnehin<br />

nicht, aber es sollte so distanziert und neutral<br />

wie möglich sein und keine Position beziehen. Ziel ist<br />

eine ausgewogene historische Darstellung, die auch<br />

einen Wert hat. Das Motto lautet: „Wer seine Vergangenheit<br />

nicht kennt, hat keine Zukunft.“<br />

Wie war die Reaktion auf deinen Brief?<br />

I Von den geplanten 300 Interviews haben wir bereits<br />

ungefähr 200. Alle, die sich auf den Aufruf melden,<br />

werden interviewt, und wenn es geht, wird das eingebaut.<br />

Die Interviewten werden nach bestimmten<br />

Themenkreisen angesprochen bzw. kontaktiert. Zum<br />

Beispiel werden zum Kapitel Orthodoxie die noch lebenden<br />

Beteiligten der verschiedenen Konflikte in<br />

den 1960er- und 1970er-Jahren befragt.<br />

Was geschieht mit den zur Verfügung gestellten Realien<br />

wie Fotos, Dokumente etc.?<br />

I Wir haben einen Herrn eingestellt, der aus all dem<br />

eine Datenbank produziert, die für die gedruckten<br />

Bücher verwendet und dann als Geschenk an die<br />

Kultusgemeinde übergeben wird. Ich denke, dass<br />

eine Kultusgemeinde viel mehr in ihre Archive und<br />

ihre Datenbanken investieren sollte, das interessiert<br />

dort aber offenbar niemanden. Deshalb mache ich<br />

das vorerst mit diesen Dingen.<br />

Einen Großteil der untersuchten Periode hast du bestimmend<br />

mitgestaltet. Wie bringst du dich persönlich in das<br />

Projekt ein?<br />

I Als leidenschaftlicher Sammler hab ich sehr viele<br />

Dokumente, sehr viel Archivmaterial, das alles habe<br />

ich zur Verfügung gestellt. Außerdem hat man mich<br />

auch interviewt. Ich hatte natürlich genug Konflikte,<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

marz_22.indb 17 07.03.22 11:48


Finanzielle Unabhängngigkeit<br />

gab aber immer zentrifugale Kräfte, die nur ihre partikularistischen<br />

Interessen und nie das Gesamte, die<br />

Allgemeinheit, gesehen haben. Und diese Spaltungstendenzen<br />

sind genauso gefährlich wie der Antisemitismus.<br />

Schließlich wurde das Israeliten-Gesetz<br />

verabschiedet, das eine Spaltung eigentlich nicht zulässt.<br />

Es wurde lange verhandelt und ausgestritten,<br />

diese Art des Streitens hat man eben beherrscht. Ob<br />

das weiter so gelingt, hängt von Geduld und Fähigkeiten<br />

der jeweiligen politischen Führung ab, aber<br />

auch von den Leuten in der Gemeinde, die wählen<br />

oder die nicht wählen und denen alles wurscht ist.<br />

und dazu muss man sich auch die Gegenseiten anhören.<br />

So gut es geht, hab ich mich aber aus dem Projekt<br />

herausgenommen, bin jedoch ein wesentlicher<br />

Zeitzeuge. Wird das Ding jetzt eine Muzicant-Story?<br />

Hoffentlich nicht! Sonst hätte ich eine Autobiografie<br />

geschrieben.<br />

Die Nachkriegsgeschichte der jüdischen Gemeinde, so wie<br />

ich sie miterlebt habe, ist für mich eine Erfolgsgeschichte.<br />

I Richtig, aber es war eine Hochschaubahn! Es ging<br />

bergauf und bergab, es war also keine kontinuierliche<br />

Erfolgsgeschichte, aber über die ganze Periode<br />

gesehen natürlich schon.<br />

Welche Gründe gab es für diese Hochschaubahn?<br />

I Sowohl innere Konflikte wie auch äußere mit Österreich.<br />

Viele Politiker der Zweiten Republik waren<br />

ja Antisemiten, sogar Leute, die aus dem Widerstand<br />

und aus den KZs gekommen sind. Dann gab<br />

es multiple Kreisky-Auseinandersetzungen, Waldheim,<br />

Blau-Schwarz etc. All das hat die Gemeinde<br />

massiv beeinflusst und auch dazu geführt, dass viele<br />

Juden aus Österreich weggegangen sind. In den frühen<br />

1980er-Jahren hat uns eine Studie gezeigt, dass<br />

sich die Zahl der Wiener Juden auf 4.000 reduziert,<br />

wenn wir nichts tun. Wir haben etwas getan, die<br />

Schule und viel an Infrastruktur gebaut und auch<br />

mit Leben erfüllt, und die Gemeinde hat heute 8.000<br />

Mitglieder. Aber auch heute haben wir eine ähnliche<br />

Situation, und wenn wir nicht jetzt verschiedene<br />

Maßnahmen setzen, so wird es in 30 Jahre eine jüdische<br />

Gemeinde, hier so wie fast in halb Europa,<br />

nicht mehr geben. Es wird zwar Juden geben, aber<br />

keine Gemeinde.<br />

Ein wesentlicher Faktor für deren Existenz ist die Einheitsgemeinde.<br />

Eine conditio sine qua non?<br />

I Gemeinsam mit anderen hab ich immer um eine<br />

Einheitsgemeinde gekämpft, die gerade in einem<br />

feindlichen Umfeld – denn wir sind ja im Land, in<br />

dem die Schoah stattgefunden hat – so wichtig ist. Es<br />

Leidenschaftlicher<br />

Sammler<br />

von Judaica aus<br />

dem österreichischen<br />

Raum.<br />

„Weiters haben<br />

wir uns<br />

bemüht, die EU<br />

aus ihrer Israel-feindlichen<br />

Position herauszuholen.“<br />

Ariel Muzicant<br />

Was sind deiner Ansicht nach die wesentlichen Aufgaben<br />

zur Sicherung der Zukunft?<br />

I Die Kultusgemeinde muss dafür sorgen, dass die<br />

Grundbedürfnisse abgedeckt werden, dass es Schulen,<br />

Synagogen, Friedhöfe, Sicherheit und dass es zu<br />

essen gibt. Das war der Job der Präsidenten in den<br />

letzten 70 Jahren, aber er erfordert viel Kraft und<br />

Durchsetzungsvermögen. Wesentlich ist, die finanzielle<br />

Situation der Gemeinde nicht zu gefährden.<br />

Weiters, und das gilt für alle, der Respekt vor den anderen,<br />

und wir haben in unserer Gemeinde die anderen<br />

in jeder Form. Die Bucharen sind die anderen<br />

für die Grusinen und so weiter. Der Respekt vor den<br />

anderen und ihren Lebensformen, ihren Traditionen<br />

und Bräuchen ist wesentlich und dass man sich<br />

als gleichwertig und als Juden und nicht primär eben<br />

als Bucharen, Aschkenasen etc. sieht. Es fehlt der<br />

nötige Respekt in alle Richtungen, und jeder schaut<br />

auf den anderen aus irgendeinem Grund herunter.<br />

Den Nazis und Antisemiten war es wurscht, welche<br />

Art Jude man war. Am Ende des Tages wird es wieder<br />

zu einem Konflikt in Wien kommen. Die Juden<br />

sind der natürliche Feind aller Extremisten, wir sind<br />

sichtbar, haben eine bestimmte Werteskala – und wir<br />

sind immer an allem schuld, und das wird sich nicht<br />

so bald ändern.<br />

Welche Ziele hast du noch im Rahmen der Kultusgemeinde?<br />

I Für mich ist die ZPC-Schule das Herzstück der Gemeinde.<br />

Eines meiner Ziele ist es, diese Schule für<br />

die Zukunft finanziell unabhängig zu machen und<br />

so lange wie möglich abzusichern, denn sie braucht<br />

jährlich 1,2 Mio. zusätzliche Mittel. Deshalb arbeite<br />

ich jetzt an einem Immobilienprojekt der IKG, aus<br />

dem zusätzliche Einnahmen lukriert werden sollen,<br />

die speziell gewidmet sind, um dieses Defizit abzudecken.<br />

Wenn das gelingt, dann ist die Schule wie<br />

ein Leuchtturm. Der Campus und die Seitenstettengasse<br />

mit allem, was dort dazugehört, sind die Herzstücke<br />

der Gemeinde. Wenn diese beiden Bereiche<br />

ordentlich gemanagt werden, kann der Gemeinde<br />

eigentlich nicht allzu viel passieren. An dieser Basis<br />

arbeite ich.<br />

© Daniel Shaked,<br />

18 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 18 07.03.22 11:48


Um Verständigung bemüht<br />

Władysław<br />

Bartoszewski. Er hat<br />

das Werk der Bestie im<br />

Menschen gesehen, auch<br />

wenn die Bestie mit dem<br />

Aufwand von Millionen<br />

Leben zerschlagen werden<br />

konnte.<br />

© Urban, Marco / SZ-Photo / picturedesk.com<br />

Leben um jeden Preis, das ist<br />

eine Schande. Jedenfalls für<br />

mich.“ So lautete nur einer<br />

der kompromisslosen Leitgedanken<br />

jenes Mannes,<br />

dessen stürmisch bewegte Geschichte<br />

für drei Menschenleben ausgereicht<br />

hätte. Schon seit frühester Jugend lieferte<br />

Władysław Bartoszewski den Beweis dafür,<br />

dass – wie es in einem seiner 40 Bücher<br />

heißt – „es sich lohnt, anständig zu<br />

sein“. Den hohen Preis für diesen risikoreichen,<br />

leidvollen, aber würdigen Weg<br />

spielte der äußert Bescheidene immer herunter.<br />

Die Ehre, dass ihm 1965 von der<br />

Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem der Titel<br />

eines „Gerechten unter den Völkern“<br />

verliehen wurde, teilt er mit dem Stichtag<br />

1. Januar 2021 mit 7.177 weiteren Polen.*<br />

Die weitaus größere Auszeichnung für<br />

einen katholischen Polen war die Ehrenbürgerschaft<br />

von Israel. Diese wurde<br />

Władysław Bartoszewski 1991 im israelischen<br />

Parlament, der Knesset, verliehen.<br />

Als Mitglied des Rats für die Unterstützung<br />

der Juden (Żegota) war er an der<br />

Rettung zehntausender Juden im von den<br />

Nazis besetzten Warschau beteiligt. Die<br />

Hilfe bestand unter anderem in der Beschaffung<br />

von falschen Personalpapieren,<br />

Geld, medizinischer Hilfe und der Vermittlung<br />

von Verstecken.<br />

Aber wer war dieser mutige, aufrechte<br />

Mann, der unbeirrt allen unmenschli-<br />

Widerstand<br />

gegen die<br />

Gleichgültigkeit<br />

Zum 100. Geburtstag des polnischen Politikers,<br />

katholischen Widerstandskämpfers und hundertfachen<br />

Judenretters Władysław Bartoszewski.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

chen politischen Systemen die Stirne bot<br />

und für seine unerschütterlichen Prinzipien<br />

nicht nur ins Vernichtungslager<br />

Auschwitz deportiert wurde, sondern<br />

auch in kommunistischen Gefängnissen<br />

jahrelange Haftstrafen erduldete?<br />

Władysław Bartoszewski wurde 1922 als<br />

Sohn eines bildungsbürgerlichen Bankangestellten<br />

geboren und bestand seine<br />

Matura 1939 in Warschau. Bereits als<br />

18-jähriger Mitarbeiter des polnischen<br />

Roten Kreuzes geriet er am 19. September<br />

1940 bei einer Straßenrazzia in die Fänge<br />

der deutschen Besatzer. Drei Tage später<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

wurde er als Gefangener mit der Nummer<br />

4.427 mit weiteren 1.705 Häftlingen<br />

in das Stammlager des KZ Auschwitz deportiert.<br />

Auschwitz war damals, von einigen<br />

deutschen Kapos abgesehen, ein fast<br />

ausschließlich „polnisches“ Lager, in dem<br />

Widerständler und Angehörige der Intelligenz<br />

festgehalten und gequält wurden.<br />

Das polnische Rote Kreuz bemühte sich<br />

um Bartoszewskis Freilassung – diese gelang<br />

im April 1941 aber nur, weil er inzwischen<br />

schwer erkrankt war.<br />

Der zeitlebens gläubige Katholik sagte<br />

danach: „G-tt wollte nicht, dass ich Ausch-<br />

marz_22.indb 19 07.03.22 11:48


Die Bestie im Menschen<br />

Gefragter Diskussionspartner<br />

und Vortragsredner. „Aber man<br />

muss doch auch an das Martyrium<br />

der anderen erinnern. Nicht alle,<br />

vorsichtig ausgedrückt, verstehen<br />

das.“<br />

Rundfunksender, der<br />

Tag und Nacht die Bewohner<br />

Warschaus informierte,<br />

schilderte er die aktuelle Lage<br />

in der Stadt: „Was ein paar Straßen weiter<br />

geschah, musste kommuniziert werden,<br />

sonst tappte man in eine Falle und riskierte<br />

eine Festnahme“, schrieb er später.<br />

Nach der endgültigen Niederschlagung<br />

des Aufstands am 3. Oktober 1944 gelang<br />

Bartoszewski mit einigen anderen Widerstandskämpfern<br />

die Flucht aus Warschau –<br />

sie konnten einen deutschen Soldaten mit<br />

einer Flasche Wodka und 40 Golddollar<br />

bestechen. Nach Kriegsende führte Bartoszewski<br />

sein Polonistik-Studium an der<br />

Universität Warschau fort, nachdem er zuwitz<br />

überlebe, damit ich mich selbst bemitleide,<br />

sondern dass ich Zeugnis über<br />

die Wahrheit ablege.“ Sein Überleben „der<br />

Hölle von Auschwitz“ betrachtete er als lebenslange<br />

Verpflichtung, Zeugnis abzulegen.<br />

Er verfasste unter anderem den ersten<br />

illegal publizierten Auschwitz-Bericht.<br />

Gleich nach seiner Freilassung schloss<br />

er sich der Widerstandsbewegung gegen<br />

die deutsche Besatzung Polens an. Enge<br />

Freunde machten ihn 1942 mit der Dichterin<br />

Zofia Kossak bekannt, die zu den<br />

Initiatoren der Hilfsorganisation Żegota<br />

gehörte, der christlich-jüdischen Geheimorganisation,<br />

die schätzungsweise<br />

40.000 Juden das Leben retten konnte.<br />

Bartoszewski arbeitete in dieser gefahrvollen<br />

Untergrundorganisation unter anderem<br />

mit Leon Feiner, dem Vertreter des<br />

Bunds, sowie mit Adolf Berman, dem Repräsentanten<br />

des Jüdischen Nationalrats,<br />

zusammen. Seine Aufgabe bestand darin,<br />

Berichte über die Lage der Juden in Polen<br />

unter der NS-Besatzung nach England<br />

und die USA zu schicken.<br />

Der damals 22 Jahre<br />

alte Bartoszewski war<br />

auch von der ersten<br />

Stunde des Warschauer<br />

Aufstands am 1. August<br />

1944 bis zu dessen Ende<br />

63 Tage später dabei.<br />

Bei einem klandestinen<br />

„G-tt wollte<br />

nicht, dass<br />

ich Auschwitz<br />

überlebe, damit<br />

ich mich selbst<br />

bemitleide,<br />

sondern dass<br />

ich Zeugnis<br />

über die Wahrheit<br />

ablege.“<br />

Władysław<br />

Bartoszewski<br />

vor nur an Kursen der „Fliegenden Universitäten“<br />

teilnehmen konnte. Dieser Unterricht<br />

fand in Privatwohnungen statt, denn<br />

die deutschen Besatzer hatten alle höheren<br />

Bildungseinrichtungen für Polen geschlossen.<br />

Bereits 1946 geriet Bartoszewski, der<br />

sich inzwischen der einzig legalen Oppositionspartei,<br />

der Bauernpartei PSL, angeschlossen<br />

hatte und als Journalist für<br />

diese arbeitete, ins Visier der polnischen<br />

Staatssicherheit: Von November<br />

1946 bis April 1948<br />

und von Dezember 1949 bis<br />

August 1954 – in der Phase<br />

des Hochstalinismus – verbrachte<br />

er insgesamt sechs<br />

Jahre in Gefängnissen. Erst<br />

1955 wurde er rehabilitiert<br />

und konnte als Historiker<br />

und Publizist arbeiten. Von<br />

da an wurde er nicht müde,<br />

„seinen Polen“ verständlich<br />

zu machen, welchen menschenunwürdigen<br />

Erniedrigungen<br />

und brutalem Terror<br />

ihre jüdischen Mitbürger<br />

ausgesetzt gewesen waren.<br />

Über die jüdischen Helden<br />

während des Aufstands im<br />

Warschauer Ghetto (19. April<br />

bis 16. Mai 1943) sprach<br />

er auch noch am Wochenende<br />

vor seinem Tod am 24. April 2015: Er<br />

hatte noch an den Gedenkfeiern zum 72.<br />

Jahrestag des Aufstands im Warschauer<br />

Getto teilgenommen.<br />

Während der kommunistischen Herrschaft<br />

in Polen erlebte der Historiker und<br />

Publizist ständige Zensur, Bespitzelung<br />

und Überwachung.<br />

Ein halbes Jahr nach der Verhängung<br />

des Kriegsrechts im Dezember 1981 wurde<br />

Bartoszewski als prominenter Aktivist der<br />

Solidarność-Bewegung wie viele andere<br />

führende Mitglieder erneut verhaftet. Mit<br />

Hilfe einer befreundeten Familie konnte er<br />

© Urban, Marco / SZ-Photo / picturedesk.com<br />

20 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 20 07.03.22 11:48


Unrecht benennen<br />

© Urban, Marco / SZ-Photo / picturedesk.com<br />

befreit werden. In den Folgejahren<br />

bemühten sich<br />

österreichische und deutsche<br />

Freunde, Władysław<br />

Bartoszewski Gastprofessuren<br />

im Westen zu vermitteln,<br />

damit er zeitweilig<br />

im Exil Vorträge halten<br />

konnte. Einladungen kamen<br />

unter anderen von<br />

der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität München sowie<br />

der Universität Augsburg.<br />

„Der Mensch hat<br />

die Tendenz, sich<br />

nur an das eigene<br />

Martyrium<br />

zu erinnern. […]<br />

Dann beginnt<br />

ein Wettlauf des<br />

Leids, der sinnlos<br />

ist. Vollkommen<br />

sinnlos.“<br />

Władysław<br />

Bartoszewski<br />

tos, die ihn als „aktivsten polnischen Helfer<br />

bei der Rettung von Juden im besetzten<br />

Warschau“ bezeichneten und in Yad Vashem<br />

Zeugnis davon ablegten. Die Zeremonie<br />

für die Auszeichnung des Gerechten<br />

unter den Völkern fand<br />

1965 in Wien in der israelischen<br />

Botschaft statt.<br />

Mein erster Eindruck,<br />

Bartoszewskis unglaubliche<br />

Bescheidenheit, festigte<br />

sich bei den Interviews<br />

mit ihm, aber auch<br />

in den folgenden Jahren,<br />

als er in Deutschland als<br />

„Vater der deutsch-polnischen<br />

Versöhnung und<br />

Verständigung“ gefeiert<br />

und herumgereicht<br />

wurde. Sein inniges Bemühen<br />

um Verständigung<br />

verzichtete aber nie<br />

darauf, Verbrechen, Unrecht,<br />

Täter, Mitschuldige<br />

und Mitläufer auf allen<br />

Seiten deutlich und differenziert<br />

zu benennen.<br />

Auch als er viel später als<br />

polnischer Botschafter und zweimaliger<br />

Außenminister nach Wien kam**, hatte er<br />

sich durch seine Prominenz menschlich<br />

nicht verändert: Er grüßte Menschen, die<br />

er aus früheren Zeiten kannte, und fand<br />

immer ein paar Minuten für sie.<br />

Eine ganze Reihe seiner seit Anfang<br />

der 1960er-Jahre publizierten Bücher,<br />

die sich mit der Erfahrung nationalsozialistischer<br />

Besatzungspolitik in Polen,<br />

der Schoah und der Nachkriegsgeschichte<br />

seines Landes, der polnisch-jüdischen sowie<br />

deutsch-polnischen Verständigung<br />

befassen, sind auch auf Deutsch erschienen.<br />

Doch nirgends hat er so ausführlich<br />

und eindringlich Auskunft gegeben<br />

über die Urerfahrung, die seinem Engagement<br />

zugrunde lag – seine Haftzeit<br />

im KZ Auschwitz –, wie in Mein Auschwitz<br />

und in Uns eint vergossenes Blut. Seit 1990<br />

bis wenige Jahre vor seinem Tod saß Bartoszewski<br />

im Vorstand des Internationalen<br />

Auschwitzkomitees. Er war für dieses<br />

Amt vorgeschlagen worden, weil er das<br />

Vertrauen von polnischen und jüdischen<br />

Überlebenden gleichermaßen genoss.<br />

Sein besonderes Anliegen bestand auch<br />

darin, die „Opferkonkurrenz“ bekämpfen:<br />

„Der Mensch hat die Tendenz, sich<br />

nur an das eigene Martyrium zu erinnern.<br />

Aber man muss doch auch an das Martyrium<br />

der anderen erinnern. Nicht alle,<br />

Die verstohlenen Treffen mit dem Professor.<br />

Das unschätzbare Privileg, diesen außergewöhnlichen<br />

Menschen kennenzulernen,<br />

hatte ich Mitte der 1980er-Jahre in einem<br />

Wiener Kaffeehaus gegenüber vom Stephansdom.<br />

Dr. Kurt Skalnik, Chefredakteur<br />

der katholischen Wochenzeitung Die<br />

Furche, hatte das Treffen arrangiert. Skalnik,<br />

der von 1974 bis 1994 auch Präsident<br />

des Österreichischen Presseclubs Concordia<br />

war, kannte Bartoszewski schon<br />

seit den 1960er-Jahren, weil er zahlreiche<br />

katholische Oppositionelle und Publizisten<br />

in den osteuropäischen kommunistischen<br />

Staaten unterstützte: Er half bei der<br />

Veröffentlichung von Samisdat-Texten im<br />

Westen. Für seinen Freund Bartoszewski<br />

übermittelte er sogar Nachrichten an Radio<br />

Free Europe.<br />

Kurt Skalnik bemühte sich, seinem<br />

Freund und dessen lebensrettenden Taten<br />

in Österreich und Deutschland größere<br />

mediale Aufmerksamkeit und öffentliche<br />

Anerkennung zu verschaffen.<br />

Denn obwohl Bartoszewski in der zweiten<br />

Jahreshälfte 1963 nach langem Bemühen<br />

einen polnischen Reisepass erhielt,<br />

war seine Geschichte nicht ausreichend<br />

bekannt. Und das, obwohl ihn seine allererste<br />

Reise nach Israel führte: Dort<br />

traf er ausgewanderte Freunde, jüdische<br />

Polen, Überlebende des Warschauer Ghetvorsichtig<br />

ausgedrückt, verstehen das.<br />

Dann beginnt ein Wettlauf des Leids, der<br />

sinnlos ist. Vollkommen sinnlos.“<br />

Als gefragter Diskussionspartner und<br />

Vortragsredner prangerte er laufend<br />

wortgewaltig und bis zu seinem letzten<br />

Auftritt den aufkeimenden Antisemitismus<br />

in Polen wie auch weltweit an. Bei<br />

aller Ernsthaftigkeit konnte er selbstironisch<br />

und sehr humorvoll sein. Aber das<br />

Beeindruckendste an diesem auch im<br />

körperlichen Sinne großen Mann, war<br />

nicht nur sein widerständiger Geist gegen<br />

jede Form der Unterdrückung: Noch<br />

größer war sein Widerstand gegen Gleichgültigkeit<br />

und deren Duldung: „Für denkende<br />

Menschen, insbesondere für jene,<br />

die an G-tt glauben, führt kein Weg an der<br />

Tatsache vorbei, dass zu den Schuldigen<br />

nicht nur die unmittelbaren Täter gehören,<br />

sondern auch die Gleichgültigen.<br />

Denn Gleichgültigkeit gegenüber dem<br />

Bösen ist die größte Sünde.“<br />

Wie erschreckend aktuell Władysław<br />

Bartoszewskis Worte besonders heute<br />

sind, zeigt sich an jenen Gedanken, die er<br />

im österreichischen Parlament am 5. Mai<br />

2010 zum Gedenktag der Befreiung des<br />

KZ Mauthausen ausdrückte: „Wenn einer<br />

dem unvorstellbaren Bild von Leichenhaufen<br />

und Bergen menschlicher Asche<br />

gegenübersteht, dann empfindet er keine<br />

Freude über die Befreiung. Er empfindet<br />

nur Trauer, denn er hat das Werk der<br />

Bestie im Menschen gesehen, auch wenn<br />

die Bestie mit dem Aufwand von Millionen<br />

Leben zerschlagen werden konnte.<br />

Er empfindet Schmerz. Und er empfindet<br />

schließlich Angst, ob diese Bestie je gänzlich<br />

aus der menschlichen Seele zu entwurzeln,<br />

zu verbannen und auszurotten<br />

ist. Oder ob sie ungeahnt in dunklen Ideenwelten<br />

so mancher braver Bürger überdauert.“<br />

* Diese Zahlen sind nicht unbedingt ein<br />

Maßstab für die tatsächliche Anzahl von<br />

Rettern in jedem Land, sondern reflektieren<br />

die Fälle, von denen Yad Vashem in Kenntnis<br />

gesetzt wurde. Polen führt die weltweite<br />

Liste aus 51 Ländern an; die Niederlande<br />

stehen an 2. Stelle mit 5.910; in Österreich<br />

gib es 113 Ausgezeichnete.<br />

** Von 1990 bis 1995 war er polnischer<br />

Botschafter in Wien, ernannt von Präsident<br />

Lech Wałęsa. 1995 übernahm er in der<br />

Regierung von Józef Oleksy das Amt des<br />

Außenministers, trat jedoch zurück, als<br />

Aleksander Kwaśniewski zum Präsidenten<br />

gewählt wurde. Von Juni 2000 bis September<br />

2001 war er erneut Außenminister<br />

Polens, diesmal in der Regierung von Jerzy<br />

Buzek.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

marz_22.indb 21 07.03.22 11:48


INTERVIEW MIT BENJAMIN VYSSOKI <br />

„Für mich ist die ESRA<br />

so etwas wie ein Bruder“<br />

Seit Anfang Februar ist Benjamin Vyssoki neuer Ärztlicher<br />

Leiter des Psychosozialen Zentrums ESRA in Wien,<br />

das sein Vater David Vyssoki 1994 mit begründete und bis zu<br />

seinem Tod 2021 nachhaltig prägte. Es war, so der Sohn im<br />

Rückblick, Vaters drittes Kind, das nun vor neuen Entwicklungsschritten<br />

steht. Interview: Anita Pollak.<br />

WINA: Mit Ihrem Vater habe ich hier zuletzt 2015 ein Gespräch<br />

geführt, in dem es im Wesentlichen um vererbte<br />

Traumata, vor allem spezifisch jüdische Traumata ging. Genauso<br />

wie Ihr Vater sind Sie Psychiater geworden und sitzen<br />

nun als Primar an seinem einstigen Arbeitsplatz. Welchen<br />

Anteil hat an diesem Karriereweg vererbte Neigung oder vererbtes<br />

Trauma?<br />

Benjamin Vyssoki: Dass bei der Familie Vyssoki bezüglich<br />

meiner Berufswahl und letztlich jetzt auch<br />

beim Entschluss, bei ESRA zu arbeiten, das Thema<br />

Trauma entscheidend war, glaube ich nicht. Für<br />

mich war eher das Thema Identität und die emotionale<br />

Verbundenheit zum Judentum und zur jüdischen<br />

Gemeinde in Wien ausschlaggebend. Und der große<br />

Wunsch, innerhalb der Gemeinde weiterhelfen und<br />

unterstützen zu können.<br />

Ihr Vater hatte eine schwierige Kindheit und Jugend. Das hat<br />

ihn und seine Berufswahl sicherlich beeinflusst. Hat Sie Ihr<br />

eigenes Aufwachsen als Angehöriger der so genannten „Dritten<br />

Generation“ geprägt oder belastet?<br />

Da kann ich mich glücklich schätzen, denn meinem<br />

Vater ist es trotz der stattgefundenen Traumatisierungen<br />

– er ist als Vollwaise nach Wien gekommen und ein<br />

Großteil seiner Familie ist in der Schoah umgekommen<br />

– gelungen, dieses Trauma zu bearbeiten und im<br />

Rahmen seiner Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie<br />

in der Selbsterfahrung zu reflektieren und so gut<br />

wie möglich zu verarbeiten.<br />

Prof. Dr. Benjamin Vyssoki hat in Wien und Berlin<br />

Medizin studiert sowie eine Facharztausbildung<br />

für Psychiatrie und Psychotherapie absolviert. Er ist<br />

assoziierter Professor an der Universität Wien.<br />

Begünstigt Ihr diesbezüglicher Background auch Ihr Verständnis<br />

für die spezifische Klientel der ESRA?<br />

Da ist auf jeden Fall meine Familiengeschichte prägend<br />

gewesen und davon ausgehend ein Mehr an<br />

Empathie und Einfühlungsvermögen für Menschen,<br />

denen vor ein oder zwei Generationen Ähnliches widerfahren<br />

ist. Das Thema transgenerationales Trauma<br />

wird ESRA als Trauma-Kompetenzzentrum immer<br />

begleiten, aber die Bedürfnisse der Wiener jüdischen<br />

Gemeinde im 21. Jahrhundert sind neue, auch andere.<br />

Welche wären das, und in welche Richtung soll sich ESRA<br />

bewegen?<br />

© Ouriel Morgensztern<br />

22 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 22 07.03.22 11:49


Wegweisendes Pionierprojekt<br />

© Ouriel Morgensztern<br />

ESRA hat die letzten zweieinhalb Jahrzehnte viel<br />

Großartiges geleistet, und der nächste Entwicklungsschritt<br />

soll ESRA auch gut ins 21. Jahrhundert bringen.<br />

Es gilt, Gutes zu bewahren und Dinge, die noch<br />

nicht ausreichend den Wünschen und Erfordernissen<br />

der Gemeindemitglieder entsprechen, neu aufzustellen.<br />

Als das psychosoziale Zentrum der jüdischen<br />

Gemeinde in Wien arbeiten wir Schulter an Schulter<br />

mit der IKG, mit dem Ziel, unsere Kompetenzen<br />

auszubauen, so den seit vielen Jahren erfolgreichen<br />

Konsiliardienst mit dem Maimonides-Zentrum, der<br />

für die älteren Menschen der Gemeinde sehr wichtig<br />

ist, um in der letzten Lebensphase ein möglichst<br />

hohes Maß an Lebensqualität zu sichern und Menschen<br />

umfangreich betreuen zu können. Das zweite<br />

Thema betrifft Kinder und Jugendliche, da bei dieser<br />

Altersgruppe die psychosoziale Belastung in den letzten<br />

zwei Jahren coronabedingt massiv zugenommen<br />

hat. Wir haben sehr erfahrene Therapeut:innen und<br />

Psycholog:innen, die auch in den Schulen tätig sind.<br />

Drittens wollen wir die aufsuchende Tätigkeit verstärken.<br />

Mit unserem Mobile-Outreach-Team können<br />

wir vermehrt Menschen mit psychischen Belastungen,<br />

die nicht zu ESRA kommen, daheim aufsuchen.<br />

Weiters haben wir ein hoch professionelles Team von<br />

Sozialarbeiter:innen, das in enger Zusammenarbeit<br />

mit der IKG Menschen beratend unterstützen kann.<br />

Was hat Sie nach einer akademischen Karriere an der Med-<br />

Uni Wien an dieser neuen Position gereizt?<br />

Ich war zwölf Jahre am AKH und bin 2020 zum Psychosozialen<br />

Dienst gegangen. Die ESRA als niederschwellige<br />

psychiatrische Ambulanz kann man auch als jüdischen<br />

PSD verstehen. Ich bin hierhergekommen, weil<br />

es notwendig war. ESRA ist in den letzten Jahren ein<br />

wenig in Turbulenzen geraten, und da habe ich die<br />

innere Verpflichtung gespürt, einen bestmöglichen<br />

Beitrag anzubieten.<br />

Sie haben die ärztliche Leitung in einer schwierigen Zeit übernommen.<br />

Vieles, das früher im direkten, spontanen und persönlichen<br />

Kontakt möglich war, geht jetzt nur sehr schwer.<br />

Wie kann man darauf reagieren?<br />

Da möchte ich auf das Mobile-Outreach-Team verweisen,<br />

da es jetzt umso wichtiger ist, unbürokratisch<br />

und niederschwellig Hilfe und Unterstützung<br />

anbieten zu können. Für uns alle sind das belastende<br />

Monate, die uns viel abverlangen. Aber es sind hier<br />

tolle Kolleg:innen tätig. Für mich ist es eine große<br />

Freude, mit so vielen klugen und engagierten Menschen<br />

arbeiten zu können, und ich freue mich auf<br />

die vielen gemeinsamen Jahre.<br />

„Das Thema<br />

transgenerationales<br />

Trauma wird<br />

ESRA als<br />

Traumakompetenz-Zentrum<br />

immer<br />

begleiten,<br />

aber die Bedürfnisse<br />

der<br />

Wiener jüdischen<br />

Gemeinde<br />

im 21.<br />

Jahrhundert<br />

sind neue.“<br />

Benjamin Vyssoki<br />

In welcher Weise beeinträchtigt die Pandemie, die Situation<br />

der vielen Lockdowns, insbesondere die älteren Patienten?<br />

Sind bei Überlebenden des Holocaust Retraumatisierungen<br />

zu beobachten?<br />

Es ist gut untersucht, dass psychisch ohnehin belastete<br />

Menschen in der Pandemiezeit noch mehr<br />

belastet sind. Dass Traumata aus der Vergangenheit<br />

durch das Gefühl, nicht mehr sicher zu sein oder das<br />

Haus nicht mehr verlassen zu dürfen, belastend sein<br />

können, ist zu erwarten. Deshalb ist gerade jetzt für<br />

diese erste Generation die psychosoziale Unterstützung<br />

so wichtig.<br />

ESRA war anfänglich als Institution einzigartig, wie sieht<br />

das heute aus?<br />

Ja, aber mittlerweile hat es weltweit viele Nachahmer<br />

gefunden, und daher ist es auch schön, dass wir<br />

uns nun mit anderen Jewish Mental Health Centers<br />

vernetzen möchten. Außerdem wollen wir uns in<br />

Richtung Gesundheitsförderung entwickeln, hin<br />

zum Stärkenden, zum Fördern von Resilienz und<br />

Potenzialen. Das heißt, man soll nicht nur zu ESRA<br />

kommen, wenn es einem schlecht geht, das ist besonders<br />

für Kinder und Jugendliche so wichtig und<br />

entspricht auch dem Zeitgeist. Weg von der Krankenanstalt<br />

zu einer „Gesundenanstalt“, einfach das<br />

Herz der jüdischen Gemeinde für alle psychosozialen<br />

Erfordernisse. Die jüdische Gemeinde ist auf Grund<br />

ihrer Heterogenität ein Mikrokosmos unterschiedlicher<br />

Bedürfnisse, auf die eingegangen werden muss.<br />

Alle haben das gleiche Anrecht auf die bestmögliche<br />

Versorgung. Insbesondere ist eine Kernaufgabe, dass<br />

man Menschen dort behandelt, wo sie leben, also<br />

dieses „mobile outreach“.<br />

Auch ihr Bruder Daniel ist als Psychotherapeut einschlägig<br />

und hier vor Ort tätig. Eine weitere familiäre Prägung?<br />

Unser Vater hat ESRA von der Wichtigkeit und Wertigkeit<br />

wie ein drittes Kind emotional besetzt, und<br />

für mich ist ESRA auch schon so etwas wie ein Bruder,<br />

mit dem ich aufgewachsen bin. Ich kann mich<br />

noch gut an Papas Stolz erinnern, als das neue ESRA,<br />

in dem wir uns ja noch immer befinden, eröffnet<br />

wurde. Es war damals sicher eines der modernsten<br />

psychosozialen Einrichtungen und ein wegweisendes<br />

Pionierprojekt. Meine Aufgabe sehe ich darin,<br />

dieses Projekt weiterzuentwickeln und weiter<br />

auszubauen, denn hie und da hat sich schon eine<br />

Spur Staub angesetzt. Dabei können wir insgesamt<br />

auf sehr viel Unterstützung zurückgreifen, weil allen<br />

Handelnden die Wichtigkeit von ESRA sehr bewusst<br />

ist.<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

marz_22.indb 23 07.03.22 11:49


Romantischer Trauungsort<br />

Habsburger, Cobra<br />

und russische Juden<br />

Das Jagdschloss Schönau im Süden von Wien hat eine bewegte Geschichte.<br />

Heute wird es für Hochzeitsfeiern genutzt, auch mit koscherem Catering.<br />

Text und Foto: Reinhard Engel<br />

Michael Kremsner und Joshua<br />

Elbaranes stehen am<br />

romantischen Teich mit<br />

dem Jagdschloss im Hintergrund.<br />

Hier kann die Braut in einem<br />

Kahn am Steg für den Fototermin anlegen.<br />

Gefeiert wird dann entweder im Ballsaal<br />

oder – in der warmen Jahreszeit – auch in<br />

einem englisch anmutenden Zelt im riesigen<br />

Park.<br />

Kremsner, ein aus Tirol stammender<br />

Unternehmensberater mit Büros in<br />

Frankfurt und Wien, hat das Anwesen<br />

in Schönau an der Triesting aus seinem<br />

Märchenschlaf wachgeküsst. Er kaufte<br />

es, ziemlich verwahrlost wie der überwucherte<br />

Park rundum, im Jahr 2005. „Für<br />

ein Privathaus ist es zu groß, für ein kommerziell<br />

betriebenes Hotel zu klein. Zubauen<br />

durfte man nicht, dafür gab es<br />

keine Baugenehmigung, alles steht unter<br />

Denkmalschutz.“<br />

Also überlegte sich Kremsner, dessen<br />

Familienstiftung das Schloss gehört, ein<br />

Konzept. Zehn geschmackvolle Appartements<br />

oder Suiten wurden installiert,<br />

aber für einen durchgehenden Betrieb<br />

wäre das dennoch nicht genug. Angeboten<br />

wird daher an Wochenenden, das ganze<br />

Haus an Hochzeitsgesellschaften zu vermieten,<br />

unter der Woche immer wieder an<br />

Unternehmen für Seminare oder Firmenfeiern.<br />

„Wir liegen etwa 30 Autominuten<br />

südlich von Wien“, erläutert der Schlossherr,<br />

„bei Hochzeiten wohnt die engere<br />

Familie hier, die übrigen Gäste können<br />

mit Kleinbussen in Hotels ins nahe Baden<br />

gebracht werden.“<br />

Kremsner arbeitet mit zwei Caterern<br />

zusammen. Einer davon ist der gebürtige<br />

Israeli Joshua Elbaranes, den er zufällig<br />

kennengelernt hatte. Seine Frau informierte<br />

ihn über die Geschichte des Schlos-<br />

ses, die auch einen jüdischen Aspekt hat,<br />

„und ich habe mir gedacht, das könnte gut<br />

passen“. Elbaranes verfügt über reichliche<br />

Erfahrung mit großen jüdischen Feiern in<br />

Wien, sei es in Hotels oder Palais, und er<br />

kommt mit koscherem Geschirr und seiner<br />

Crew angereist, inklusive kontrollierendem<br />

Maschgiach. „Den Rabbiner bringen<br />

ohnehin die jeweiligen Brautleute.“<br />

Das Essen, das er anbietet, ist moderne israelisch-mediterrane<br />

Küche, „aber wenn<br />

jemand etwas typisch Österreichisches<br />

will, dann kann ich das schon auch.“<br />

Worin besteht der jüdische Bezug des<br />

adeligen Jagdschlosses, den Elbaranes angesprochen<br />

hat?<br />

Schönau war zwischen 1968 und 1973<br />

ein Durchgangslager für jüdische Emigranten<br />

aus der damaligen Sowjetunion,<br />

und das in großem Umfang. Insgesamt<br />

70.000 Männer, Frauen und Kinder ver-<br />

Joshua Elbaranes und<br />

Michael Kremsner: der<br />

israelische Caterer für jüdische<br />

Feiern und der Schlossherr.<br />

24 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 24 07.03.22 11:49


Lager für jüdische Emigranten<br />

Elbaranes verfügt<br />

über reichliche Erfahrung<br />

mit großen<br />

jüdischen Feiern in<br />

Wien. Er kommt mit<br />

koscherem Geschirr<br />

und seiner Crew angereist,<br />

inklusive<br />

kontrollierendem<br />

Maschgiach.<br />

Wasserschloss<br />

Schönau. Der historische<br />

Stich zeigt einen Blick auf<br />

das Vorgängerschloss<br />

auf diesem Grund.<br />

brachten meist wenige Tage dort, ehe sie<br />

vom nahen Flughafen Schwechat aus nach<br />

Israel weiterflogen. Angekommen waren<br />

sie per Zug.<br />

Einen solchen Zug überfiel am 28. September<br />

1973, dem jüdischen Neujahrstag<br />

Rosh ha-Schana, ein palästinensisches<br />

Kommando und nahm<br />

mehrere Emigranten und<br />

einen österreichischen<br />

Zöllner als Geiseln. Sie<br />

forderten von der Regierung<br />

ultimativ die Schließung<br />

von Schönau.<br />

Bundeskanzler Bruno<br />

Kreisky, der verhindern<br />

wollte, dass den Geiseln<br />

etwas passiert, gab<br />

schnell seine Zusage,<br />

nach mehrstündigen<br />

Verhandlungen auch für<br />

die ungehinderte Ausreise<br />

der Terroristen.<br />

Die israelische Ministerpräsidentin<br />

Golda Meir<br />

reiste drei Tage später<br />

nach Wien und forderte<br />

von Kreisky die Rücknahme<br />

dieser Entscheidung,<br />

stieß bei ihm aber auf taube Ohren.<br />

Er gab an, es habe schon früher Terrordrohungen<br />

gegen das Lager Schönau gegeben,<br />

die Sicherheitslage sei zu prekär.<br />

Kreisky behinderte dennoch nicht den<br />

weiteren Fluss sowjetischer jüdischer<br />

Menschen durch Österreich. Zunächst<br />

wurde die Babenberger-Kaserne in Wöllersdorf<br />

unter der Ägide des Roten Kreuzes<br />

„für Flüchtlinge und andere Durchreisende“<br />

geöffnet, später ging dann – als<br />

dauerhafte Einrichtung – ein neues Transitlager<br />

in Wien Simmering in Betrieb.<br />

Schönau hatte nie der Regierung gehört,<br />

sie hatte es nur vom Pächter des<br />

Anwesens, einem Holländer, gemietet.<br />

Als unmittelbare Folge der Geiselnahme<br />

wurde zunächst die niederösterreichische<br />

Polizei aufgerüstet, später ein Gendarmerieeinsatzkommando,<br />

genannt Cobra, gegründet.<br />

Dieses bezog das Schloss als Einsatzzentrale,<br />

baute für seine Zwecke um,<br />

was gerade erlaubt war, inklusive hoher<br />

Funkantenne und Hubschrauberlandeplatz,<br />

im dicht bewaldeten Parkt wurde<br />

geübt. Nach dem Auszug der Spezialpolizisten<br />

im Jahr 1992 dämmerte Schönau<br />

Jahrzehnte dahin.<br />

Habsburger Jagdschloss. Errichtet hatte es<br />

einst ein Habsburger Erzherzog, Otto, ein<br />

Neffe von Kaiser Franz Joseph, im Jahr<br />

1895. Es war für die damalige Zeit ein relativ<br />

modernes Jagdschlösschen. Der 30<br />

Hektar große Park war freilich viel älter,<br />

hier gab es ab dem 11. Jahrhundert<br />

eine Burg, bei Türkeneinfällen suchte<br />

die rundum lebende Bevölkerung dort<br />

Schutz. Später stand dort ein Wasserschloss<br />

aus dem 17. Jahrhundert. Im Laufe<br />

der Jahrhunderte wechselte das Anwesen<br />

mehrmals die Besitzer. Dazu zählte etwa<br />

der Bruder Napoleon Bonapartes, Jerome.<br />

Das „neue“ Schloss bewohnte nach Erzherzog<br />

Otto Elisabeth Marie von Österreich,<br />

die so genannte „rote Erzherzogin“.<br />

Vom alten Wasserschloss gibt es nur<br />

mehr einige wenige Fundamente, neben<br />

dem heutigen Hochzeitsgebäude steht<br />

eine Villa, ebenfalls von Otto errichtet, in<br />

der sich eine Waldorfschule befindet. Und<br />

weiter hinten im Garten können Hausgäste<br />

noch in einer Grotte die Reste eines<br />

ehemaligen Freimaurertempels aus<br />

dem frühen 19. Jahrhundert besichtigen.<br />

Diesen hatte ein anderer Eigentümer von<br />

Wasserschloss und Park lange vor Otto angelegt,<br />

der Spitzenbeamte und Unternehmer<br />

Peter Freiherr von Braun.<br />

Braun war eine schillernde Persönlichkeit,<br />

zunächst Hofsekretär in Wien, dann<br />

Baumwoll- und Seidenfabrikant. Er holte<br />

für den Aufbau seiner Unternehmen eigens<br />

Spezialisten aus Lyon ins Land und<br />

erlangte damit beträchtlichen Wohlstand.<br />

Später wandte er sich der Kultur zu und<br />

arbeitete 13 Jahre lang als Theaterdirektor<br />

in Wien, sowohl des Hofburgtheaters<br />

wie auch des Theaters an der Wien. In seiner<br />

Direktion wurde Ludwig van Beethovens<br />

einzige Oper Fidelio am Theater an der<br />

Wien uraufgeführt – wenn auch zunächst<br />

ohne großen Erfolg.<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

marz_22.indb 25 07.03.22 11:49


MATOK & MAROR<br />

„das Mezzanin“: Sogar<br />

Snobs können hier einkehren<br />

Echtes Brasserie-Gefühl vermittelt das Restaurant im<br />

ehemaligen Hauptgebäude der CreditAnstalt am Schottentor<br />

Wenn man „das Mezzanin“ in der Schottengasse<br />

6–8 betritt, vermutet man<br />

beides nicht: eine hohe Wand, gepflastert<br />

mit lauter kleinen silbrig-glitzernden Safes,<br />

teils mit geöffneten Türen, teils verschlossen<br />

– und eine riesige Interspar-Einkaufsfläche<br />

gleich dahinter. Vor allem deshalb, weil<br />

das Mezzanin die Ruhe und Gemütlichkeit<br />

einer modernen Brasserie mit schicken Möbeln,<br />

vielen Grünpflanzen und geschmackvollen<br />

Leuchten (eher eine Seltenheit in Wiener<br />

Restaurants) verbindet.<br />

Mezzanin ist ein alter wienerischer Begriff<br />

für einen Zwischenstock, eine Art Beletage.<br />

Das neue Restaurant befindet sich<br />

in der einstigen Zentrale des Creditanstalt-<br />

Bankvereins am Schottentor: Man betritt es<br />

durch das Haupttor, aber ein Stück weit vor<br />

dem Supermarkt-Eingang.<br />

„Das historische Gebäude ist denkmalgeschützt,<br />

und entsprechend eingeschränkt<br />

waren wir bei der Küchenplanung und -einrichtung“,<br />

berichten unisono Küchenchef<br />

Andreas Truppe und Restaurantleiter Alfred<br />

Lehner, die für das À-la-carte-Konzept des<br />

Marktrestaurants verantwortlich zeichnen.<br />

Andreas Truppe, der Erfahrungen aus<br />

Wiens Topgastronomie mitbringt und zuletzt<br />

F&B-Chef im 25hours Hotel war, sieht<br />

aber auch viel Positives: „Im Gegenzug haben<br />

wir den Vorteil eines einzigartigen Ambientes<br />

und zusätzlich die Zusammenarbeit mit<br />

dem Interspar-Markt, der ein riesiges Sortiment<br />

führt.“ Das Konzept wurde sehr behutsam<br />

abgestimmt und umgesetzt: „In der<br />

historischen Aura des Hauses am Schottentor<br />

durfte kein Selbstbedienungsrestaurant entstehen“,<br />

erzählt Restaurantleiter Lehner dem<br />

Gourmet-Magazin Falstaff. „Unser Anspruch<br />

ist eine gehobene Küche, ohne dabei Schickimicki<br />

zu sein – und das von früh bis spät.“<br />

Das nicht-koschere Restaurant öffnet bereits<br />

um 7:30 Uhr mit Frühstück; den ganzen<br />

Tag über werden die Barsnacks Mezzaninis<br />

angeboten. Für den Business Lunch<br />

von 11:30 bis 14 Uhr stehen wechselnde Mittagsgerichte<br />

auf der Karte: Nur Hauptspeise<br />

„In der historischen<br />

Aura des Hauses am<br />

Schottentor durfte<br />

kein Selbstbedienungsrestaurant<br />

entstehen.“<br />

Alfred Lehner,<br />

Restaurantleiter<br />

Kleine pikante<br />

Köstlichkeiten.<br />

Ofen-Rote-Rübensalat<br />

mit Erdäpfel, Sellerie<br />

und Sesam.<br />

WINA- TIPP<br />

DAS MEZZANIN<br />

Restaurant & Bar, Interspar,<br />

Schottengasse 6–8, 1010 Wien<br />

+43/(0)1/532 387 18 50<br />

dasmezzanin.at<br />

um 12 €, Hauptspeise mit<br />

Tagessuppe oder kleiner<br />

Vorspeise um 15 €. Bereits<br />

ab 17 Uhr kann man<br />

aus den Abendempfehlungen<br />

wählen. An<br />

Sonn- und Feiertagen<br />

gibt es von 9 bis 18 Uhr<br />

Flying Brunch, bei dem<br />

ein DJ auflegt.<br />

Der Flying Brunch<br />

zum Wochenabschluss<br />

wird besonders zelebriert:<br />

Ganztägig findet<br />

die Verwöhnung für 28 € pro Person (Kinder<br />

bis sechs Jahre gratis; von 7–14 Jahre: 14<br />

€) statt. Inklusive einer Kaffeespezialität,<br />

einem BIOteaque-Tee oder einer heißen<br />

Schokolade sowie einem Glas Prosecco<br />

findet man Heumilch-Emmentaler,<br />

Gervais mit frischem Schnittlauch,<br />

Grünkernaufstrich, Bio-Gebäck-Sackerl,<br />

Butter, Ischler-Marmelade eingestellt. Das<br />

alles bietet man auch als vegane oder vegetarische<br />

Variante an. Aber dann geht’s<br />

erst richtig los: Laufend werden kalte und<br />

warme Köstlichkeiten – verschiedene Eierspeisvariationen,<br />

warme und kalte Fischgerichte,<br />

vegetarische Spezialitäten und hausgemachte<br />

süße Gaumenfreuden serviert.<br />

Auch für den Business Lunch preist man<br />

die täglich frischen Zutaten von lokalen Lieferpartnern<br />

an und verweist auf die enge Verknüpfung<br />

mit den Angeboten im Markt daneben.<br />

Kleine pikante Köstlichkeiten gibt es<br />

als Mezzaninis von 11:30 bis 22 Uhr, zum Beispiel<br />

Ofen-Rote-Rübensalat mit Erdäpfel, Sellerie<br />

und Sesam um 7 €; Blumauer Spitzpaprika<br />

mit Ziegenkäse, Hollersenf und Walnüsse<br />

auch um 7 € oder einen Saiblingstrudel mit<br />

Liebstöckel und Chili-Mayonnaise um 9 €.<br />

Bei den Hauptspeisen ist das Lachsforellenfilet<br />

vom Gut Dornau mit Waldstaudenkernrisotto<br />

und jungem Mangold zu empfehlen<br />

(19 €). Der Besuch des Mezzanins lohnt sich,<br />

sogar Snobs können hier voll auf ihre Rechnung<br />

kommen. <br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

26 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 26 07.03.22 11:49


WINAKOCHT<br />

Wie bringt man Tradition und Vorlieben<br />

unter einen Haman-Hut, …<br />

… und gibt es eine koschere Austern-Alternative? Die Wiener Küche steckt voller<br />

köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Koch-<br />

Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Servus <strong>wina</strong>,<br />

ein Purim-Fest ohne Hamantaschen ist für mich<br />

undenkbar. Leider verträgt meine Tochter keinen<br />

Mohn und ist gegen Nüsse allergisch. Schokoladenfüllung?<br />

Ist meinem Mann zu süß. Habt<br />

ihr eine Rezeptvariante, mit der ich mich nicht zu<br />

weit von der Tradition entferne? Simone K.<br />

Ja, es ist manchmal gar nicht so einfach,<br />

Tradition, Vorlieben und Unverträglichkeiten<br />

unter einen Haman-Hut zu bringen<br />

– auch wenn die dreieckige Kopfbedeckung<br />

des Bösewichts nur eine von vielen Erklärungen<br />

ist, wie die Taschen zu ihrer traditionellen<br />

Form kamen. Zum Glück gibt<br />

es viele Varianten des Gebäcks: Man kann<br />

sie aus Hefeteig, Blätterteig oder gewöhnlichem<br />

Keksteig herstellen, und auch die<br />

Füllungen lassen sich beliebig kombinieren<br />

– wenn auch Pflaumenmus (Powidl),<br />

Mohn und Nüsse die verbreitetsten „Tascheninhalte“<br />

sind, in Anlehnung an Esthers<br />

vegetarische Ernährung in Ahasveros<br />

Palast. Sie soll von Samen, Nüssen und<br />

Hülsenfrüchten gelebt haben, um unerkannt<br />

koscher zu essen.<br />

Unser Vorschlag, der Ihrer Familie und<br />

sicher auch der Erinnerung an Esther kulinarische<br />

Rechnung trägt: Hamantaschen<br />

mit Frischkäse und Heidelbeergelee.<br />

Diese Füllung ist eine nicht zu süße Überraschung,<br />

die – bei sorgfältiger Faltung –<br />

köstlich symbolisiert, dass das Wunder von<br />

Purim ein verborgenes ist. Chag Sameach!<br />

Liebe Redaktion,<br />

ein guter Freund liebt Austern. Ich würde ihm<br />

gerne ein vergleichbares, aber koscheres Geschmackserlebnis<br />

bereiten, wenn er mal wieder<br />

zum Essen kommt. Habt ihr eine Idee?<br />

Hannes S.<br />

Derart umsichtige Gastgeber unterstützen<br />

wir selbstverständlich gerne. Tatsächlich gibt es eine alte,<br />

leider in Vergessenheit geratene Pflanze, deren süßlich-nussiges<br />

HAMANTASCHEN MIT FRISCH-<br />

KÄSE & HEIDELBEERGELEE<br />

ZUTATEN für etwa 20 Stück<br />

Für den Teig:<br />

90 g Vollkornmehl, 230 g Mehl,<br />

1 TL Backpulver, 1 Prise Salz, 1/2 TL Zimt<br />

50 ml Rapsöl, 130 g Zucker, 2 Eier,<br />

Zesten einer halben Biozitrone<br />

Für die Füllung:<br />

100 g Frischkäse, 4 EL Heidelbeergelee,<br />

ein verquirltes Ei, evtl. brauner Zucker<br />

zum Bestreuen<br />

ZUBEREITUNG<br />

Vollkornmehl, Mehl, Backpulver, Salz und<br />

Zimt vermischen. In einer zweiten Schüssel<br />

Öl und Zucker verrühren, Eier und Zitronenzeste<br />

zugeben. Mit der Mehlmischung<br />

zu einem weichen Teig verkneten. Teig zu<br />

einer Platte drücken und in Frischhaltefolie<br />

einschlagen, über Nacht kühlstellen.<br />

Backrohr auf 180 °C vorheizen, ein Blech mit<br />

Backpapier auslegen. Teig auf einer bemehlten<br />

Arbeitsfläche ca. 3 mm dick ausrollen. Mit<br />

einem Ausstecher oder Glas Kreise (ca. 6 cm<br />

Durchmesser) ausstechen. Kreise mit daumenbreitem<br />

Abstand auf dem Blech verteilen.<br />

Auf jeden Kreis mittig einen Teelöffel Frischkäse<br />

und etwas Heidelbeergelee setzen. Kreisränder<br />

mit dem verquirlten Ei bestreichen und<br />

dann dreieckig nach innen klappen, um die Hamantaschen<br />

zu schließen. Ecken gut zusammendrücken<br />

und die Ränder außen ebenfalls<br />

mit verquirltem Ei bestreichen. Gegebenenfalls<br />

mit braunem Zucker bestreuen. 12 bis 15 Minuten<br />

goldbraun backen, aus dem Rohr nehmen<br />

und abkühlen lassen.<br />

Aroma in Geschmack und Geruch an Austern<br />

erinnert und in England deshalb auch<br />

„vegetable oyster“ genannt wird. Beim gut<br />

sortierte Gemüsehändler Ihres Vertrauens<br />

sollten Sie jedoch nach Hafer oder Weißwurzel<br />

fragen, so heißt das Feinschmeckergemüse<br />

bei uns.<br />

Es kann ähnlich zubereitet werden wie<br />

Schwarzwurzel. Sie können es zum Beispiel<br />

in Gemüsebrühe garen (ca. 15 Minuten)<br />

oder in Scheiben geschnitten in<br />

der Pfanne anbraten. Tipp: Die Pfahlwurzel<br />

enthält – ähnlich wie der Löwenzahn<br />

– klebrigen Milchsaft, der beim Schälen<br />

Hände und Kleidung braun verfärbt. Am<br />

besten schälen Sie sie unter Wasser oder<br />

tragen Handschuhe. Dass sich die Wurzeln<br />

selbst nach dem Schälen unschön<br />

verfärben, verhindern Sie durch Einlegen<br />

in Essigwasser.<br />

Die Wildpflanze aus dem Mittelmeerraum<br />

wurde schon von den Römern als<br />

Gartengemüse kultiviert. Mit ihnen gelangte<br />

es nach Mitteleuropa und gehörte<br />

im 16. und 17. Jahrhundert zum typischen<br />

Bauerngartenbestand. Im 18. Jahrhundert<br />

geriet die Haferwurzel dann fast gänzlich<br />

in Vergessenheit. Leider. Denn die sie ist<br />

nicht nur köstlich, sondern auch gesund.<br />

Sie liefert Proteine, Kalzium, Kalium,<br />

Magnesium sowie Vitamine der B-Gruppe.<br />

In der Volksheilkunde gilt die Haferwurzel<br />

als harntreibend, blutreinigend<br />

und krampflösend. Auch bei Bluthochdruck<br />

und Diabetes wird sie empfohlen.<br />

Im Mittelalter nutzte man sie bei Leberschwäche,<br />

Nierenerkrankungen und als<br />

Stärkungsmittel für „Schwindsüchtige<br />

und Ausgezehrte“.<br />

Mit der Essenseinladung sollten Sie<br />

sich übrigens noch etwas gedulden. Theoretisch<br />

können die im Frühling des Vorjahres<br />

gesäten winterharte Wurzeln zwar<br />

bis zum März des Folgejahres geerntet<br />

werden, doch sie verholzen mit dem Alter. Warten Sie am besten<br />

bis zur nächsten Ernte der neuen Generation im Herbst.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at 27<br />

marz_22.indb 27 07.03.22 11:49


Aus dem 3-D-Drucker<br />

Steaks<br />

OHNE KÜHE<br />

Israelische Unternehmen zählen zu den<br />

globalen Innovatoren, was die Entwicklung<br />

von künstlichem Fleisch betrifft. Darunter<br />

sind zahlreiche kreative Start-ups sowie<br />

bereits erste industrielle Produzenten.<br />

Von Reinhard Engel<br />

chengrößen wie der börsennotierte Lebensmittelkonzern<br />

ADM oder Tyson, der<br />

ebenfalls an der Börse handelbare weltweit<br />

größte Vermarkter von Hähnchen-,<br />

Rinder- und Schweinefleisch. Damit geht<br />

es nun bereits um knapp kalkulierte großindustrielle<br />

Produktion, nicht mehr bloß<br />

um exorbitant teure innovative Testhäppchen<br />

im Labor.<br />

Wer ist Future Meat? Gegründet wurde<br />

es 2018 gemeinsam mit anderen von Yaakov<br />

Nahmias, einem Professor für Biotechnologie<br />

an der Hebrew Universität von<br />

Jerusalem. Er ist auch heute Chief Technology<br />

Officer des Unternehmens. Im zweiten<br />

Jahr gelang es dem Start-up bereits, 14 Mio.<br />

Dollar für eine Testproduktionslinie im Labor<br />

aufzustellen, dann ging es – für derart<br />

komplexe Technologien – rasend schnell.<br />

Schon 2021 wurde eine erste Fleischfabrik<br />

in Israel eröffnet, die immerhin 500 Kilo-<br />

Da hat doch jemand richtig Angst.<br />

„Diese größte Investition bedeutet<br />

die Massenproduktion<br />

von künstlichem Fleisch“, las<br />

man im Jänner in der Fachzeitung Poultry<br />

World der amerikanischen Hühnerzüchter.<br />

Und tatsächlich war sowohl die Summe außergewöhnlich<br />

wie auch der Status der Kapitalgeber.<br />

Mit 347 Mio. US-Dollar gelang es<br />

dem israelischen Produzenten von künstlichem<br />

Hühnerfleisch, Future Meat Technologies,<br />

das bisher größte Investment in<br />

dieser jungen Branche für sich zu sichern.<br />

Fast noch wichtiger als der schiere Umfang<br />

des Risikokapitals für ein Unternehmen,<br />

das gerade einmal drei Jahre alt ist,<br />

scheint die Bonität und einschlägige Erfahrung<br />

der Investoren. Denn unter den<br />

Firmen, die sich diese Summe teilen, sind<br />

nicht nur die üblichen Pensionsfonds, sondern<br />

global aktive amerikanische Brangramm<br />

Hühnerfleisch pro Tag erzeugen<br />

kann. Mit der aktuellen großen Finanzierungsrunde<br />

wird Future Meat in den USA<br />

mehrere große Fabriken bauen, so Professor<br />

Nahmias stolz. Future Meat setzt für die<br />

Produktion Fermentierbehälter aus rostfreiem<br />

Stahl ein, nicht unähnlich Tanks in<br />

Kosmetikwerken oder großen Weingütern.<br />

Basis für die gezüchteten Hühnerbrüste<br />

sind Zellen, die lebenden Tieren entnommen<br />

werden.<br />

Dies ist – vereinfacht gesagt – eine der<br />

beiden Varianten, wie künstliches Fleisch<br />

(In-vitro-Fleisch, Laborfleisch, Cultured<br />

Meat) erzeugt wird. Tierische Stammzellen,<br />

ob vom Huhn, vom Rind, vom Schaf<br />

oder vom Schwein, kommen in eine Nährlösung,<br />

wo diese Zellen dann unter Zufuhr<br />

von Energie wachsen, ohne dass dazu ein<br />

ganzes Tier nötig wäre. Die zweite Möglichkeit<br />

besteht darin, ausschließlich pflanzliche<br />

Vorprodukte zu verwenden. Unter<br />

Einsatz von 3D-Druckern werden verschiedene<br />

Schichten dichteren und lockeren<br />

Materials mit mehr und weniger Fett aufeinander<br />

gepackt, so dass der Eindruck von<br />

Muskelstrukturen entsteht.<br />

Mit dieser Spezialität der Lebensmittelbranche<br />

gehört Israel weltweit zu den führenden<br />

Ländern, neben Kalifornien, den<br />

Niederlanden und Singapur. Eine bunte<br />

Palette von Start-ups hat sich in den letzten<br />

Jahren des Themas angenommen, es<br />

gibt zwei einschlägige staatliche Inkubatoren,<br />

die jungen Unternehmen erste Laborund<br />

Büroplätze anbieten. Und einige Firmen<br />

sind – wie Future Meat – bereits dabei,<br />

den Sprung aus den Forschungsräumen in<br />

die Industriehallen zu schaffen.<br />

Zu den bekanntesten gehört etwa Aleph<br />

Farms in Rehovot, gegründet vom franzö-<br />

© Reinhard Engel; 123RF<br />

28 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 28 07.03.22 11:49


Von tierischen Stammzellen<br />

Rabbiner Joseph<br />

Pardess. „Die Voraussetzung<br />

dafür ist<br />

allerdings ein koscherer<br />

Prozess.“<br />

© Reinhard Engel; 123RF<br />

sischen Agrar- und Lebensmittelwissenschaftler<br />

Didier<br />

Toubia. Vor Aleph<br />

Farms hatte er bereits<br />

zwei Unternehmen<br />

im Bereich<br />

Medizintechnik ins<br />

Leben gerufen und<br />

dann erfolgreich verkauft.<br />

Und auch was PR<br />

betrifft, muss er sich nicht verstecken,<br />

berichtet ein Korrespondent<br />

der Süddeutschen Zeitung, der das Unternehmen<br />

besucht hat: Immerhin gab es im Jahr<br />

2020 einen Aufsehen erregenden Probelauf<br />

mit 3D-Druck im All, auf der Raumstation<br />

ISS. An Aleph Farms sind unter<br />

anderem beteiligt: die israelische Lebensmittelgruppe<br />

Strauss, bekannt für Milchprodukte,<br />

Kaffee, Eis und Snacks, die Biotechnik-Fakultät<br />

des Technion in Haifa und<br />

einzelne wohlhabende Persönlichkeiten,<br />

etwa der amerikanische Schauspieler Leonardo<br />

Di Caprio.<br />

„In Israel gibt es<br />

derzeit über 100<br />

Unternehmen in der<br />

Branche alternative<br />

Proteine.“<br />

Aviv Oren<br />

50 Dollar pro Steak. Aleph Farms hat sich<br />

auf Rinder-Steaks spezialisiert, ebenfalls<br />

auf Basis von In-vitro-Zellwachstum. Technisch<br />

funktioniert die Sache bereits, bei<br />

den Kosten liegt das Unternehmen einstweilen<br />

noch zu hoch, laut Presseberichten<br />

bei etwa 50 Dollar pro Steak. Das ist zwar<br />

schon eine gewaltige Verbilligung gegenüber<br />

den ersten extrem teuren Laborfleischstücken<br />

vor wenigen Jahren, aber<br />

die Hühnerproduzenten von Future Meat<br />

werben inzwischen mit einem Signalpreis<br />

von unter fünf Dollar pro Portion.<br />

Supermeat ist ein weiterer Erzeuger<br />

von künstlichem Hühnerfleisch, der bereits<br />

in die Produktionsphase<br />

eingetreten<br />

ist. Hier hat sich unter<br />

anderem einer<br />

der größten deutschen<br />

Hähnchenfleisch-Anbieter<br />

beteiligt,<br />

PHW, bekannt<br />

für seine Marke Wiesenhof.<br />

Auch an Redefine Meat<br />

konnte sich PHW Anteile sichern.<br />

Redefine Meat geht allerdings<br />

einen anderen Weg: Hier entstehen am 3D-<br />

Drucker fleischähnliche Stücke, die nicht<br />

einmal eine einzige Tierzelle enthalten.<br />

Hier kommen ausschließlich pflanzliche<br />

Rohstoffe und Vorprodukte zum Einsatz.<br />

Angeboten wird das Druckersteak in einigen<br />

Restaurants in Tel Aviv und Haifa, als<br />

„coming soon“ kündigt der Britische Fernsehkoch<br />

Marco Pierre White den Einsatz in<br />

seiner Steakhouse-Kette an.<br />

„In Israel gibt es derzeit über 100 Unternehmen<br />

in der Branche alternative Proteine“,<br />

erklärt Aviv Oren vom Good Food Institute<br />

Israel, einer wissenschaftlichen<br />

Non-Profit-Organisation, die sich auf Forschung<br />

in diesem speziellen Bereich konzentriert.<br />

Dabei werden längst nicht mehr<br />

nur Steaks oder Brüste von vier- oder<br />

zweibeinigen Tieren im Labor gezüchtet.<br />

Eine Reihe von Start-ups hat die zunehmend<br />

leer gefischten Meere als ökologischen<br />

Problemfall ausgemacht und widmet<br />

sich dem Fischfilet. Die Firmen heißen<br />

etwa Sea2Cell, Plantish, Wanda Fish oder<br />

ForSea. Auch hier gibt es wieder – analog<br />

zum Festlandfleisch – zwei Spielarten: die<br />

Zucht aus Fischzellen und das Meeresfilet<br />

aus Gemüse.<br />

Koscheres aus<br />

dem Drucker?<br />

Über die religiösen Regeln der neuen<br />

Fleischproduktion sind sich die Rabbiner<br />

noch uneins.<br />

atürlich kann man auf diese Art auch<br />

„Nkoscheres Fleisch herstellen“, sagt der<br />

Wiener Rabbiner Joseph Pardess. „Die Voraussetzung<br />

dafür ist allerdings ein koscherer<br />

Prozess.“ Er meint damit, dass die Zelle<br />

für das Fleischwachstum keinem lebenden<br />

Tier entnommen werden darf, sondern dass<br />

dieses geschächtet sein muss. Und natürlich<br />

kommen für diese Erzeugung nur Tiere<br />

in Frage, die auch koscher sind, also Kühe,<br />

Schafe oder Ziegen.<br />

An der nächsten Frage, ob es sich dann<br />

auch um Fleisch handelt, scheiden sich die<br />

Geister. Das ist deshalb für religiöse Juden<br />

von Bedeutung, denn wenn es nicht fleischig,<br />

sondern parve wäre, dürfte man es in<br />

der Küche viel umfangreicher einsetzen. Kurz<br />

zusammengefasst gibt es unter den Rabbinern<br />

zwei Argumentationsstränge. Der eine,<br />

der zum Schluss kommt, dass das künstliche<br />

Fleisch parve, also neutral ist, sieht in der<br />

überwiegenden Menge von Nährlösung, die<br />

das Endprodukt bestimmt, das nicht-tierische<br />

Element dominieren. Die andere, strengere<br />

Auffassung, die den Parve-Status ablehnt,<br />

sagt, egal, wie viel zusätzliche Materie<br />

hinzukommt, ohne die tierische Zelle am Beginn<br />

des Prozesses wäre die ganze Herstellung<br />

nicht möglich. Also bleibe das Endergebnis<br />

fleischig.<br />

Pardess verfolgt die Diskussion unter den<br />

israelischen Rabbinern, er rechnet auch<br />

mit einer Entscheidung, den Zeitraum kann<br />

er nicht nennen. Aber er gibt auch ein Beispiel,<br />

wie sich innerhalb weniger Jahre religiöse<br />

Vorschriften ändern können. „Man sollte<br />

auch kein künstliches Fleisch auf Pflanzenbasis<br />

gemeinsam mit Käse essen. Denn es darf<br />

nicht einmal den Anschein geben, dass man<br />

die Speisegesetze bricht.“ Ähnlich argumentierten<br />

die israelischen Rabbiner, als die ersten<br />

Würste auf Soja-Basis auf den Markt kamen.<br />

Pardess: „Damals waren diese neu,<br />

und die Kombination mit milchigen Speisen<br />

hätten viele nicht verstanden. Heute kennt<br />

man Soja-Wurst schon allgemein und weiß,<br />

dass sie kein Fleisch enthält. Jetzt darf man<br />

sie auch mit Käse kombinieren.“<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

marz_22.indb 29 07.03.22 11:49


LEBENS ART<br />

Diven gibt es auch mit Bart:<br />

Opernsängerin Shira Karmon<br />

und Jazz-Mezzosopranistin Clara<br />

Montocchio nehmen Pianist Elias<br />

Meiri in ihre Mitte.<br />

GÖTTLICHE GALA<br />

Zum Doppelkonzert kommen<br />

sie mit Gitarre, mit Bart und mit<br />

sozialkritischem Auftrag: Im<br />

Rahmen des Yiddish Culture<br />

Festival Vienna heißt es einen<br />

Nachmittag lang Spot On Yiddish<br />

Divas! Den ersten Teil der<br />

Show (Ich hob dich tsufil lib) bestreiten<br />

Lloi-ca Czackis, Isabel<br />

Frey und Viktoria Hessl. Letztere<br />

besingt die Liebe in „Judéo-<br />

Espagnol“, der Sprache der sephardischen<br />

Juden. Frey ist in<br />

Wien feste Größe, wenn es um<br />

jiddischen Revolutions- und Widerstandslieder<br />

geht. Und Czackis,<br />

Französin mit argentinischen<br />

Wurzeln, interpretiert die<br />

Lieder der großen yiddischen<br />

Theater. Schlicht Songs in Yiddisch<br />

haben Jazz-Pianist Elias<br />

Meiri, Opernsängerin Shira Karmon<br />

und Jazz-Mezzosopranistin<br />

Clara Montocchio ihren<br />

Teil des Programms benannt.<br />

Sie fusionieren energiegeladen<br />

Klezmer und Jazz.<br />

So., 27.3., 14 Uhr,<br />

yiddishculturevienna.at<br />

VIVA LA<br />

DIVA<br />

Elizabeth Taylor<br />

Kreayshawn<br />

Barbra Streisand<br />

Sie bringen – nicht<br />

nur an den letzten<br />

trüben Wintertagen<br />

– Glamour ins<br />

Haus: jüdische<br />

Diven (und das<br />

eventuell passende<br />

Equipment).<br />

PRICKEL-PATSCHEN<br />

Ein „Prosit der Gemütlichkeit“ wird<br />

auf den zwölf Zentimeter hohen<br />

Hacken des Modells „Champagne“<br />

wohl nicht angestimmt. Dafür<br />

macht der Schuh des israelischen<br />

Designers Kobi Levi einen schlanken<br />

Fuß, wenn es um den eleganten<br />

Auftritt geht. Natürlich limitiert!<br />

kobilevidesign.com<br />

GUCCI GUCCI YA-YA DA-DA<br />

Er ist alles, was wir uns von einem Lippenstift<br />

erwarten. Er ist uns lieb und<br />

teuer (um 40 Euro). Das Hybridprodukt<br />

„Rouge De Beauté Brillant“ von<br />

Gucci pflegt und färbt zudem, etwa<br />

in aufregendem „Lucy Dark Orange“.<br />

gucci.com<br />

GLÜCK IN DOSEN<br />

Eigentlich ist das seidige „Les Voilettes<br />

Powder“ (pflegt und duftet toll) von<br />

Guerlain ja viel zu elegant, um es einfach<br />

in der Handtasche verschwinden<br />

zu lassen. Es sei denn, es handelt sich<br />

um etwas Ebenbürtiges (siehe unten!).<br />

guerlain.com<br />

EIN HAUCH LUXUS<br />

Dürfen wir vorstellen: Der Freudebringer<br />

„Tender Light“ aus der neuen<br />

„Estée Lauder Luxury Fragrance<br />

Kollektion“. Ein Strahl aus reinem<br />

Licht, flankiert von Tee-Akkorden,<br />

Bergamotte und Iris.<br />

esteelauder.at<br />

GUT AUFGELEGT<br />

Klingt toll: Die Plattenspieler-Clutch<br />

von Judith Leiber Couture wurde<br />

von Hand mit funkelnden Swarovski-Kristallen<br />

besetzt und mit Metallic-Leder<br />

ausgekleidet. Im Inneren<br />

finden Schlüssel, Karten und Spiegeldose<br />

(siehe oben!) Platz.<br />

U. a. über net-a-porter.com<br />

Fotos: 123RF, Everett Collection /picturedesk.com; James Veysey /<br />

Camera Press / picturedesk.com, STARTRAKS PHOTO INC. /Action Press<br />

/ picturedesk.com, xxxxxx<br />

Amy Winehouse<br />

wına-magazin.at<br />

30<br />

marz_22.indb 30 07.03.22 11:49


HIGHLIGHTS | 03<br />

Kunst<br />

wird geschaut<br />

Ich. Max Liebermann. Ein europäischer<br />

Künstler im Düsseldorfer Kunstpalast<br />

Erzberliner. Urberliner. Maler mit „Schnauze“.<br />

Und mit großem Stadtpalazzo direkt neben<br />

dem Brandenburger Tor in Berlin. So residierte<br />

der qua Erbe reiche Künstler Max Liebermann<br />

(1847–1935) fast noch prominenter als der deutsche<br />

Kaiser Wilhelm II., der, Kunstbanause, der<br />

er war, dessen Arbeiten verabscheute und diffamierte.<br />

Dabei – und das zeigt nun die Retrospektive<br />

Ich. Max Liebermann im Museum Kunstpalast<br />

in Düsseldorf am Rhein überaus deutlich –<br />

war der selbstbewusste („Ich“) Liebermann,<br />

der mit holländisch schwerblütigem Realismus<br />

begann, in seinen Jahren in München<br />

leichter wurde, um schließlich als Deutschlands<br />

wichtigster Impressionist zu gelten, Europäer.<br />

Durch und durch. Daher<br />

auch der Untertitel Ein europäischer<br />

Künstler. Netzwerker war<br />

er. Übernational. Und Augenmensch,<br />

der vieles berückend<br />

synthetisierte.<br />

Die letzte größere Werkschau<br />

liegt zehn Jahre zurück. Nun<br />

sind am Rhein rund 120 Arbeiten<br />

von Max Liebermann mit Gemälden<br />

von Monet, Rembrandt,<br />

Millet und van Gogh feinsinnig<br />

zusammengeführt. Und auch<br />

seinem Einfluss auf die Düsseldorfer<br />

Kunstszene wird ein eigener<br />

Raum gewidmet. A.K.<br />

ICH. MAX LIEBERMANN<br />

Museum Kunstpalast in Düsseldorf<br />

bis 8. Mai 2021<br />

kunstpalast.de<br />

FAKE NEWS &<br />

DIE MACHT DER BILDER<br />

Mit einem Schnappschuss versucht<br />

ein Fotograf den Wahlkampf eines<br />

Populisten zu beeinflussen: Aktueller<br />

denn je und mit viel Ironie erzählt Doron<br />

Rabinovici in seinem neuen Roman<br />

Die Einstellung von einer immer<br />

stärker polarisierten und zunehmend<br />

gespaltenen Gesellschaft.<br />

suhrkamp.de<br />

Max Liebermann:<br />

Selbstbildnis<br />

mit Pinsel und<br />

Palette, 1913.<br />

Roy<br />

Lichtenstein<br />

Diver, ca.<br />

1948–1949.<br />

MUSIKTIPPS<br />

ROY LICHTENSTEIN:<br />

HISTORY IN THE MAKING, 1948–1960<br />

Columbus Museum of Art<br />

bis 5. Juni 2021<br />

museum-exhibitions.colby.edu<br />

Geschichte<br />

wird gemacht<br />

Roy Lichtenstein: History in the<br />

Making, 1948–1960 im Columbus<br />

Museum of Art<br />

Popkünstler. Der Mann mit den Punkten.<br />

Der von Comics herkam. Und der nicht<br />

wenig Humor hatte. So ging der 1923 in New<br />

York geborene Roy Lichtenstein in die Kunstgeschichte<br />

des 20. Jahrhunderts ein.<br />

Doch die Ausstellung Roy Lichtenstein: History<br />

in the Making, 1948–1960 in Columbus im<br />

US-Bundesstaat Ohio – und an der Ohio State<br />

University studierte und lehrte Lichtenstein<br />

selbst, unterbrochen vom Kriegsmilitärdienst<br />

– führt vor, was beileibe kaum bekannt ist: Lichtensteins<br />

Œuvre, bevor er in den frühen Sechzigerjahren<br />

die Pop Art entdeckte – und sie ihn<br />

– und er mit übergroßen Adaptionen der Comicstrip-Motivsprache<br />

bis zu seinem Tod 1997<br />

weltberühmt wurde. Diese<br />

Arbeiten, etwas mehr als 90<br />

an der Zahl, entstanden in der<br />

Dekade, in der der Abstrakte<br />

Expressionismus auf dem<br />

Höhepunkt stand. Und was<br />

sieht man im Werk des Anfang-Dreißigers?<br />

Figuratives.<br />

Witziges. Humorvolles. Inspirationen<br />

und Reverenzen an<br />

neuere und ältere europäische<br />

Kunst, von Matisse und<br />

Picasso zurück bis zur Renaissance.<br />

Eine Entdeckung. A.K.<br />

MOREAU<br />

Gerade einmal 27 Jahre jung ist<br />

Edgar Moreau. Und gesegnet mit<br />

übergroßer Begabung und mit noch größerer<br />

Neugier ist der Cellist. Auf Transmission (Toccata)<br />

führt er hochspannend und gut begleitet<br />

vom Luzerner Sinfonieorchester unter Michael<br />

Sanderling Kompositionen von Ernest Bloch,<br />

Max Bruch, E. W. Korngold und Ravels 2 Mélodies<br />

hébraïques zusammen. Sein Spiel ist feinsinnig,<br />

subtil und anschmiegsam weich – auch<br />

dank seines Instruments von 1711.<br />

MOSAIC VOICES<br />

Wie oft lässt sich eine CD in Perma-<br />

nenz abspielen, bis sie nicht mehr<br />

will? Das ist die Frage bei Mosaic Voices. Denn<br />

kaum hat man die erste und die zweite Pièce<br />

auf Letter of Kamilla (Toccata) gehört, von Janowski<br />

und Blumenthal, will man den Silberling<br />

des von Michael Etherton geleiteten Voka-<br />

lensembles der New West End Synagogue in<br />

London weiter- und weiterlaufen lassen. Zu-<br />

gleich eine Liebeserklärung an Ethertons in<br />

Auschwitz ermordete Großmutter.<br />

ADLER<br />

Gerade dieser Tage ist Samuel<br />

Adler 94 Jahre geworden. Zu seinem<br />

90. ehrte Deutschland ihn, den aus Mannheim<br />

gebürtigen Kantorensohn, der Ende 1938<br />

in die USA fliehen konnte, mit dem höchsten<br />

Orden. In der Einspielung seiner Violinsonaten<br />

Nr. 2–4 (Toccata), fast 60 Jahre überspannend,<br />

zeigen sich Michelle Ross (Violine), der Pianist<br />

Michael Brown und das Cassatt Quartet gut<br />

aufgelegt und seinen modernen, unterhaltsamen<br />

Stücken mehr als gewachsen. A.K.<br />

© Kunstpalast, Düsseldorf, Foto: Horst Kolberg; Collection of Joan Thomas. © Estate of Roy Lichtensteina<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

marz_22.indb 31 07.03.22 11:49


Rassenkundliche Abteilung<br />

Das Museum des SS-<br />

Obersturmbannführers<br />

Sehr spät, dafür sehr umfassend<br />

hat das „Haus der Natur“<br />

in Salzburg seine Geschichte<br />

aufarbeiten lassen. Im Zentrum<br />

des nun im Studien Verlag<br />

erschienenen mehr als 800<br />

Seiten starken Bandes steht<br />

das Wirken von Eduard Paul<br />

Tratz (1888–1977). Er begründete<br />

1924 das für seine Zeit innovative<br />

Museum, gestaltete<br />

es in der NS-Zeit im Sinn der<br />

Rassenlehre ideologisch um<br />

und übernahm die Leitung ab<br />

1949 wieder. Tratz stand dem<br />

Museum bis 1976 vor.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Zwei im Nationalsozialismus verfolgte<br />

und im Konzentrationslager<br />

Dachau internierte Juden mussten<br />

ihren Schädel hinhalten und<br />

das ganz wortwörtlich: Von ihren Köpfen<br />

wurde Abformungen angefertigt. Als Modell<br />

für einen „Handelsjuden“ sowie einen<br />

„intellektuellen Juden“ reihten sie sich im<br />

Salzburger Museum in eine ganze Reihe so<br />

genannter „Rassenköpfe“ ein, die den Besuchern<br />

in der in der NS-Zeit geschaffenen<br />

„Rassenkundlichen Abteilung“ gezeigt<br />

wurden.<br />

Diese „Rassenköpfe“ beauftragte der<br />

Museumsdirektor im Frühjahr 1939, unmittelbar<br />

nach der Eingliederung des<br />

„Hauses der Natur“ in das SS-„Ahnenerbe“.<br />

Eduard Paul Tratz hatte sofort nach dem<br />

„Anschluss“ an Hitler-Deutschland 1938<br />

die Nähe zu den neuen Machthabern gesucht.<br />

Von „Selbstgleichschaltung“ spricht<br />

die nun erstellte Studie.<br />

Sein Ziel: in die „Forschungsgemeinschaft<br />

Deutsches Ahnenerbe“ der SS eingegliedert<br />

zu werden, um mehr Ressourcen<br />

für das Museum zu erhalten. Dabei<br />

zog Tratz alle Register: Er wurde rasch<br />

Mitglied der NSDAP, trat in die SS ein und<br />

stieg nach und nach zum SS-Obersturmbannführer<br />

auf. Überzeugung scheint<br />

dabei weniger eine Rolle gespielt zu haben<br />

als der Wunsch, das Museum und damit<br />

auch sein persönliches Ansehen nach<br />

vorne zu bringen.<br />

Noch befand sich das Haus zu dieser Zeit<br />

im Aufbau. Es stellte damals einen neuen<br />

Museumstyp dar: Nicht die Forschung<br />

stand im Mittelpunkt, sondern eine für<br />

Besucher perfekte Präsentation und eine<br />

Ausstellung, die nicht starr war, sondern<br />

immer wieder adaptiert und damit weiterentwickelt<br />

werden konnte. Gestützt durch<br />

die finanzielle Förderung des „Ahnenerbes“<br />

konnte Tratz währen der NS-Zeit die<br />

Dauerausstellung weiter vervollständigen.<br />

Fertiggestellt wurden die Abteilungen<br />

„Pflanzenkunde“, „Forstwirtschaft“ und<br />

„Luft- und Wetterkunde“. Aktuelle Bezüge<br />

zum Nationalsozialismus flocht er ein, wo<br />

sie sich anboten, so die Studienautoren,<br />

„ob bei der Naturschutzgesetzgebung, im<br />

Jagdrecht oder in der Höhlenforschung.<br />

Tagesaktuell präsentierte er NS-Rückzüchtungsversuche<br />

und SS-Expeditionen“. 1941<br />

wurde die „Eiszeitschau“ und 1943 die „Tibetschau“<br />

eröffnet.<br />

Die NS-Ideologie bildete sich am deutlichsten<br />

bei der bereits erwähnten 1940 eröffneten<br />

„Rassenkundlichen Abteilung“<br />

ab. „Die drei neu gestalteten Ausstellungsräume<br />

standen in Verbindung mit drei<br />

Stützpfeilern der NS-Weltanschauung: der<br />

Überzeugung, dass die Gesellschaft biologisch<br />

determiniert sei, der daraus abgeleiteten<br />

eigenen Überlegenheit und der<br />

daraus folgenden Legitimierung der Unterwerfung<br />

der ganzen Welt mittels Wissenschaft<br />

und Krieg.“<br />

Wirklich in die Tiefe ging Tratz dabei<br />

aber nicht, wie eine Analyse der in der Vergangenheit<br />

präsentierten Inhalte ergab.<br />

Die Ausstellung sei insgesamt zu breit und<br />

heterogen angelegt gewesen, um in eine<br />

in sich konsistente Ideologieschau<br />

transformiert<br />

zu werden. Beim „Rassenkundlichen<br />

Saal“ habe es<br />

sich daher um eine eher<br />

oberflächlich ideologisierte<br />

Darstellung von Grundlagen<br />

der Vererbung gehandelt,<br />

die zuvor schon im Kontext<br />

der Tierzucht abgehandelt<br />

worden war. „Typisch<br />

für die inhaltliche Neuausrichtung<br />

der Ausstellung war auch, dass sie<br />

sich nicht mehr im Duktus der Tafel- und<br />

Raumüberschriften ausdrückte, zum Beispiel<br />

bei der Rede vom ‚Lebensraum‘ und<br />

‚Lebenskampf‘, als in tatsächlich neuen<br />

Ausstellungsinhalten und -exponaten.“ Bei<br />

den Veränderungen der Ausstellung zwischen<br />

1939 und 1943 habe es sich daher insgesamt<br />

mehr um Interventionen und nicht<br />

um eine völlig neue Konzeption gehandelt.<br />

Allerdings: Es war auch nicht so, dass der<br />

Museumsdirektor der NS-Ideologie nichts<br />

abgewinnen hätte können. Er sei vielmehr<br />

überzeugt gewesen, dass sich seine individuelle<br />

Weltanschauung zu hundert Prozent<br />

mit der des Nationalsozialismus deckte.<br />

Aus seiner Sicht habe er sich daher nicht<br />

der NS-Ideologie untergeordnet, sondern<br />

fühlte sich in dieser bestätigt. 1943 veröffentlichte<br />

er im Verlag des „Ahnenerbes“<br />

das Buch Natur ist alles. Der Band enthielt<br />

viele Abbildungen von Exponaten aus dem<br />

Museum und stellte Analogien zwischen<br />

der Tierwelt und der menschlichen Gesellschaft<br />

sowie einen Antagonismus zwischen<br />

einer negativen ökonomischen Naturausbeutung<br />

und einer positiven nationalsozialistischen<br />

Naturlenkung her.<br />

Kehrtwende. Ein Jahr später, 1944, begann<br />

Tratz jedoch bereits vorsichtig auf Distanz<br />

zu gehen. In einem Vorwort zu einem neu<br />

erschienenen Museumsführer bezeichnete<br />

er das Haus der Natur als „einzigartige<br />

Stätte weltanschaulicher Besinnung<br />

© Franz Pritz / picturedesk.com<br />

32 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 32 07.03.22 11:49


Konjunkturritter & Wendehals<br />

Das Haus der Natur hat sich<br />

bereits 2014 mit der „Ära Tratz“<br />

in einer eigenen Ausstellung<br />

auseinandergesetzt.<br />

© Franz Pritz / picturedesk.com<br />

„[…] dass die<br />

Grenze zwischen<br />

opportunistischem<br />

Handeln und<br />

ideologischer<br />

Überzeugung<br />

allmählich fließend<br />

wurde.“<br />

aus Ein Museum<br />

zwischen Innovation<br />

und Ideologie<br />

Tratz sei also einer der<br />

„zahlreichen politischen<br />

Konjunkturritter und Wendehälse“<br />

gewesen, die den<br />

Regimewechsel zum eigenen<br />

Vorteil nutzten. Seinen<br />

eigenen persönlichen<br />

„Anschluss“ habe er weniger<br />

auf der Grundlage einer<br />

festgefügten weltanschaulichen<br />

Überzeugung, sondern<br />

aus dem nüchternen<br />

Kalkül eines aktiven Opportunismus<br />

heraus vollzogen.<br />

Er sah die Gunst der Stunde<br />

für sich, aber auch für sein<br />

unter chronischer Finanznot<br />

leidendes Museum. „Die demonstrative<br />

Anpassung an die<br />

ideologischen Prämissen der<br />

nationalsozialistischen Weltanschauung,<br />

welche er in<br />

weiterer Folge insbesondere<br />

in einigen seiner Publikationen<br />

an den Tag legte, lässt allerdings<br />

den Schluss zu, dass<br />

die Grenze zwischen opportunistischem<br />

Handeln und<br />

ideologischer Überzeugung<br />

allmählich fließend wurde.“ Tratz’ Kooperation<br />

mit dem NS-Regime ging schließlich<br />

weit über das hinaus, was den Menschen<br />

damals abverlangt wurde.<br />

Die traurige Erkenntnis nach Lektüre<br />

dieser umfassenden Studie: Einmal mehr<br />

wird hier der schlampige Umgang Österreichs<br />

mit der Entnazifizierung dokumentiert.<br />

Und einmal mehr zeigt sich hier<br />

eine Geschichte unliebsamer Kontinuitäten.<br />

Ein Mann konnte sich, um seine Karriere<br />

voranzutreiben, den Nazis andienen<br />

und sogar der SS angehören und dennoch<br />

Jahrzehnte über das Kriegsende hinaus erfolgreich<br />

Karriere machen. Sogar ein Preis<br />

wurde nach dem so lange umtriebigen Museumsdirektor<br />

benannt. Der „Eduard Paul<br />

Tratz Preis“ des Landes Salzburgs für naauf<br />

naturwissenschaftlicher<br />

Grundlage“, nicht<br />

aber als nationalsozialistische<br />

Bildungsstätte.<br />

Das Wort „nationalsozialistisch“<br />

kam in dem<br />

Buch überhaupt nicht<br />

vor. „Öffentlich wurde<br />

diese vorsichtige Kehrtwende<br />

jedoch nicht<br />

mehr, da die Publikation<br />

nicht gedruckt wurde.“<br />

Im Zug der Entnazifizierung<br />

nach dem Zusammenbruch<br />

des Nationalsozialismus<br />

wurde<br />

Tratz als Museumsleiter<br />

abbestellt und war bis August 1947 in den<br />

Lagern Glasenbach, Moosburg und Pupping<br />

interniert. Er wurde jedoch schließlich<br />

als „minderbelastet“ eingestuft und<br />

kehrte 1949 als Direktor des Hauses der<br />

Natur zurück. Bis 1976 sollte er das Museum<br />

schließlich leiten. Dabei zeigte er<br />

sich erneut sehr anpassungsfähig und bildete<br />

eine Brücke zwischen der alten Heimat-<br />

und Naturschutzbewegung und der<br />

neuen Umweltbewegung der 1960er- und<br />

1970er-Jahre. Fazit der Studienautoren:<br />

„Tratz musste sich dafür nicht verändern.<br />

Er blieb bei seiner Überzeugung, dass sich<br />

die menschliche Gesellschaft an der Natur<br />

ausrichten müsse. Er untermauerte<br />

seine Auffassung nun mit den Argumenten<br />

des Umweltschutzes.“<br />

turwissenschaftliche Forschungen wurden<br />

jedoch nach der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit<br />

Tratz’ in „Haus der Natur Preis“<br />

umbenannt. Ehrungen, die ihm zuerkannt<br />

wurden, darunter das Goldene Verdienstzeichen<br />

des Landes Salzburg sowie der Ring<br />

des Landes Salzburg, wurden ihm postum<br />

im Jahr 2016 aberkannt.<br />

Zuvor hatte das Haus der Natur 2014 eine<br />

kritische Darstellung von Tratz’ Geschichte<br />

in einer Sonderausstellung mit dem Titel<br />

Das Haus der Natur 1924–1976 – Die Ära Tratz<br />

präsentiert. Inzwischen wurde diese zeithistorische<br />

Aufarbeitung in die Dauerausstellung<br />

des Museums integriert und in den<br />

Bereich der Tibet-Dioramen eingebettet.<br />

Die Tibetschau wurde in der NS-Zeit und<br />

anlässlich der von der SS mitfinanzierten<br />

Tibet-Expedition gestaltet. Die Entstehungsgeschichte<br />

dieser Schau sei zwar in<br />

historisch belastetem Kontext erfolgt, die<br />

Darstellungen würden jedoch „eine einzigartige,<br />

meisterhafte Präsentation des alten<br />

Tibet“ darstellen „und vermitteln keinerlei<br />

ideologischen Bezug der NS-Zeit“, heißt es<br />

heute auf der Seite des Museums.<br />

In zwei Jahren wird das Haus der Natur<br />

100 Jahre alt. Sein Gründer hätte sich damals<br />

wohl nicht träumen lassen, dass er<br />

selbst einmal auch zum Thema in der Ausstellung<br />

würde – und wenn schon, dann<br />

als gefeierter und gewürdigter langjähriger<br />

Direktor und nicht als unliebsames<br />

Beispiel für einen Opportunisten, der nicht<br />

vor einer zerstörerischen Ideologie zurückschreckte,<br />

solange sie ihm nur zum Vorteil<br />

gereichte.<br />

Robert Hoffmann,<br />

Robert Lindner (Hg.):<br />

Ein Museum zwischen Innovation<br />

und Ideologie. Das Salzburger<br />

Haus der Natur in der Ära von<br />

Eduard Paul Tratz, 1913–1976.<br />

Studien Verlag, 840 S., € 49,95<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

marz_22.indb 33 07.03.22 11:49


INTERVIEW MIT VICTORIA LUNZER-TALOS & HEINZ LUNZER <br />

Joseph Roth mit der Lupe gesehen<br />

Die Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen Victoria<br />

Lunzer-Talos und Heinz Lunzer widmen<br />

sich seit fast 40 Jahren dem Leben und Werk des<br />

1939 im Pariser Exil gestorbenen großen jüdischen<br />

Autors. Nach zahlreichen internationalen Ausstellungen,<br />

Publikationen, Vorträgen und Studienreisen<br />

gründeten sie 2008 die Internationale Joseph<br />

Roth Gesellschaft. Seit 2021 geben sie im Rahmen der<br />

Schriftenreihe der Gesellschaft eine neue Roth-Edition<br />

heraus. Über ihre Begegnungen mit Joseph Roth<br />

und dessen Werk und ihre Vorstellungen für die Publikationsreihe<br />

erzählen die beiden anlässlich des Erscheinens<br />

der ersten Bände im Gespräch mit WINA.<br />

Interview: Angela Heide<br />

gen von Zeitgeschichte, den Konflikten, dem hektischen<br />

Leben und dem frühen Sterben – also sein Leben,<br />

seine Biografie, sein Werk zu befreien aus den<br />

noch immer gängigen Legenden, etwa von einem Galizien<br />

als Ort glücklicher Völker unter benevolenter<br />

kaiserlich-österreichischer Herrschaft … Ein Impuls<br />

in dieser Richtung war für mich die Ausstellung zu<br />

Manès Sperber gewesen, die ich 1987 anlässlich der<br />

Übernahme seines Nachlasses für die Österreichische<br />

Nationalbibliothek machen konnte und Material zu<br />

seinen Erinnerungen suchen musste. So lernt man<br />

vielseitiges Recherchieren in Museen und Archiven,<br />

nach den historischen Bedingungen, nach Information<br />

und Bildmaterial zu Orten, zu Personen, zu Ereignissen.<br />

Viele Funde bereicherten unser Wissen von<br />

Roths Aufenthaltsorten und Personengruppen, was<br />

erlaubte, sein Leben, sein Arbeiten in vielen wichtigen<br />

Facetten zu zeigen.<br />

WINA: Wann hat eure Faszination mit Joseph Roth begonnen?<br />

Heinz Lunzer (HL): In der Bibliothek meiner Eltern<br />

stand eine Erstausgabe des Radetzkymarsch aus<br />

dem Jahr 1932, die ich als Gymnasiast gelesen habe<br />

– ein erstes historisches Erleben einer Epoche, das<br />

mir viel mehr Authentizität als der Geschichtsunterricht<br />

vermittelt hat. Mein zweites Leseerlebnis war<br />

ein Auswahlband mit Texten Roths, der mir die Breite<br />

seiner Arbeiten, seine Strenge, seine Ironie, seine Verschmitztheit<br />

zeigte. Jahre später erhielten meine Frau<br />

und ich im Auftrag des Außenministeriums die Gelegenheit,<br />

Ausstellungen über österreichische Literatur<br />

und bildende Kunst zu konzipieren und zu gestalten.<br />

Die begleitenden Kataloge sollten die Leser:innen interessieren<br />

wie auch forschungsrelevante neue Dokumente<br />

zeigen. Wir haben immer versucht, neue<br />

Aspekte zu „verpacken“, die ein breites Publikum ansprechen.<br />

Victoria Lunzer-Talos (VLT): Es ist nicht leicht, sich<br />

zurückzutasten, wenn so viel an fabelhaften, fantasievoll<br />

ausgestalteten Informationen über einen Autor<br />

kursieren – viele von ihm selbst verbreitet, viele zu Klischees<br />

verhärtet. Vielfältiges Apperzipieren und Erleben<br />

von Roths Denken, seinem Schreiben, der frühen<br />

Lust auf Literatur und Sprachgestaltung, dem Aufzei-<br />

zu klein<br />

Victoria Lunzer-<br />

Talos und Heinz<br />

Lunzer wollen von<br />

ihre Faszination für<br />

Roths Werk erzählen<br />

und sie weitergeben.<br />

Der nächste Schritt war eure erste<br />

Ausstellung über Joseph Roth?<br />

HL: Genau. So durften wir zum<br />

ersten Mal in den 1980er-Jahren<br />

den großen Nachlassteil Roths,<br />

den das Leo Baeck Institute in<br />

New York aufbewahrt, besuchen<br />

und auswerten; da fühlt<br />

man sich schon wie ein Schatzgräber.<br />

Wir konnten uns einen<br />

sehr guten Eindruck verschaffen,<br />

was alles da ist, durften<br />

viele Kopien machen – digitale<br />

Reproduktion gab es zu diesem<br />

Zeitpunkt noch nicht.<br />

Wie kam dieser unglaubliche Nachlass<br />

überhaupt nach New York?<br />

HL: Das ist eine abenteuerliche<br />

Geschichte: Roth, der viel unterwegs<br />

war und fast nur in Hotels<br />

lebte, hat selbst nicht alles aufgehoben, manches<br />

bei Freunden deponiert. Als er 1939 im Exil in Paris<br />

starb, packten Freunde wie Soma Morgenstern und<br />

Hermann Kesten, Zweigs erste Frau Friederike und<br />

Roths Übersetzerin Blanche Gidon, was sie fanden,<br />

und gaben, als Frankreich von Deutschland besetzt<br />

wurde, das Material an Gidon, die ein Versteck dafür<br />

bei ihrer Hausmeisterin fand, nachdem sie als Jüdin<br />

selbst untertauchen musste. Andere Papiere hatte<br />

Roth bei einem befreundeten Journalisten deponiert,<br />

und dieser, Joseph Bornstein, rettete seine und Roths<br />

© Joseph Roth Gesellschaft<br />

© Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien<br />

34 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 34 07.03.22 11:49


Handschriften & Typoskripte<br />

Papiere nach Amerika. Nach Ende des Krieges konnte<br />

Roths Neffe Fred Grubel die wertvollen Papiere in den<br />

Bestand des New Yorker Leo Baeck Instituts einbringen,<br />

wo auch Bornsteins Papiere aufgenommen worden<br />

waren oder wurden. So gibt es heute im Leo Baeck<br />

Institute zwei Roth-Sammlungen.<br />

Eure erste Ausstellung zu Joseph Roth entstand 1989, zu<br />

der es auch einen Begleitband der Reihe Zirkular gab. 1994<br />

folgte dann die große Ausstellung im Jüdischen Museum der<br />

Stadt Wien. Wie kam es dazu?<br />

HT: Das Museum selbst wurde kurz davor, im Jahr<br />

1993, im Palais Eskeles in der Dorotheergasse gegründet,<br />

und Julius H. Schoeps, der Gründungsdirektor<br />

des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäischjüdische<br />

Studien an der Universität Potsdam, wurde<br />

zum ersten Direktor des neuen Museums in Wien ernannt.<br />

Bei einem unserer ersten Gespräche schlug er<br />

vor, eine Literaturausstellung für das Haus zu gestalten.<br />

Unser Vorschlag, Roth zu seinem 100. Geburtstag<br />

eine Großausstellung zu widmen, wurde gern akzeptiert<br />

– die Ausstellung erhielt dann so viel positive<br />

Resonanz, dass wir hier wenige Jahre darauf eine weitere<br />

Großausstellung zu Karl Kraus gestalten durften.<br />

© Joseph Roth Gesellschaft<br />

© Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien<br />

Im Rahmen dieser Ausstellung habt ihr zum ersten Mal auch<br />

die enge Verbindung zu Roths Judentum, seine enge Bindung<br />

zu seinem Geburtsort Brody herausgearbeitet.<br />

VLT: Tatsächlich konnten wir damals dank unserer<br />

bereits aufgebauten Kontakte nach New York zahlreiche<br />

Originale aus Roths Nachlass überhaupt zum<br />

ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit präsentieren.<br />

Und wir haben begleitend zur Ausstellung auch eine<br />

mehrtägige Reise in die Ukraine organisiert, wo wir<br />

neben Brody auch Lemberg und andere Orte, die Roth<br />

in seinen Werken immer wieder literarisch aufgriff,<br />

besucht haben. Es war eine der ersten Reisen in die<br />

damals noch junge Ukraine, die erst 1991 ihre staatliche<br />

Unabhängigkeit erlangt hatte.<br />

Es gibt heute weitere Archive, in denen sich Teilnachlässe befinden,<br />

mit denen ihr arbeitet.<br />

VLT: Parallel zur Wiener Ausstellung im Jahr 1994<br />

konnten wir einen Teilnachlass zu Roth für das Literaturhaus<br />

in Wien ankaufen, die Sammlung von David<br />

Bronsen, der die erste große Biografie Roths geschrieben<br />

hatte – eine Fundgrube von Details. Mit diesem<br />

Material haben wir dann auch relativ rasch eine weitere<br />

kleinere Literaturausstellung eingerichtet. In den<br />

1990er-Jahren wurden frühe Werke Roths in Handschriften<br />

und Typoskripten aus dem Archiv des alten<br />

Kiepenheuer Verlags angeboten. Auch diesen Bestand<br />

hätten wir gerne für Wien angekauft, doch hat uns<br />

damals das Literaturarchiv in Marbach überboten,<br />

wo das Material seither in sehr guten Händen liegt.<br />

Es hat dann doch eine Zeit gedauert, bis ihr zu deinem Abschied<br />

als langjähriger Leiter der Dokumentationsstelle für<br />

neuere österreichische Literatur und des Literaturhauses<br />

2008 eine weitere große Ausstellung realisieren konntet.<br />

HL: Die Ausstellung trug den Titel Joseph Roth im Exil in<br />

Paris 1933 bis 1939 und wurde von einem Buch begleitet,<br />

in dem wir detailreich über diese sechs schwierigen<br />

Jahre berichtet haben. Die Ausstellung wanderte<br />

2009 an das Jüdische Museum in Paris; eine Variante<br />

der Ausstellung wurde dann auch in München gezeigt.<br />

VLT: Was uns wirklich sehr gefreut hat, war, dass zur<br />

Pariser Ausstellung über 100 der nur auf Deutsch erschienenen<br />

Kataloge verkauft wurden!<br />

2008 war auch der Zeitpunkt, an dem ihr erkannt habt, dass<br />

es einen Verein braucht, der sich dem Leben und Werk Joseph<br />

Roths widmet.<br />

HL: Ja, ein „Pensionstraum“. Erste Anregung war, eine<br />

neue Briefausgabe zu bringen. Es liegen, seit die erste<br />

1970 herausgekommen war, viel mehr Dokumente<br />

vor, die man im Text kontrollieren und ausgiebig kommentieren<br />

kann. Zugleich stellte sich die Frage nach<br />

dem erzählenden und journalistischen Werk Roths:<br />

Auch da gäbe es viele Fehler zu korrigieren und die erhaltenen<br />

Vorstufen und die Nachdrucke zu Roths Lebzeiten<br />

einzubeziehen. Ein Beispiel fehlerhafter Textausgaben<br />

ist etwa, wenn – ungenau gelesen in der oft<br />

schwierigen Frakturschrift einer alten Zeitung – aus<br />

Brief an die Schwiegermutter.<br />

Roth, der viel unterwegs<br />

war, hat selbst nicht viel<br />

aufgehoben, manches bei<br />

Freunden deponiert, die das<br />

Material nach seinem Tod<br />

verstecken mussten.<br />

„Vielfältiges<br />

Apperzipieren<br />

und Erleben<br />

von Roths Denken,<br />

seinem<br />

Schreiben, der<br />

frühen Lust<br />

auf Literatur<br />

und Sprachgestaltung<br />

[…].“<br />

Victoria<br />

Lunzer-Talos<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

marz_22.indb 35 07.03.22 11:49


Schaffen wertschätzen<br />

„Der Arbeitsprozess<br />

ist oft ebenso<br />

interessant wie das<br />

fertige Werk.“<br />

Heinz Lunzer<br />

Joseph Roth verstarb<br />

44-jährig in Paris an den<br />

Folgen einer doppelseitigen<br />

Lungenentzündung.<br />

INTERNATIONALE<br />

JOSEPH ROTH<br />

GESELLSCHAFT<br />

Mitgliedsbeitrag: 60 € pro Jahr<br />

Anmeldung per Mail an:<br />

heinz.lunzer@yahoo.de<br />

Mehr über den Verein auf<br />

literaturhaus.at<br />

Joseph Roth Edition (JRE)<br />

Herausgeber:innen: Heinz Lunzer<br />

und Victoria Lunzer-Talos<br />

in Zusammenarbeit mit Helen<br />

Chambers, Madeleine Rietra<br />

und Rainer-Joachim Siegel<br />

Die beiden ersten Bände<br />

– 1921. Schreiben für die<br />

Zeitung (372 S. m. Abb.)<br />

und 1921. Briefe und andere<br />

Dokumente (36 S. m. Abb.)<br />

sind 2021 in der Schriftenreihe<br />

der Internationalen Joseph Roth<br />

Gesellschaft erschienen und wie<br />

alle Bände der Edition nur für<br />

Mitglieder erhältlich.<br />

dem Wort „Exotik“ das Wort „Erotik“ wird – ein nicht<br />

unwesentlicher Unterschied, wie wir meinen. Roths<br />

ganz individuelle, nach akustischem Eindruck und<br />

älteren Regeln geformte Rechtschreibung wurde in<br />

den meisten Nachkriegseditionen „normalisiert“ bzw.<br />

„modernisiert“, also niedergebügelt. Mit solchen Argumenten<br />

kommt man zum Wunsch, eine ganz neue<br />

Werkausgabe anzudenken, in der auch die enge Verbindung<br />

zwischen Roths „privatem“ und „öffentlichem“<br />

Schreiben berücksichtigt wird, also die Briefe<br />

als Teil des Werks verstanden werden. Hinzu kommt,<br />

dass auch die Entstehung der Texte, also die Frage, wie<br />

arbeitete Roth, anhand der erhaltenen Handschriften<br />

und Typoskripte berücksichtigt werden soll. So<br />

ist ein umfangreicher Plan entstanden, der sich nicht<br />

rasch und in ein paar Bänden realisieren lässt. Das<br />

entspricht allerdings nicht den Verkaufsstrategien<br />

der üblichen Literaturverlage, und so haben wir uns<br />

entschieden, dieses Projekt vorerst als Privatdruck im<br />

Rahmen unseres Vereins zu realisieren.<br />

2021 sind 1921: Schreiben für die Zeitung und 1921: Briefe und<br />

andere Dokumente erschienen. Was genau kann man sich<br />

da vorstellen?<br />

HL: Um die Zusammenhänge zwischen Briefen, kurzen<br />

Werken für Zeitungen und Zeitschriften und längeren<br />

für Verlage zu verdeutlichen und deren Entwicklung<br />

im Lauf der Zeit zu zeigen, ist unsere Joseph<br />

Roth Edition primär nach Jahren gegliedert. Und so haben<br />

wir uns gedacht, blicken wir mit den ersten Bänden<br />

genau 100 Jahre zurück – und haben mit dem Jahr<br />

1921 begonnen. Die beiden ersten Bände stellen auch<br />

gleich zwei Schreibbereiche vor: Die Serie Briefe und<br />

andere Dokumente der Edition wird alles, was zu Roths<br />

Leben und Schreiben gehört, bündeln, also Briefe von<br />

ihm und an ihn, Meinungen anderer, aber auch Informationen<br />

darüber, was in der konkreten Zeitspanne<br />

passiert ist. Die Serie Schreiben für die Zeitung enthält<br />

alles, was in einem Jahr von Joseph Roth in Zeitungen<br />

und Zeitschriften erschienen ist. Mit allen Varianten<br />

in Nachdrucken zu Lebzeiten, die wir zur einfacheren<br />

Unterscheidung und besseren Lesbarkeit in<br />

Farben wiedergeben – und das direkt neben dem Text<br />

und nicht versteckt in einem Anhang. Insgesamt wird<br />

die Joseph Roth Edition, kurz JRE, bis zu fünf Reihen umfassen:<br />

Briefe und andere Dokumente, Schreiben für die Zeitung,<br />

Prosa (Romane und Erzählungen) sowie von Roth<br />

nicht veröffentlichte Texte und schließlich Fragmente<br />

und seine jugendliche Lyrik, die bislang zu wenig Beachtung<br />

gefunden hat. Einbezogen werden sämtliche<br />

erhaltenen Fassungen und Erscheinungsformen aller<br />

Werke. Kein Autor verfasst seine Texte so, wie sie zwischen<br />

den Buchdeckeln erscheinen; vieles ist mit Änderungen,<br />

selbstkritischen Kürzungen oder Verbesserungen<br />

entstanden. Der Arbeitsprozess ist oft ebenso<br />

interessant wie das fertige Werk.<br />

Wie sehen die Pläne für die nächsten Schritte aus?<br />

HL: Als nächstes ist ein Jahr geplant, in dem Roth auch<br />

einen Roman publizierte.<br />

VLT: Und nach diesem „Roman-Jahr“ soll die Edition<br />

chronologisch weitergehen.<br />

HL: Wir wollen dann jeweils mindestens ein Arbeitsjahr<br />

Roths pro Jahr herauszubringen. Wichtig ist uns<br />

dabei, dass wir keine riesigen „Wälzer“ produzieren,<br />

sondern handliche Bände, die wir gerne in nach Jahren<br />

zusammengefassten Kassetten vorlegen würden.<br />

Wie ist diese Edition, die aktuell ohne jede öffentliche Förderung<br />

von euch erarbeitet wird, überhaupt finanziell möglich?<br />

HL: Zu unserer großen Freude kamen von Mitgliedern<br />

großzügige Spenden für Druck und Versand, die weitere<br />

Ausgaben ermöglichen. Die Begeisterung so vieler<br />

Mitglieder hat uns darin bestärkt, unsere Vision<br />

von dieser Werkausgabe beizubehalten.<br />

Man kann sich also als interessierte Leser:in an der Edition<br />

beteiligen?<br />

HL: Ja. Der Verein steht bewusst für alle offen, die sich<br />

mit Joseph Roth auseinandersetzen wollen und unsere<br />

Edition als Annäherung an sein Schaffen wertschätzen.<br />

Die Mitglieder ermöglichen mit ihren Beiträgen<br />

und Spenden Druck und Versand der Bände.<br />

Man könnte also hier von einem Crowd-Funding-Projekt<br />

sprechen.<br />

HL: Ja, ganz genau. Im Verein sind die Mitglieder<br />

der finanzierende und profitierende Teil. Wir als die<br />

Herausgeber:innen stellen die Inhalte der Bände zusammen,<br />

sind aber auch Mitglieder des Vereins und<br />

erhalten für diese sehr aufwendige, minutiöse Arbeit<br />

keinerlei Bezahlung. Alle Beitrag zahlenden Mitglieder<br />

des Vereins erhalten die durch dieses Zusammenspiel<br />

gemeinsam ermöglichten Bände in ihrer Eigenschaft<br />

als Mitglieder.<br />

Wir würden uns sehr freuen, noch mehr Mitglieder<br />

zu gewinnen, die unsere Arbeit auch in den kommenden<br />

Jahren mit jenem großen Interesse begleiten, dem<br />

wir auch in den letzten Jahren mit viel Dankbarkeit<br />

begegnen durften.<br />

© wikipedia/Elisabet Charlotte (Lotte)_Altmann<br />

36 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 36 07.03.22 11:49


Briefe an<br />

die Liebsten<br />

Was Helena Ganor als kleines<br />

Mädchen erleben musste, zerreißt<br />

einem das Herz: Die Mutter<br />

schob sie im letzten Moment einer<br />

fremden Frau zu, damit nur sie selbst,<br />

nicht aber ihr Kind deportiert wurde.<br />

Kurz darauf sah das Mädchen, wie SS-<br />

Leute Säuglinge und Kinder, die nicht<br />

gehen konnten, aus den Fenstern eines<br />

Krankenhauses aus dem vierten, fünften,<br />

sechsten Stock auf einen Lastwagen warfen.<br />

„Ihre Körper und Schädel zerschellten<br />

mit dem gedämpften Klang eines weichen<br />

Schlags. Ich habe sie nicht schreien<br />

hören, ich hörte die Schreie der Frauen,<br />

die versuchten, auf die Wagen zu springen<br />

und die Kinder aus der Luft zu fangen,<br />

aber sie haben es nicht geschafft – sie wurden<br />

auf der Schnelle erschossen.“<br />

Die spätere Ärztin, die den ersten Teil<br />

ihrer Kindheit im Gebiet der heutigen Ukraine<br />

verbrachte, nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

in Polen die Schule abschloss und<br />

studierte und schließlich 1969 noch einmal<br />

einen neuen Aufbruch wagte und mit<br />

ihrer Familie in die USA emigrierte, sollte<br />

in den folgenden Jahrzehnten unter wiederkehrenden<br />

Albträumen leiden. Einen<br />

davon beschreibt sie in ihrem Buch Vier<br />

Briefe an die Zeugen meiner Kindheit so: „Ich<br />

träume von Körpern, die in der Luft heftig<br />

um sich schlagen, Körper von Babys und<br />

Kindern, die still hinunterfallen, aber in<br />

meinem Albtraum erreichen sie nie die<br />

Pritsche des Lastwagens. Durch irgendeine<br />

magische Macht in meinem Traum<br />

halte ich sie in der Luft und lasse sie dort<br />

flattern wie Schmetterlinge oder geistige<br />

Wesen, die den Menschen überlegen sind,<br />

wie die sagenhaften Engel aus der Mythologie.“<br />

Ganors Kindheitserinnerungen sind<br />

gespickt von Begebenheiten, die ihren Tod<br />

bedeuten hätten können, dem sie aber<br />

Wie bringt man das, was man<br />

seinen liebsten Menschen<br />

nicht (weil sie ermordet worden<br />

waren) oder zu deren<br />

Lebenszeit nur ansatzweise<br />

(weil das Erlebte zu schrecklich<br />

war) erzählen konnte,<br />

doch irgendwann zu Papier?<br />

Die Schoah-Überlebende<br />

Helena Ganor, die als Kind<br />

durch die Hölle ging, kleidete<br />

ihre Erinnerungen an die<br />

NS-Zeit in vier Briefe: an die<br />

von den Nazis ermordete<br />

Mutter und Schwester, an den<br />

Vater und die Stiefmutter, mit<br />

denen sie schließlich nach<br />

dem Krieg eine behütete Jugend<br />

erleben sollte. Der Böhlau<br />

Verlag publizierte die berührenden<br />

Schilderungen<br />

nun auch auf Deutsch.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Helena Ganor:<br />

Vier Briefe an die Zeugen<br />

meiner Kindheit.<br />

Böhlau 2021,<br />

208 S., € 26<br />

„Ihre Körper und Schädel zerschellten<br />

mit dem gedämpften<br />

Klang eines weichen Schlags.“<br />

Helena Ganor<br />

immer wieder entronnen ist. Statt Bitterkeit<br />

und Härte strahlen diese vier Briefe<br />

vor allem eines aus: Liebe zur Mutter, zur<br />

Schwester, dem Vater, der Stiefmutter.<br />

Und in gewisser Weise auch Vertrauen,<br />

dass sich alles zum Guten wenden kann.<br />

Die Erzählungen zeigen aber auch, wie<br />

stark ein sieben-, acht-, neun-, zehnjähriges<br />

Mädchen sein kann, dass sich phasenweise<br />

als Straßenkind allein durchschlägt,<br />

dabei immer der Gefahr ausgesetzt, als jüdisch<br />

erkannt und ermordet zu werden.<br />

Aus der Perspektive der älteren Frau,<br />

Jahrzehnte nach dem Holocaust, berührt<br />

es, wie sehr sie auch retrospektiv die positiven<br />

Momente ihrer Kindheit, die glücklichen<br />

Tage vor der Machtübernahme<br />

der Nazis, aber auch die Jugendjahre, die<br />

sie wieder in Geborgenheit verbringen<br />

konnte, zu schätzen wusste. Das Gute im<br />

Menschen, das Schlechte im Menschen:<br />

Beidem gibt Ganor in ihren Erinnerungen<br />

Raum. Das Wichtigste ist ihr aber das<br />

Erinnern an jene, die das Leid, das ihnen<br />

angetan wurde, nicht mehr selbst anprangern<br />

konnten. „Es ist nicht wahr, dass Ungerechtigkeit<br />

immer irgendwie ausgeglichen<br />

wird, und es stimmt nicht, dass die<br />

Schuldigen immer bestraft werden. Oft ist<br />

es für beides zu spät. Diejenigen, die gelitten<br />

haben, sind nicht nur körperlich zugrunde<br />

gegangen, sehr oft sind sie auch<br />

vergessen worden. Das ist der Hauptgrund,<br />

warum ich davon sprechen will;<br />

deshalb schreibe ich diese Briefe.“<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

marz_22.indb 37 07.03.22 11:49


Klare Botschaft<br />

„Auf das Leben!“<br />

Die französische Rabbinerin Delphine Horvilleur schreibt über das Sterben, den<br />

Tod, die Lebenden und das Judentum.<br />

Von Alexander Kluy<br />

Delphine Horvilleur<br />

studierte Medizin und Jour-<br />

nalistik, bevor sie Rabbinerin<br />

wurde.<br />

Für dieses Buch benötigt man nicht<br />

einen Bleistift, sondern mehrere.<br />

Nicht, um es zu schreiben. Sondern<br />

um so viel auf den Textseiten<br />

anzustreichen, herauszuschreiben und zu<br />

memorieren. Mit sich zu tragen, über die<br />

Lektüre, über den Tag hinaus.<br />

Als 2014 Elias Canettis Das Buch gegen den<br />

Tod erschien, eine Edition aus dem gewaltigen<br />

Nachlass des Literaturnobelpreisträgers<br />

– geboren in Rustschuk, heute das<br />

bulgarische Rousse, ausgebildet in Wien,<br />

geflohen nach London, bis zu seinem Tod<br />

lange ansässig in Zürich –, enthüllte sich<br />

ein Lebensbuch, das zugleich ein Totenbuch<br />

war, ein Todesbuch. Vor allem aber:<br />

ein Buch gegen den Tod.<br />

Die Todesgegnerschaft war der Antrieb<br />

Elias Canettis, sich jeden Morgen mit großer<br />

Disziplin an den Schreibtisch zu setzen.<br />

Auf der Tischplatte lagen nur ein Block und<br />

eine Batterie an Bleistiften. Canetti füllte<br />

Seite um Seite mit Sätzen und Gedanken,<br />

die er zum Thanatos-Thema über fünfzig<br />

Jahre hinweg festhielt, notierte und damit<br />

– und zwar mit Furor und verbaler Verve –<br />

das Vergehen bannen, einschränken, verhindern<br />

wollte. „Sag dich von allen los,<br />

die den Tod hinnehmen. Wer bleibt dir<br />

übrig?“, fragte ein Eintrag aus dem Jahr<br />

1943. „Der Tod lässt sich nicht erzählen“:<br />

ein Notat von 1970. Und der allerletzte Eintrag<br />

von 1994 lautete: „Es ist Zeit, mir wieder<br />

Dinge mitzuteilen. Ohne dieses Schreiben<br />

löse ich mich auf. Ich spüre, wie mein<br />

Leben sich in stumpfes, trübes Sinnen auflöst,<br />

weil ich nicht mehr Dinge über mich<br />

aufschreibe. Ich will versuchen, dies zu ändern.“<br />

Essayistisch knapp. Für dieses Buch benötigt<br />

man nicht nur einen Bleistift. Mehrere<br />

vielmehr. Nicht, um es zu schreiben.<br />

Sondern, um so einiges, und dann immer<br />

mehr, auf den Textseiten anzustreichen.<br />

Mit kleinen Kommentaren und Zeichen zu<br />

versehen. Hier ein Ausrufe-, dort ein Fragezeichen,<br />

da eine Unterstreichung, dort<br />

ein Verweis. Um sich zu ändern.<br />

Delphine Horvilleurs Mit den Toten leben<br />

ist keine Sammlung von Gedanken,<br />

Aphorismen, Splittern. Stattdessen handelt<br />

es sich um einen Essay in guter französischer<br />

Literaturtradition. Die liberale,<br />

„laizistische“ Rabbinerin, die erst in Jerusalem<br />

Medizin studierte, diesen Studiengang<br />

nicht abschloss, anschließend ein<br />

Journalistik-Studium in Paris absolvierte,<br />

drei Jahre lang Radiojournalistin war,<br />

dann das Rabbinerseminar am Hebrew<br />

Union College in New York besuchte und<br />

heute mit ihrer Familie in Paris lebt, hat<br />

in den letzten Jahren nicht nur hohe Auszeichnungen<br />

der Republik Frankreich erhalten<br />

– 2019 wurde sie Officier de l’ordre<br />

des Arts et des Letters, 2020 erhielt sie das<br />

Kreuz der Legion d’honneur, der Ehrenlegion<br />

– , sie hat auch in den vergangenen<br />

zweieinhalb Jahren erstaunlich viel publiziert,<br />

was von der Titelgebung her bereits<br />

hehr, intellektuell elementar wie herausfordernd<br />

komplex klang, den Band Réflexions<br />

sur la question antisémite im Jahr 2019,<br />

ein Jahr darauf Le rabbin et le psychanalyste.<br />

L’exigence de l’interprétation und nur wenige<br />

Monate später Comprendre la monde – die<br />

Welt verstehen (und das auf 90 Seiten!).<br />

Es relativiert sich, sieht man sich den Umfang<br />

der einzelnen Bücher an: allesamt essayistisch<br />

knapp.<br />

Um über den Tod zu schreiben, über<br />

damit verbundene Riten und Trauerzeiten<br />

und Emotionen, beginnt Horvilleur<br />

mit Menschen, mit Toten, die sie kannte,<br />

wie eine Psychoanalytikerin und Kolumnistin<br />

bei Charlie Hébdo, die im Jänner 2015<br />

beim Mordanschlag auf die Zeitschrift erschossen<br />

wurde, oder die ihr wenig bis gar<br />

nicht bekannt waren, deren Familien sie<br />

aber begleiten durfte.<br />

Besonders eindringlich gerät Horvilleur<br />

das Kapitel Marceline und Simone über die<br />

KZ-Überlebende Simone, die hochbetagt<br />

starb und zu Lebzeiten eine starke, sehr lebenszugewandte<br />

Frau und, so Horvilleur,<br />

„eine große Theologin“ war, „die mit der Zigarette<br />

im Mundwinkel gleichzeitig G-ttes<br />

Abwesenheit in Auschwitz, den weiblichen<br />

© JOEL SAGET / AFP / picturedesk.com; 123RF<br />

38 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 38 07.03.22 11:49


© JOEL SAGET / AFP / picturedesk.com; 123RF<br />

Delphine Horvilleur:<br />

Mit den Toten leben.<br />

Aus dem Französischen<br />

von Nicola Denis.<br />

Hanser Berlin Verlag <strong>2022</strong>,<br />

188 S., 22,70 €<br />

Orgasmus und die Vorzüge von Wodka erörtern<br />

konnte – ein und dasselbe Gespräch über alles,<br />

was ihr im Leben heilig war“.<br />

Wieso Friedhof auf Hebräisch „haH’ayim“<br />

heißt, erläutert Horvilleur auch – so eignet<br />

sich das Buch auch als Einstiegs- und Einsteigerlektüre.<br />

Dabei geht es, schreibt sie, „nicht<br />

darum, den Tod leugnen oder ihn auslöschen<br />

und damit abwenden zu wollen“ – vielmehr<br />

geht es um das genaue Gegenteil, „ihm jenseits<br />

der Sprache eine klare Botschaft zu erteilen“<br />

und darum, dass er nicht einmal auf dem<br />

Friedhof das letzte Wort haben wird.<br />

Delphine Horvilleur schreibt klar, ohne in<br />

gefühlige Naivität oder in leeren rhetorisch<br />

pathetischen Klingklang zu verfallen. Sie<br />

schreibt durchweg verständlich, oft angereichert<br />

durch konkrete,<br />

plastische Beschreibungen<br />

winziger Details,<br />

etwa dass man<br />

bei der Ausfahrt aus Jerusalem<br />

aus dem Autofenster<br />

sachte wahrnehmen<br />

kann, wie sich<br />

die Erdkrume anders<br />

zu färben anschickt.<br />

Sie schreibt klug, ohne<br />

an Empathie einzubüßen,<br />

stilsicher navigiert<br />

sie am Kitsch<br />

vorbei. Und klug wie<br />

anregend kann man<br />

bis zum Ende an zahlreichen<br />

Stellen wider<br />

sie argumentieren und verspürt dabei allerdings<br />

dieselbe Dezenz und eine ähnlich sensible<br />

Diskretion wie sie als Menschenzeichnerin<br />

und Menschenerinnerungsbeschwörerin.<br />

Diesem schmalen, von Nicola Denis gut<br />

übersetzten Buch ist große Eindringlichkeit<br />

ebenso zu eigen wie großes Gewicht. „Ich weiß<br />

nicht“, liest man an einer Stelle, „wie der Tod<br />

auf die Lebenden wirkt, die mit ihm konfrontiert<br />

sind oder ihn begleiten. Ich bin außerstande<br />

zu sagen, welchen Einfluss er auf mich<br />

hat, da ich nicht weiß, wer ich heute wäre,<br />

wenn ich mich bewusst von ihm ferngehalten<br />

hätte.“<br />

„[...] da ich nicht<br />

weiß, wer ich<br />

heute wäre,<br />

wenn ich mich<br />

bewusst von ihm<br />

[dem Tod] ferngehalten<br />

hätte.“<br />

Delphine Horvilleur<br />

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INTERVIEW MIT NOA BEINART<br />

Wagners Musik lernte ich<br />

erst in Berlin kennen“<br />

Im deutschen Fach fühlt sich die Israelin Noa Beinart mit ihrer<br />

stimmlichen Bandbreite zwischen Contralto und Mezzosopran gut aufgehoben.<br />

Ebenso als junges Mitglied des Wiener Staatsopernensembles.<br />

Interview: Marta S. Halpert<br />

© julian-baumann/salzburgerfestspiele.at<br />

40 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 40 07.03.22 11:49


Auffallende Stimme<br />

© julian-baumann/salzburgerfestspiele.at<br />

NOA BEINART wurde in Tel Aviv geboren.<br />

Sie absolvierte ihr Gesangsstudium<br />

an der Hochschule für Musik Hanns Eisler<br />

Berlin und verkörperte dort diverse Partien<br />

in hauseigenen Produktionen. Nach Meisterkursen,<br />

unter anderen bei Brigitte Fassbaender<br />

und Christine Schäfer, gewann<br />

sie 2017 den Trude-Eipperle-Rieger-Preis.<br />

Als Konzertsängerin sang sie auch in der<br />

Frankfurter Paulskirche Bach-Kantaten.<br />

Ab der Spielzeit 2018/2019 war sie Mitglied<br />

des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper<br />

und sang unter anderem „Stimme<br />

der Mutter“ in Les Contes de Hoffmann und<br />

„Annina“ in La Traviata. 2020 wurde sie<br />

an die Wiener Staatsoper verpflichtet und<br />

debütierte dort in zwei Werken von Richard<br />

Strauss.<br />

WINA: Sie waren Mitglied des Opernstudios der Bayerischen<br />

Staatsoper in München und sind seit der Spielzeit<br />

2020/2021 Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper.<br />

Wie kam es zu diesem Wechsel?<br />

Noa Beinart: Es ist ganz normal, dass man sich umhört<br />

und umschaut, wo es Angebote für das eigene Stimmfach<br />

gibt. Ich hatte Glück und habe in München erfahren,<br />

dass es in Wien eine Chance zum Vorsingen gibt.<br />

Ich habe dann bei Direktor Bogdan Roščić und Musikdirektor<br />

Philipp Jordan vorgesungen, und das hat<br />

wunderbar geklappt.<br />

Damit rutschten Sie direkt in die längste Lockdown-Phase?<br />

I Glücklicherweise hatte ich gleich eine schöne Aufgabe<br />

mit einem kleinen Debüt in Elektra. Anschließend<br />

konnten wir nicht vor Publikum singen. Aber wir durften<br />

proben. Da ich im Januar 2021 für die „Suzuki“ in<br />

Madame Butterfly vorgesehen war, konnte ich an den<br />

Vorproben teilnehmen. Im September hegten wir ja<br />

alle noch die Hoffnung, dass wir eine normale Saison<br />

haben werden. Natürlich war es eine große Enttäuschung,<br />

als ich dann nicht singen konnte. Als Trostpflaster<br />

sang ich dann die „Annina“ im Rosenkavalier<br />

für eine Fernsehaufzeichnung.<br />

Was macht man stattdessen als Sängerin?<br />

I Ich war erst im August hierher umgezogen, trotzdem<br />

war ich in einer glücklicheren Lage als sehr, sehr viele<br />

Sängerinnen und Künstler in dieser Zeit. Im Vergleich<br />

zu meinen Freelance-Kollegen war ich abgesichert.<br />

Wir haben weitergeprobt, ich konnte üben und mich<br />

weiterentwickeln. Selbstverständlich ist es für eine<br />

Sängerin nicht schön, zu Hause zu sitzen, aber man<br />

darf sich nicht beschweren, denn alle hatten es schwer.<br />

Sie wurden in Tel Aviv geboren, haben die renommierte<br />

Thelma Yellin High School of the Arts absolviert. Wann<br />

kam die Entscheidung, Sängerin zu werden?<br />

I Mit acht Jahren habe ich schon im Kinderchor gesungen,<br />

und ich hatte Glück: Als ich fünfzehn war, hatte<br />

ich eine Gesanglehrerin, die zu hundert Prozent an<br />

mich geglaubt hat. Sie war überzeugt davon, dass ich<br />

eine professionelle Karriere machen könnte. Aber<br />

zuerst war der Weg in Israel klar vorgegeben: Mit 18<br />

Jahren geht man in die Armee und wird einer Einheit<br />

zugeteilt, in der das musikalische und künstlerische<br />

Studium ermöglicht wird. Jährlich werden da<br />

nur 100 Talente aufgenommen, und das gilt nur für<br />

Tänzer, Musiker und Sportler. Meine tiefe Stimme ist<br />

ziemlich schnell aufgefallen!<br />

Sind Sie familiär musikalisch vorbelastet?<br />

I Nein, überhaupt nicht. Niemand in der Familie ist<br />

Musiker, mein Vater ist Psychologe, meine Mutter arbeitet<br />

als Ärztin. Mein Vater hat zwar immer versucht,<br />

etwas für mich zu singen, aber er konnte es überhaupt<br />

nicht (lacht). Später erzählte er mir, ich hätte ihn schon<br />

als Kind korrigiert und gesagt, „Nein Papa, das geht<br />

nicht so, sondern so!“, und es dann richtig gesungen.<br />

Ihr Familiennamen Beinart klingt deutsch?<br />

I Es stammt aber niemand aus Deutschland, der<br />

Name stammt aus Russland, wie die Vorfahren meines<br />

Vaters. Mein Großvater ist dort geboren, aber in<br />

Riga aufgewachsen, und er ging bereits mit 17 Jahren<br />

als Zionist nach – damals – Palästina. Die Großmutter<br />

wanderte erst 1945 aus Rumänien ein, und der<br />

Rest der Familie stammt aus Polen und der Ukraine.<br />

Sie wagten dann den Sprung zum Studium nach Berlin.<br />

Warum Deutschland?<br />

I Es geschah auf Drängen dieser Lehrerin, die mich<br />

gefördert hat. Sie meinte, für eine Sängerinnenkarriere<br />

wäre es besser, gleich im Ausland zu studieren. „In<br />

Israel ist es schön, aber nicht genug“, sagte sie zu mir.<br />

Ich sollte vor allem in deutschsprachige Länder gehen,<br />

wo die Welt der Oper am meisten geschätzt und<br />

gespielt wird. Ich habe mich dann für Berlin und für<br />

die Hochschule für Musik Hanns Eisler entschieden.<br />

Dort habe ich wunderbare Lehrerinnen gehabt, wie<br />

Anneliese Fried, Christine Schäfer und Brigitte Fassbaender.<br />

In sechs Jahren habe ich dann dort meinen<br />

Bachelor und den Master gemacht.<br />

Sie haben eine bewundernswerte gesangliche Bandbreite<br />

zwischen Contralto (Altistin) und Mezzosopran. In Wien<br />

haben Sie bereits für zwei Partien sehr positive Kritiken<br />

eingeheimst: Als „Mary“ in Richard Wagners Fliegendem<br />

Holländer und als „Auntie“ in Benjamin Brittens Peter<br />

Grimes. Was proben Sie jetzt?<br />

„Ich sollte<br />

vor allem in<br />

deutschsprachige<br />

Länder<br />

gehen, wo die<br />

Welt der Oper<br />

am meisten<br />

geschätzt<br />

und gespielt<br />

wird.“<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

marz_22.indb 41 07.03.22 11:49


In Rollen hineinwachsen<br />

Noa Beinart mit<br />

WINA-Autorin Marta S.<br />

Halpert in der Wiener<br />

Staatsoper.<br />

I Ich finde es total spannend, meinen Nibelungenring<br />

zu machen: Ich singe neben der<br />

„Erda“ noch eine Norn in Götterdämmerung<br />

und eine Walküre in der Walküre. Als Sängerin<br />

spürt man das Genie dieses Mannes.<br />

„[Wagners]<br />

Musik ist<br />

unglaublich<br />

spannend,<br />

und was er<br />

für die Oper<br />

insgesamt<br />

geleistet hat,<br />

ist großartig.<br />

Es ist<br />

keine Frage,<br />

was für ein<br />

schrecklicher<br />

Mensch er<br />

war.“<br />

* Erda ist in Richard Wagners Tetralogie Der<br />

Ring des Nibelungen der Name einer Erdgöttin.<br />

Sie tritt in zwei Teilen der Tetralogie auf, in Das<br />

Rheingold und im Siegfried.<br />

I Im Mai <strong>2022</strong> kommt mein Debüt als „Erda“*, eine<br />

Rolle, von der ich seit Jahren träume. Es klingt wie ein<br />

Klischee, aber es ist kaum zu fassen, dass ich mit dieser<br />

Partie an der Wiener Staatsoper debütieren werde.<br />

Natürlich finden jetzt die Musikproben statt und noch<br />

nicht die szenischen.<br />

Regisseur Barrie Kosky inszenierte unter anderem eine<br />

Wagner-Oper in Bayreuth. Im WINA-Interview beschrieb er<br />

uns die Probleme, die er als jüdischer Mensch mit diesem<br />

Komponisten hat. Wie geht es Ihnen damit?<br />

I Wenn man in Israel aufwächst, hört man niemals<br />

Wagner, weder im Radio noch sonst wo. Erst als ich<br />

nach Deutschland kam und mich laufend mit der Musikgeschichte<br />

beschäftigte, habe ich seine Musik gehört.<br />

Als erstes Parsifal an der Deutschen Oper in Berlin<br />

– und ich fand das großartig.<br />

Man kann diesen Teil der Musikgeschichte nicht ignorieren:<br />

Richard Wagner hat jeden Komponisten, der<br />

nach ihm gekommen ist, beeinflusst. Seine Musik ist<br />

unglaublich spannend, und was er für die Oper insgesamt<br />

geleistet hat, ist großartig. Es ist keine Frage, was<br />

für ein Mensch er war, man muss ja nur lesen, was er<br />

selbst geschrieben hat. Für mich war aber schon sehr<br />

früh klar, dass ich deutsches Fach singen werde, ich<br />

habe das Gefühl, dass ich dahin gehöre und es viele<br />

spannende Rollen für mich gibt.<br />

Sie meinen mehr Kopf- als Herzmusik?<br />

I Genau, das ist Wagner für mich, ich höre seine Musik<br />

bestimmt nicht, um zu weinen. Um das zu tun, geht<br />

man in eine Puccini-Oper.<br />

Das Mystische liegt Ihnen auch?<br />

Ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen feierten<br />

Sie 2021 als „Zweite Magd“ in Elektra;<br />

in diesem Jahr singen Sie die „Dritte Dame“ in<br />

der Zauberflöte, eine Neueinstudierung der<br />

Produktion aus dem Jahr 2018.<br />

I Ja. Das bedeutet, dass die Inszenierung der Amerikanerin<br />

Lydia Steier wieder gezeigt wird, aber die Künstler<br />

und Künstlerinnen sind Großteils neu besetzt. Wir<br />

bekommen glücklicherweise eine Probenzeit wie bei<br />

einer Neuproduktion: Inklusive acht Vorstellungen bin<br />

ich von Ende Juni bis zur letzten Vorstellung am 27. August<br />

in Salzburg.<br />

Was sind Ihre Traumrollen abseits von Wagner? Als „Carmen“<br />

könnte ich Sie mir auch gut vorstellen.<br />

I Natürlich bin ich sehr interessiert an anderen Facetten<br />

meiner Stimme. Ich würde mich riesig freuen,<br />

mehr Alte Musik zu singen. Ich fühle mich auch in Koloraturpartien<br />

sehr wohl, ich weiß, dass klingt komisch<br />

in meinem Stimmfach, aber tatsächlich gibt es so etwas<br />

zum Beispiel bei Georg Friedrich Händel. Ich liebe<br />

seine Musik, fühle mich darin wohl, eine Traumrolle<br />

wäre die Hauptrolle in Giulio Cesare. Wunderbar wäre<br />

es, die schönen Hosenrollen, die Gioachino Rossini für<br />

Contralto geschrieben hat, zu singen, wie zum Beispiel<br />

„Arsace“, den General in Semiramide, oder den „Serano“<br />

in La donna del lago.<br />

Ich bleibe bei meiner „Carmen“-Frage?<br />

I Die „Carmen“ vielleicht später.<br />

Ist die Partie zu hoch?<br />

I Kann sein, aber ich bin für dieses Fach zu jung. Ich<br />

würde in diese Partien gerne hineinwachsen, muss<br />

aber abwarten, wie sich das entwickelt. Ich finde es<br />

total spannend, Männerrollen zu singen: Ich könnte<br />

mir auch den „Don Giovanni“ von einer Frau gesungen<br />

vorstellen. Das Gefühl, die „Noa“ zu Hause zu lassen<br />

und etwas komplett anderes zu sein, finde ich irgendwie<br />

befreiend.<br />

© Reinhard Engel<br />

42 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 42 07.03.22 11:49


Atmosphärische Verschmelzung<br />

Visionäres Theaterpaar. Anna<br />

Maria Krassnigg und Musiker und<br />

Filmemacher Christian Mair.<br />

Theater als Ort<br />

der Bewegung<br />

Die Wiener Theaterregisseurin Anna Maria<br />

Krassnigg ist bekannt für ihre kreativen und<br />

herausfordernden Zugänge an neue Theaterorte<br />

und die Stoffe, die diese uns schenken. Seit 2019<br />

macht sie mit ihrem Ensemble Station in Wiener<br />

Neustadt. Interview: Angela Heide<br />

WINA: Du hast früh und rasch Karriere als Regisseurin<br />

gemacht und ab den 1990er-Jahren<br />

international an großen Häusern gearbeitet;<br />

seit rund 20 Jahren lehrst du zudem am renommierten<br />

Max Reinhardt Seminar. Dennoch<br />

hast du dich vor rund 15 Jahren entschieden,<br />

eigene Wege zu gehen, und den Salon 5<br />

in der ehemaligen jüdischen Turnhalle in der<br />

Herklotzgasse gegründet. Wie kam es zu diesem<br />

Schritt?<br />

Anna Maria Krassnigg: Ich hatte schon<br />

immer das Bedürfnis, darstellende Kunst<br />

autonom zu verwirklichen; ich meine damit<br />

die tatsächliche Wahl der Stoffe, der<br />

Mittel, der Räume, des Umfelds, des Kontextes<br />

und – ganz wichtig – des Teams, mit<br />

dem man diese Kunst ausüben möchte. Es<br />

ist nicht so, dass mich Theater als Betrieb<br />

nicht interessiert: Ich kenne die Betriebe<br />

sehr gut, und es gibt dort unübersehbare<br />

Vorteile, vor allem in Hinblick auf Finanzierung<br />

und öffentliche Wahrnehmung.<br />

Ich habe nur von Anfang an schleichend<br />

und vor 15 Jahren mit immer größerer Gewissheit<br />

bemerkt, dass die Kollateralschäden<br />

der Enge und der steilen Hierarchien<br />

sowie der Mangel an künstlerischer und<br />

persönlicher Freiheit mich davon abhalten,<br />

die Dinge zu tun, die mich wirklich<br />

interessieren und von denen ich meine,<br />

dass sie auch ein Publikum interessieren.<br />

einander bezogenen Programmierung<br />

von zeitgenössisch interpretierten klassischen<br />

Stoffen und Uraufführungen von<br />

Gegenwartsautor:innen. Große Liebe zu<br />

unbekannteren Texten und ungewöhnlichen<br />

Schauspielkünstler:innen. Dazu<br />

ein hochkarätiges und lustvolles Diskursprogramm.<br />

Kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie<br />

hast du dein vorerst letztes künstlerisches<br />

Wagnis begonnen: Du bist in Niederösterreich<br />

geblieben, aber wieder näher an Wien gerückt<br />

und bespielst mit deinem Ensemble wortwiege<br />

seit 2019 die historischen Kasematten<br />

Wiener Neustadt. Was hast du aus Reichenau<br />

hierher mitgenommen?<br />

I Mitgenommen habe ich ein großartiges<br />

Ensemble, das schon in Reichenau Erstaunen<br />

hervorgerufen hat. Und meine<br />

Liebe zu besonderen Texten. Was Letztere<br />

betrifft, hat der Ort auch die inhaltliche<br />

Programmatik beeinflusst. Eine alte<br />

„Sommerfrische“, die ihre Blütezeit im<br />

Fin de Siècle hat, bespielt man anders als<br />

einen Spätrenaissancebau.<br />

Du bespielst seit 15 Jahren ganz bewusst Orte,<br />

die nicht als Theaterräume konzipiert wurden.<br />

Wie weit beeinflusst das die Wahl der Stücke<br />

beziehungsweise deine Inszenierungen?<br />

I Stark. Das Faszinierende an diesen „Naturräumen“,<br />

diesen „verwundeten Räumen“<br />

ist, dass sie besondere Echoräume<br />

für Texte darstellen. Wenn man „mit ihnen“<br />

programmiert, findet eine ganz eigene<br />

atmosphärische Verschmelzung<br />

statt, die für das Publikum spannend ist.<br />

Die Kasematten, dieser archaische Renaissancebau<br />

eines italienischen Architekten,<br />

schreien nach großen europäischen<br />

Geschichten – man findet sie bei<br />

Grillparzer und Shakespeare ebenso wie<br />

2015 hast du wieder einen großen künstlerischen<br />

Schritt gewagt und den Thalhof im niederösterreichischen<br />

Reichenau als Theaterort<br />

aufgebaut. Wie kam es zu diesem Wechsel in<br />

die Welt des Sommertheaters, und was konntet<br />

ihr dort realisieren?<br />

I Es war mehr als alles andere die<br />

Traumerfüllung eines „eigenen Hauses“.<br />

Diesem konnten wir tatsächlich unseren<br />

thematischen Stempel aufdrücken:<br />

Autor:innentheater in einer bewusst aufbei<br />

hervorragenden Zeitgenoss:innen<br />

und zu Unrecht aus der Literaturgeschichte<br />

Verdrängten.<br />

Apropos Grillparzer: Aktuell präsentiert ihr im<br />

März dieses Jahres das neue Projekt Szene Österreich<br />

– Theater & Salon, bei dem es gleich<br />

zum Start auch um Grillparzer gehen wird.<br />

Aber nicht nur. Was dürfen wir erwarten?<br />

I Szene Österreich ist der Frühjahrszyklus der<br />

wortwiege Kasematten und fasst einige<br />

unserer Lieblingstexte in aufeinander bezogenen<br />

„szenischen Skizzen“. Sowohl der<br />

von Erwin Riess kongenial imaginierte ältere<br />

Grillparzer, lustvoll nörgelnd auf seiner<br />

Schwarzmeer-Fahrt, wie auch Theodora<br />

Bauers viel gerühmter Text Chikago<br />

erzählen vom Reisen – und vom Ausreißen.<br />

Das alles ist bewusst leicht, skizzenhaft<br />

hingetupft, sehr nah am Publikum<br />

(siehe KulturKalender, Seite 46).<br />

Wichtig ist in deiner Arbeit stets, sich aus den<br />

Zentren, den ideologischen wie den geografischen,<br />

hinauszubewegen, Neues zu suchen, zu<br />

finden und dem Publikum auf lustvolle Weise<br />

vorzustellen. Dein Motto für die kommende<br />

Zeit der wortwiege in Wiener Neustadt?<br />

I Bewegt euch! Wiener Neustadt ist nicht<br />

in der Wüste, und „das Große bleibt<br />

groß nicht und klein nicht das Kleine“.<br />

Die Kasematten sind ein faszinierender<br />

Ort mit starker Programmatik. Ich<br />

wünsche mir Entdeckerfreude im Dreieck<br />

Theatermacher:innen/Medien/Publikum.<br />

Nur sie kann neue Orte, Herangehensweisen,<br />

Stile, Begegnungen<br />

erwirken. Wir alle sind Mitwirkende oder<br />

Verhinderer:innen eines lebendigen Theaters<br />

– diese öffentlichen Orte, an denen<br />

live über Inhalte diskutiert wird, diese<br />

Agoren werden dringender gebraucht<br />

denn je!<br />

© Christian-Mair-HQ<br />

43 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 43 07.03.22 11:49


WINA WERK-STÄDTE<br />

Die Spanische<br />

Synagoge befindet sich<br />

im Stadtteil Josefstadt in<br />

der Straße V zenská 1.<br />

Prag<br />

In der tschechischen Hauptstadt<br />

sind einige Synagogengebäude bis<br />

heute erhalten, unter anderen die<br />

Spanische Synagoge, deren Name<br />

für Verwirrung sorgt.<br />

Von Esther Graf<br />

zenská 1 ist eine traditionsreiche<br />

Adresse für Synagogenbauten<br />

in Prag. Hier<br />

befand sich einst die älteste<br />

Synagoge, die Altschul, bis<br />

sie 1389 während eines Pogroms<br />

zerstört wurde. Trotz eines kaiserlichen<br />

Schließungsbefehls und mehrerer<br />

Brände wurde sie immer wieder<br />

aufgebaut. 1837 war sie die erste reformierte<br />

Synagoge in Prag und wich 1867<br />

einem Neubau, der den Ansprüchen der<br />

Reformgemeinde besser genügte. 1868<br />

wurde dieser eingeweiht und Spanische<br />

Synagoge genannt. Der Name spielt<br />

jedoch nicht auf die vermeintlich sephardischen<br />

Gemeindemitglieder an<br />

– Synagogenbesucher:innen und Ritus<br />

waren durchweg aschkenasisch –,<br />

sondern auf die architektonische Ausgestaltung<br />

des Sakralbaus. Als Vorbild<br />

diente der Wiener Leopoldstädter Tempel.<br />

Hinter der mit Hufeisenbögen und<br />

Zierblenden gegliederten Fassade befindet<br />

sich ein Zentralbau, der von einer<br />

Kuppel überwölbt und im Innenraum<br />

von drei Emporen eingefasst wird.<br />

Wände und Decken sind vollflächig mit<br />

bunten Stuckarabesken sowie geometrischen<br />

und floralen Ornamenten dekoriert.<br />

Der Reformgedanke spiegelt sich<br />

in der Orgel auf der rechten Empore und<br />

in der an den Toraschrein herangerückten<br />

Bima (Pult für die Toralesung) wider.<br />

Bis 1941 fanden in der Spanischen Synagoge<br />

G-ttesdienste statt. Anschließend<br />

wurde sie von den Nazis als Lagerstätte<br />

für enteignete Gegenstände zweckentfremdet.<br />

1955 übernahm das Jüdische<br />

Museum die Verwaltung, bis die Synagoge<br />

1994 in den Besitz der konservativen<br />

Bejt-Praha-Gemeinde überging.<br />

Auf den Emporen ist eine Dauerausstellung<br />

zu jüdischem Leben in Böhmen und<br />

Mähren zu sehen.<br />

PRAG<br />

Nachweisbar sind Juden seit 1091 in Prag ansässig. Im 13. Jahrhundert kam es zur<br />

Einrichtung der abgeschlossenen Judenstadt, in der sich eine anerkannte Selbstverwaltung<br />

etablierte. Ab dem 16. Jahrhundert war hier das europäische Zentrum<br />

jüdischer Gelehrsamkeit und später auch der jüdischen Aufklärung. Von den ab 1941<br />

durchgeführten Deportationen überlebten von den knapp 50.000 Juden nur 7.500.<br />

Die meisten wanderten nach Israel und in die USA aus. Heute leben noch etwa 1.500<br />

Jüdinnen und Juden in der 1,3-Millionen-Hauptstadt Tschechiens.<br />

© Thomas Ledl, 2016, Commons Wikimedia<br />

44 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 44 07.03.22 11:49


URBAN LEGENDS<br />

Endlich<br />

tut sich etwas<br />

„Judensterne“ und unpassende Vergleiche mit der NS-Zeit sind seit<br />

Monaten überaus laute Nebengeräusche der Proteste gegen<br />

Coronapräventionsmaßnahmen und Impfpflicht. Zeit, da<br />

die Stopptaste zu drücken.<br />

n meinem Seminar heute musste ich<br />

tatsächlich erklären, warum Einführung<br />

von Zutrittsbändchen am Uni-Campus<br />

NICHT mit dem Tragen des Judensterns<br />

zu vergleichen ist. Nicht in #Sachsen, sondern an einer<br />

Hochschule mitten in Frankfurt“, twitterte Meron<br />

Mendel vor einigen Wochen. Die aktuell<br />

inflationär aufpoppenden Ver-<br />

Von Alexia Weiss<br />

gleiche mit der NS-Zeit stoßen dem<br />

Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt<br />

sauer auf.<br />

„Wer sich einen Judenstern mit der Aufschrift ‚ungeimpft‘<br />

anheftet, stellt sich völlig geschichtsvergessen<br />

mit den Opfern des Nationalsozialismus auf eine<br />

Stufe“, stellte Mendel zu solchen Vergleichen klar. Er<br />

erklärt: „Juden hatten in der Zeit des Nationalsozialismus<br />

nicht die Möglichkeit, Nicht-Juden zu werden.“<br />

Und: „Auch das demokratische System von heute<br />

und die Diktatur von damals unterscheiden sich.“ Drei<br />

einfache und präzise Social-Media-kompatible Sätze,<br />

nach deren Lektüre alles klar sein sollte. Nur wer liest<br />

die Tweets des Leiters der Bildungsstätte Anne Frank,<br />

wenn er im Netz durch den Sumpf verschwörungstheoretischer<br />

Seiten watet?<br />

In mehreren Bundesländern Deutschlands geht daher<br />

nun die Justiz verstärkt gegen Symbole und Äußerungen,<br />

die im Rahmen von Corona-Protesten die<br />

Schoah relativieren, vor. Begrüßt wurde das umgehend<br />

vom Internationalen Auschwitz Komitee. „Angesichts<br />

der zunehmenden Verhärtung und Selbstverklärung,<br />

die bei Aktivitäten von Corona-Demonstranten zutage<br />

tritt, begrüßen Überlebende des Holocaust diese juristische<br />

Klarstellung durch die Bundesländer sehr“,<br />

erklärte Christoph Heubner, der Vizepräsident des<br />

Auschwitz-Komitees.<br />

Er ergänzte: Die Selbststilisierung von Demonstranten<br />

zu angeblichen Opfern eines Systems, das mit<br />

dem Nazi-System in Vergleich gebracht werde, verstärke<br />

auch die Intensität von Spaltung, Verachtung<br />

und Hass, mit der die Demonstranten auf ihre Umwelt<br />

herabsehen würden. „Für Holocaust-Überlebende<br />

sind diese Vergleiche immer falsch, anmaßend und<br />

schmerzlich gewesen.“<br />

Diese Sichtweise beginnt sich nun auch im offiziellen<br />

Österreich durchzusetzen. Nationalratspräsident<br />

Wolfgang Sobotka sind die „Ungeimpft“-„Judensterne“<br />

ein massiver Dorn im Auge. Auch er verweist dabei<br />

auf die Gefühle von Überlebenden und deren Nachkommen,<br />

aber nicht nur. Er regte an, Antisemitismus<br />

als Straftatbestand zu verankern. Dabei böte sich das<br />

Verbotsgesetz an, er wolle einem Diskussionsprozess,<br />

der hier nun einsetzen sollte, aber nicht vorgreifen.<br />

Im Justizressort verweist man darauf, dass aktuell ohnehin<br />

eine Arbeitsgruppe das Verbotsgesetz evaluiere.<br />

Hier könne man Sobotkas Anstoß in die Beratungen<br />

mit hineinnehmen.<br />

Für Holocaust-Überlebende sind<br />

diese Vergleiche immer falsch, anmaßend<br />

und schmerzlich gewesen.<br />

„Endlich!“, möchte man rufen. Endlich tut sich<br />

etwas. Nun dauern solche Gesetzwerdungsprozesse<br />

zwar länger, und sollte die Pandemie früher vorbei<br />

sein, als das Verbotsgesetz novelliert wird, könnten<br />

die „Judensterne“ wieder sozusagen von selbst aus den<br />

Straßen verschwunden sein. Doch kommt die nächste<br />

Empörungsdebatte bestimmt, und Vergleiche mit der<br />

NS-Zeit gab es auch schon in anderen Kontexten: seitens<br />

der Tierschützerszene etwa oder wenn es um den<br />

Umgang Israels mit Gaza geht. Eine Demokratie zeichnet<br />

auch aus, dass Positionen abgesteckt und neue Gesetze<br />

oder Gesetzesänderungen ausverhandelt werden.<br />

Und das ist gut. Genau das unterscheidet das<br />

Heute vom Damals, mit dem heute untreffenderweise<br />

so gerne verglichen wird.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

marz_22.indb 45 07.03.22 11:49


MÄRZ KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

LESUNG, KONZERT<br />

19:30 Uhr<br />

Theater Akzent,<br />

Theresianumgasse 18, 1040 Wien<br />

akzent.at<br />

17. MÄRZ <strong>2022</strong><br />

LIEBER MESCHUGGE<br />

ALS TOT!<br />

Der Titel klingt so humorvoll wie<br />

ironisch – wären da nicht die Geschichte<br />

und Realität, die davon<br />

berichten, dass viele, die dachten,<br />

das alles, was da kam, nur<br />

„meschugge“ sein müsste und<br />

keinesfalls Wirklichkeit, die Welt<br />

„danach“ nicht mehr erleben<br />

durften ...<br />

Klavier-Entertainer Bela Koreny<br />

geht an diesem Abend<br />

im Rahmen des Yiddish Culture<br />

Festival Vienna <strong>2022</strong> mit<br />

der Sängerin Ethel Merhaut und<br />

Schauspielerin und Sängerin Katharina<br />

Straßer auf Spurensuche<br />

nach einigen der einstigen Größen<br />

des österreichisch-jüdischen<br />

Kabaretts – von denen die meisten<br />

nicht so meschugge waren,<br />

der Wahrheit nicht ins Auge zu<br />

sehen: ein bewegender Musikliteraturbend,<br />

der von Wien und<br />

Budapest nach Berlin und Hollywood<br />

und wieder zurück führt.<br />

THEATER, FILM, DISKURS<br />

Kasematten Wiener Neustadt<br />

Bahngasse 27, 2700 Wiener Neustadt<br />

wortwiege.at<br />

BIS 13. MÄRZ<br />

LITERATUR AUF DER SPUR<br />

Mit ihrem Ensemble wortwiege macht<br />

die vielseitige Wiener Regisseurin und<br />

Autorin Anna Maria Krassnigg nun –<br />

nach der einstigen jüdischen Turnhalle<br />

in der Herzklotzgasse und dem einzigartigen<br />

Ambiente des Thalhofs in Reichenau<br />

– in den ehemaligen Wehranlagen<br />

von Wiener Neustadt, den historischen<br />

Kasematten, künstlerischen Halt. Wie<br />

gewohnt präsentiert Krassnigg hier ein<br />

hochkarätiges Programm zwischen<br />

Klassik, Moderne und Diskurs – im März<br />

<strong>2022</strong> startet sie mit Szene Österreich ein<br />

weiteres neues Projekt, das die Künstlerin<br />

selbst als „ein Format zwischen<br />

dramatischem Erzählen und Live-Musik,<br />

gesetzt in die subtilen Räume der<br />

bildenden Künstlerin Lydia Hofmann“<br />

bezeichnet. Neben Texten von Theodora<br />

Bauer und Erwin Riess bietet die<br />

Reihe zum Start auch gleich zwei „Specials“:<br />

einen Film über Marie von Ebner-Eschenbach<br />

mit Erni Mangold (Die<br />

Großmutter) und eine Folge der beliebten<br />

Dialogreihe Salon Royal, bei dem<br />

sich die beiden Autor:innen mit prominenten<br />

Gästen und dem Publikum<br />

über die Aktualität der Stoffe und Themen<br />

des Frühlingszyklus unterhalten.<br />

AUSSTELLUNG<br />

Kubus Export<br />

Hernalser Gürtel 56,<br />

Bogen 48, 1080 Wien<br />

BIS 13. MÄRZ<br />

JOHANNA DOHNAL IM<br />

PORTRÄT VON FRAUEN <strong>2022</strong><br />

„Die Geschlechterfrage spielt so lange eine<br />

Rolle, wie die Gleichberechtigung nicht umgesetzt<br />

ist.“ (Johanna Dohnal)<br />

Sie war und ist bis heute eine der größten<br />

„Frauen-Politikerinnen“ der Zweiten Republik.<br />

Vieles, was Johanna Dohnal initiieren<br />

und bewirken konnte, ist für junge Frauen<br />

von heute „ganz normal“. Vieles war bis<br />

zu ihrem Wirken kaum vorstellbar bis utopisch;<br />

manches scheint noch heute nicht<br />

in unserer Gesellschaft „angekommen“ zu<br />

sein und zeigt schmerzhaft auf, wie „visionär“<br />

selbst grundlegende Forderungen der<br />

bedeutenden „Netzwerkerin“ gewesen waren.<br />

Die von der Wiener Künstlerin Ulrike<br />

Wieser im Rahmen der aktuellen Ausstellung<br />

im Valie Export gewidmeten Kunst-Kubus<br />

der Stadt Wien präsentierten Porträts<br />

junger Wienerinnen verweisen auf einfache<br />

und subtile Weise auf das Wirken und<br />

die Bedeutung Dohnals – nicht wenige der<br />

porträtierten Frauen wussten bis zum Erscheinen<br />

des Films Die Dohnal von Sabine<br />

Derflinger (2019) nichts von der großen österreichischen<br />

Politikerin: „In der Schule kein<br />

einziges Wort von Johanna Dohnal gehört“,<br />

erklärt eine von ihnen. In persönlichen Gesprächen<br />

erzählen Frauen von sich, ihren<br />

Familien und ihren Berufen. Das Netzwerk,<br />

die dichtgewobenen Verbindungslinien, die<br />

aus den Porträts und den sie begleitenden<br />

Gesprächen entstehen, zeichnet Susanne<br />

Kompast in einer Lichtinstallation nach.<br />

© Yiddish Culture Festival Vienna (Folder), Alexandra Kromus, Ludwig-Drahosch, Bernd Fischer, Andrea Peller<br />

46 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 46 07.03.22 11:49


THEATERWANDERUNG<br />

13:30 Uhr<br />

Restaurant Klösterle,<br />

Zug 27, 6764 Lech<br />

teatro-caprile.at<br />

KONZERT<br />

19:30 Uhr<br />

MuTh, Am Augartenspitz 1,<br />

1020 Wien<br />

klezmer.at/events<br />

KONZERT<br />

19 Uhr<br />

Mashu Mashu,<br />

Neubaugasse 20, 1070 Wien<br />

shlomitbutbul.com<br />

27. MÄRZ<br />

PESSACH, GARANTIERT<br />

BESCHWINGT<br />

Roman Grinberg und das Yiddish<br />

Swing Orchestra laden gemeinsam<br />

mit Dirigent Alexander Willens<br />

(USA) im Rahmen des Yiddish<br />

Culture Festival Vienna <strong>2022</strong><br />

zum festlich-schwungvollen Galakonzert<br />

ins MuTh Wien ein: Swingin’<br />

Pessach!<br />

Dass zu Grinbergs musikalischen<br />

Leidenschaften Klezmer und Jazz<br />

zählen, wissen die meisten, dass<br />

er diese gekonnt mit allen Traditionen<br />

und Facetten der jüdischen<br />

Musik(geschichte) zu vereinen<br />

weiß, weiß man spätestens nach<br />

einem seiner mitreißenden Konzerte,<br />

die der Brückenbauer zwischen<br />

den Kulturen und Generationen<br />

immer wieder zur Freude<br />

seiner Fangemeinde neu konzipiert.<br />

Und auch dieses Mal ist Grinbergs<br />

junges Yiddish Swing Orchestra<br />

mit dabei und präsentiert<br />

ein Programm, das mit Klezmer-<br />

Klängen, Swing und Bossa Nova<br />

kaum jemanden auf den Stühlen<br />

hält.<br />

25. + 27. MÄRZ<br />

THEATRALE WANDERUNG<br />

Mit seinen immer wieder überraschenden theatralen<br />

Wanderungen beeindruckt das Wiener<br />

Ensemble teatro caprile rund um Regisseur<br />

Andreas Kosek seit mehreren Jahren – und<br />

das, obwohl die Produktionen so einiges von<br />

Darsteller:innen und Publikum abverlangen:<br />

neben Kondition und Ausdauer sind das vor allem<br />

das Interesse, sich mit den herausfordernden<br />

Themen der Stücke auseinanderzusetzen.<br />

So auch im neuen Projekt Ski Labor Lech 2, das<br />

im Rahmen einer vierstündigen gemeinsamen<br />

szenischen Reise von Zug bis Omesberg führt<br />

und sich mit den Pionieren des Skisports am<br />

Arlberg beschäftigt – einer dieser Pioniere war<br />

der Rudolf Emanuel Karl Gomperz. Aus einer<br />

assimilierten österreichisch-ungarischen Familie<br />

kommend, zog Gomperz 1905 aufgrund einer<br />

schweren Erkrankung nach St. Anton, wo er<br />

zu einem prägenden Wegbereiter des Ski-Tourismus<br />

in Österreich wurde. 1924 begannen die<br />

antisemitischen Schikanen bereits, doch Gomperz<br />

hoffte selbst nach dem „Anschluss“ noch,<br />

aufgrund seiner eigenen deutsch-nationalen<br />

Gesinnung – er hatte die IKG Wien bereits 1899<br />

verlassen und sich evangelisch taufen lassen –,<br />

nicht weiterverfolgt zu werden: 1942 wurde er<br />

geswungen, St. Anton zu verlassen und sich<br />

in einem Wiener Sammellager zu melden. Nur<br />

wenige Tage darauf wurde er nach Maly Trostinez<br />

deportiert und umgehend erschossen.<br />

Ihm wie auch anderen frühen Ski-Idolen, deren<br />

Geschichten und den bis heute vielfach ikonografisch<br />

gewordenen Orten ihrer Tätigkeit ist<br />

die Winter-Theater-Wanderung gewidmet.<br />

VORSCHAU: 2. APRIL<br />

SHLOMITS WIEN<br />

Shlomit Butbul, Sängerin, Schauspielerin<br />

und Entertainerin, lebte lange<br />

nicht in Österreich, lange nicht in<br />

Wien. Heute ist sie wieder hier angekommen.<br />

Und beweist mit ihrem<br />

neuen Programm Mein Wien, wie<br />

stark ihre Bindung zu dieser Stadt ist.<br />

Und wie herrlich sie auch im Wiener<br />

Dialekt vom Leben singen und erzählen<br />

kann. Und weil die dreifache Mutter,<br />

die als Intendantin gearbeitet hat<br />

und aktuell noch bis 10. April auf der<br />

Bühne Baden in Anatevka zu sehen<br />

ist, vor Energie nur so sprüht, unterrichtet<br />

sie auch an der Wiener Schauspielschule<br />

Krauss. „Ich will die Menschen<br />

berühren und zum Lachen<br />

bringen“, erzählt die Künstlerin, der es<br />

bei aller Wandelbarkeit immer auch<br />

darum geht, „sich selbst treu zu bleiben“.<br />

So ist auch dieses Programm<br />

ein sehr persönliches, in dem die<br />

Vielgereiste sich ihrer eigenen Wiener<br />

Vergangenheit – und Gegenwart –<br />

stellt. Und ihrer Liebe zum Austropop<br />

von den Siebzigerjahren bis heute.<br />

Viele Songs sind aus dem heimischen<br />

Liedgut nicht mehr wegzudenken,<br />

viele sind aber auch in Vergessenheit<br />

geraten. Mit dieser Hommage trägt<br />

Shlomit Butbul beherzt dazu bei, das<br />

nachhaltig zu ändern.<br />

Mit: Shlomit Butbul (Gesang), Wolfo Schmidt<br />

(Klavier), Tommy Böröcz (Schlagzeug)<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: <strong>wina</strong>.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

marz_22.indb 47 07.03.22 11:49


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

dass ich dachte, „Festival-Intendant ist ein super<br />

Job!“, war …<br />

... im Jahre 2017, als ich von Kurt Rosenkranz und<br />

Hanna Morgenstern gefragt wurde, ob ich die Leitung<br />

des Yiddish Culture Festivals übernehmen würde. Mit<br />

Begeisterung willigte ich ein, denn die Festivals, die<br />

ich davor leitete (erstmals 2005 das KlezVienna), waren<br />

verhältnismäßig einfach zu organisieren. Heute<br />

weiß ich, dass gerade das Yiddish Culture Festival Vienna<br />

eine enorme Herausforderung in der Planung,<br />

Abwicklung und Finanzierung darstellt. Gleichzeitig ist<br />

es eine der schönsten Aufgaben, die mir in meinem<br />

Berufsleben zuteil geworden sind. So betrachtet ist es<br />

nach wie vor ein Superjob – nicht zuletzt dank meines<br />

kleinen, aber hochmotivierten Teams, das meine Arbeit<br />

seit Jahren unentgeltlich unterstützt. Ich bin diesen<br />

Menschen sehr dankbar.<br />

Das letzte Mal zu einem Popsong im Radio habe ich<br />

mitgesungen oder -gepfiffen …<br />

Ich höre zwar viel Musik, auch im Radio, aber ich singe<br />

niemals dazu und pfeife schon gar nicht (im Lied Reyzele<br />

heißt es: „Pfeifen – das ist doch nicht Jiddisch“).<br />

Es ist mir einfach nicht möglich, Musik im Hintergrund<br />

laufen zu lassen. Soweit ich weiß, kann es kaum ein<br />

Berufsmusiker. Ich habe auch größte Schwierigkeiten,<br />

mich auf ein Gespräch in einem Café zu konzentrieren,<br />

wenn dort Hintergrundmusik aus den Lautsprechern<br />

tönt. Bei Musik bin ich total fokussiert und höre<br />

analytisch. Höre also, welches Instrument welchen<br />

Part spielt und warum. Wie ist die Melodieführung<br />

der Sängerin, des Sängers, die Farbe und Interpretation,<br />

die Harmonisierung und so weiter ...<br />

Das letzte Mal, dass ich einen Song vorschlug und<br />

der Jüdische Chor ihn ablehnte, war …<br />

… vor etwa fünf Jahren. Da schlug ich vor, das Chorjahr<br />

der Diversität in Europa zu widmen, und zwar<br />

wollte ich jeweils ein Lied in den wichtigsten europäischen<br />

Sprachen einstudieren. Das lehnte der Vorstand<br />

aber ab, und zwar mit einer sehr plausiblen Begründung,<br />

wie ich finde: „Wir sind ein jüdischer Chor und<br />

unsere Choristen sind hier Mitglieder, weil sie jüdische<br />

Lieder singen wollen. Es gibt genügend andere<br />

Chöre, die in anderen Sprachen bzw. Lieder anderer<br />

Völker singen.“ Es war das erste und einzige Mal, das<br />

ich etwas vorschlug, das abgelehnt worden ist. Normalerweise<br />

wird alles mit Begeisterung aufgenommen.<br />

Es war aber auch das erste Mal, das ich überhaupt<br />

gefragt hatte. Ich war mir ja selbst nicht sicher,<br />

ob es für uns das richtige Repertoire wäre.<br />

Das letzte Mal, dass ich besonders viel „harz un gefil“<br />

in etwas investiert habe, war, …<br />

... als ich für meinen schwerkranken Bruder ein Lied in<br />

Jiddisch geschrieben habe. Beim Versuch, es zu singen,<br />

bin ich aber gescheitert. Ich muss noch die Sicherheit<br />

bekommen, nicht in Tränen auszubrechen. Am<br />

27. März will ich es im MuTh wieder versuchen.<br />

„PFEIFEN – DAS IST<br />

DOCH NICHT JIDDISCH“<br />

Es gibt für alles ein erstes Mal – aber auch ein letztes! In diesem<br />

Monat erklärt uns Roman Grinberg, warum er auf Kaffeehausmusik<br />

verzichten und im Chor nicht jedes Lied anbringen kann.<br />

Roman Grinberg, 1962 in Moldau als zweites von<br />

vier Kindern einer Musikerfamilie geboren, ist als<br />

Komponist, Arrangeur, Sänger, Entertainer, Schauspieler,<br />

Humorist, Chor- und Orchesterleiter sowie<br />

Pianist tätig. Darüber hinaus ist er Intendant des European<br />

Jewish Choirs Festival und des Yiddish Culture<br />

Festival Vienna, in dessen Rahmen er in diesem<br />

Jahr zu Swingin’ Pessach einlädt.<br />

27. März <strong>2022</strong>, 19:30 Uhr, MuTh,<br />

yiddishculturevienna.at<br />

© Daniel Shaked<br />

48 wına | März <strong>2022</strong><br />

marz_22.indb 48 07.03.22 11:49


KONZERT MIT LESUNG<br />

10. APRIL <strong>2022</strong>, 19:30<br />

Charlotte Salomon Found<br />

Credits David Beecroft Rosa Frank<br />

Nestroyhof<br />

Hamakom<br />

2., Nestroyplatz 1<br />

CHARLOTTE SALOMON -<br />

ES IST MEIN GANZES LEBEN<br />

Politisch-historisches Erinnern mit allen Sinnen<br />

Therese Hämer,<br />

Lesung ihrer Texte über die jüdische<br />

Malerin Charlotte Salomon<br />

Julie Sassoon Quartet,<br />

Musikalische Begleitung<br />

Julie Sassoon,<br />

Piano<br />

Lothar Ohlmeier,<br />

Saxophone & Bass Clarinet<br />

Meinrad Kneer,<br />

Double Bass<br />

Rudi Fischerlehner,<br />

Drums<br />

org‘ gut dafür: Es ist mein ganzes Leben“:<br />

„SMit diesen Worten übergab die Malerin<br />

Charlotte Salomon im Jahre 1942 einem<br />

Freund einen Zyklus von mehreren hundert<br />

Bildern (Gouachen). Einige Monate später war<br />

die 26- Jährige tot - als Jüdin in Auschwitz ermordet.<br />

Das Projekt der politisch-historischen<br />

und kulturellen Bildung erinnert an Leben und<br />

Sterben Charlotte Salomons und damit an das<br />

schrecklich-typische Schicksal einer jungen<br />

deutschen Jüdin; es erinnert gleichzeitig aber<br />

auch an das einzigartige Werk einer vielversprechenden<br />

Malerin, das nach ihrer Ermordung<br />

für lange Jahre vergessen war. Durch<br />

die Texte von Therese Hämer und die musikalische<br />

Begleitung des Julie Sassoon Quartetts<br />

werden die Erinnerungen an die jüdische Malerin<br />

Charlotte Salomon hochgehalten und die<br />

kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />

gefördert.<br />

Mehr Informationen und Karten in Kürze erhältlich unter: www.ikg-wien.at/kultur<br />

Die Ukraine-Hilfe der IKG Wien<br />

www.ikg-wien.at/ukraine-hilfe<br />

cover_0322.indd 3 07.03.22 12:29


KONZERT MIT LESUNG<br />

10. APRIL <strong>2022</strong>, 19:30<br />

Charlotte Salomon Found<br />

Credits David Beecroft Rosa Frank<br />

Nestroyhof<br />

Hamakom<br />

2., Nestroyplatz 1<br />

CHARLOTTE SALOMON -<br />

ES IST MEIN GANZES LEBEN<br />

Politisch-historisches Erinnern mit allen Sinnen<br />

Therese Hämer,<br />

Lesung ihrer Texte über die jüdische<br />

Malerin Charlotte Salomon<br />

Julie Sassoon Quartet,<br />

Musikalische Begleitung<br />

Julie Sassoon,<br />

Piano<br />

Lothar Ohlmeier,<br />

Saxophone & Bass Clarinet<br />

Meinrad Kneer,<br />

Double Bass<br />

Rudi Fischerlehner,<br />

Drums<br />

org‘ gut dafür: Es ist mein ganzes Leben“:<br />

„SMit diesen Worten übergab die Malerin<br />

Charlotte Salomon im Jahre 1942 einem<br />

Freund einen Zyklus von mehreren hundert<br />

Bildern (Gouachen). Einige Monate später war<br />

die 26- Jährige tot - als Jüdin in Auschwitz ermordet.<br />

Das Projekt der politisch-historischen<br />

und kulturellen Bildung erinnert an Leben und<br />

Sterben Charlotte Salomons und damit an das<br />

schrecklich-typische Schicksal einer jungen<br />

deutschen Jüdin; es erinnert gleichzeitig aber<br />

auch an das einzigartige Werk einer vielversprechenden<br />

Malerin, das nach ihrer Ermordung<br />

für lange Jahre vergessen war. Durch<br />

die Texte von Therese Hämer und die musikalische<br />

Begleitung des Julie Sassoon Quartetts<br />

werden die Erinnerungen an die jüdische Malerin<br />

Charlotte Salomon hochgehalten und die<br />

kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />

gefördert.<br />

Mehr Informationen und Karten in Kürze erhältlich unter: www.ikg-wien.at/kultur<br />

Die Ukraine-Hilfe der IKG Wien<br />

www.ikg-wien.at/ukraine-hilfe<br />

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cover_0322.indd AZ_Inserat_Reissner_<strong>2022</strong>0201_cec.indd 4 1 01.02.<strong>2022</strong> 07.03.22 10:43:39<br />

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