Mariusz Horanin Dissertation_SUB
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1894 von dem Schweizer Tropenarzt Alexandre Yersin (1863-1943) in Hongkong isoliert und
nach den Prinzipien der Bakteriologie beschrieben. Der französische Forscher Paul Louis
Simond (1858-1947) entdeckte dagegen im Jahr 1898 den Rattenfloh als Hauptüberträger der
Krankheit. Nach diesen ersten spektakulären Erkenntnissen benötigte die bakteriologische
Forschung noch nahezu 50 Jahre, um die wichtigsten Übertragungswege der Krankheit
vollständig aufzuklären und wirksame chemotherapeutische Mittel zu erfinden. Dank diesen
langjährigen Anstrengungen der medizinischen Forscher ist die Pest als epidemiologisches
Problem heutzutage weitgehend beseitigt, auch wenn das nicht bedeutet, ihre Ursprungsherde
unter weiterhin infizierten Nagetieren völlig ausgerottet zu haben.
Die moderne Medizinwissenschaft definiert also die Pest als eine exakt bestimmte
Krankheitseinheit, deren Ätiologie, Verlauf sowie mögliche Behandlungsmethoden
mikrobiologisch aufgeklärt sind. Diese Tatsache kann leicht zu dem Fehlschluss führen, dass
sich dieses biologische Phänomen auch in der Vergangenheit retrospektiv verfolgen lässt 6 .
Man muss hier zunächst zwei verschiedene Vorgehensweisen unterscheiden, mit denen die
Infektionskrankheiten in der Geschichte erforscht werden können. Eine retrospektive
Diagnose im Sinne der modernen Krankheitseinheit ist nämlich nur im Rahmen der
Paläopathologie möglich, indem man in organischem Material mit molekulargenetischen
Verfahren bakterielle DNA nachweist 7 . Bei einer solchen Untersuchung wurde beispielsweise
das Bakterium Yersinia pestis in den Knochenresten von zwei Erwachsenen und einem Kind
auf einem Pestfriedhof von 1348 in Montpellier nachgewiesen 8 . Damit konnten aber nur
einzelne Krankheitsfälle identifiziert werden, wodurch über den Verlauf der damaligen
Epidemie noch keine genauere Aussage getroffen ist. Derartige paläopathologische Befunde
gehören dabei in ihrer Aussagekraft zur modernen Medizin, weil sie auf denselben
naturwissenschaftlichen Methoden basieren. Aus diesem Grund sind sie für Historiker wenig
hilfreich und können das Bild der Seuchengeschichte einzig ergänzen.
Die Geschichtswissenschaft richtet dagegen ihr Augenmerk auf die Analyse der schriftlichen
Quellen, die Auskunft über Seuchen in der Vergangenheit geben können. Für die
vormikrobiologische Ära sind darin ausschließlich Informationen über die damaligen
6 Zum methodischen Problem der retrospektiven Diagnose in der Medizingeschichte einschlägig: CUNNINGHAM,
Transforming plague; LEVEN, Krankheiten - historische Deutung vs. retrospektive Diagnose; DERS., Von Ratten
und Menschen, S. 25-32; KINZELBACH, Gesundbleiben, Krankwerden, S. 134-190; STEIN, Franzosenkrankheit,
S. 13-24; JANKRIFT, Up dat god sich aver uns verbarmen wolde, S. 61-75.
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Allgemein zum Thema der Paläopathologie: ROBERTS/MANCHESTER, The Archaeology of Disease;
ROTHSCHILD/MARTIN, Paleopathology; LEVEN, Retrospective Diagnosis and Ancient Medical History; Zur
paläopathologischen Untersuchung der Pest, vgl. in: DRANCOURT/RAOULT, Molecular insights; MCCORMICK,
Rats, Communications, and Plague.
8 DRANCOURT/RAOULT, Molecular insights, S. 108.
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