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KSSG_Magazin_150Jahre

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HAPPY<br />

BIRTHDAY<br />

1


Liebe Leserinnen und Leser<br />

INHALT<br />

4 Ein Chirurg von Weltruf<br />

6 Unglaubliche Geschichten<br />

8 Die Feder so scharf wie ein Skalpell –<br />

Dr. Jakob Laurenz Sonderegger<br />

10 Die Champions League der<br />

biomedizinischen Forschung<br />

12 Rocket Science<br />

14 Gebaute Geschichte<br />

16 Jede Geburt ist ein Wunder<br />

38 Herzens angelegenheit<br />

42 Mr. Kantonsspital –<br />

Hans Leuenberger<br />

44 So war es damals, so ist es heute<br />

46 Wir sind Gastropioniere –<br />

Zeitzeuge Sandro Russi<br />

48 Ein Blick hinter die Kulissen<br />

des Kantonsspitals St.Gallen<br />

54 Chefärztin Nummer eins –<br />

Prof. Dr. Christa Meyenberger<br />

12<br />

32<br />

38<br />

150 Jahre Kantonsspital St.Gallen –<br />

eine Zahl, die für sich selbst spricht! Ein<br />

guter Grund, sich Zeit zu nehmen, um<br />

die Erfolgsgeschichte unseres Spitals<br />

Revue passieren zu lassen und einen<br />

Blick in die Zukunft zu wagen.<br />

Schon seit seiner Gründung am 1. Mai<br />

1873 wird im Kantonsspital St.Gallen<br />

fortschrittlich gearbeitet. Durch den Mut<br />

zur Innovation und den tatkräftigen Einsatz<br />

unserer Mitarbeitenden konnte sich<br />

das Kantonsspital St.Gallen, das einst<br />

aus lediglich vier Bereichen bestand, in<br />

den letzten Jahrzehnten zum grössten und bedeutendsten Spital der Ostschweiz<br />

entwickeln und eine medizinische Versorgung auf universitärem Niveau erreichen.<br />

Heute zählt es mehr als 50 Kliniken und Bereiche mit über 6ʼ000 Mitarbeitenden,<br />

versorgt jährlich 33ʼ379 stationäre Patientinnen und Patienten und verzeichnet<br />

nahezu 520ʼ000 ambulante Besuche – eine Entwicklung, die sich sehen lassen<br />

kann und weiterhin vorangetrieben und optimiert wird.<br />

20 Für den Durchblick<br />

22 Ich spürte: Ich kann das –<br />

Zeitzeugin Chantal Osterwalder<br />

24 Das gebündelte Wissen<br />

28 Das Kantonsspital St.Gallen −<br />

ein starker Partner<br />

30 Gratulationen aus der St.Galler<br />

Gesundheitsbranche<br />

32 Zeitraffer – 150 Jahre im<br />

Schnelldurchlauf<br />

56 Laser gegen Tumor<br />

58 Zwischen Mensch und Medtech<br />

61 Der Innovationsgeist bleibt gefordert<br />

62 Der Mann für alle Fälle –<br />

Zeitzeuge Florian Rohner<br />

64 Im Gespräch: Lernende und<br />

CEO über die Zukunft<br />

68 Unsere Zukunft: Wünsche und<br />

Visionen junger Mitarbeitenden<br />

70 Karrikatur – das Kantonsspital St.Gallen<br />

in 150 Jahren<br />

16<br />

24<br />

58<br />

64<br />

150 Jahre Kantons spital St.Gallen – wir wollen dieses Jubiläum auch nutzen, um<br />

Danke zu sagen! Wir bedanken uns für den täglichen Einsatz unserer Mitarbeitenden,<br />

für die Treue und das langjährige Vertrauen in uns und unsere Leistungen<br />

seitens Partnerinnen und Partner sowie Patientinnen und Patienten.<br />

Rückblickend auf die innovative Entwicklung und den Erfolg der letzten 150 Jahre<br />

sind wir uns sicher, dass die Geschichte des Kantonsspitals St.Gallen noch lange<br />

weiter geschrieben wird. Wie es hier wohl in weiteren 150 Jahren aussehen wird?<br />

Eines steht fest: Unabhängig von den zukünftigen Entwicklungen im Gesundheitswesen<br />

sind und bleiben es unsere Patientinnen und Patienten, für die wir täglich<br />

unser Bestes geben. Ganz nach dem Motto: «Wir sind immer für Sie da – jeden<br />

Tag, rund um die Uhr.»<br />

Tauchen Sie ein in die Geschichte des Kantonsspitals St.Gallen und geniessen Sie<br />

in diesem <strong>Magazin</strong> einen Einblick in die vergangenen 150 Jahre unseres Unternehmens.<br />

Herzliche Grüsse<br />

2<br />

3


Ein Chirurg von Weltruf<br />

Die Klinik für Orthopädische Chirurgie im Kantonsspital<br />

St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) geniesst weit über die Landesgrenzen<br />

hinaus einen guten Ruf. Das liegt in erster Linie an ihrem<br />

Chefarzt, dem Orthopäden Prof. Dr. Maurice E. Müller. Er gilt<br />

als Pionier der Osteosynthese, also der operativen Knochenbruchbehandlung<br />

mit Implantaten. Am <strong>KSSG</strong> setzt er erstmals<br />

1961 einem Patienten eine Hüftgelenkstotalprothese<br />

ein – sechs Jahre, bevor es ihm Spitäler im restlichen Europa<br />

gleichtun. Hunderte Fachleute aus aller Welt pilgern jährlich<br />

nach St.Gallen, um sich von Prof. Dr. Müllers Methoden<br />

inspirieren zu lassen.<br />

4


1849 1873<br />

Gewappnet für den Notfall<br />

Jakob Laurenz Sonderegger,<br />

der spätere Gründer des<br />

Kantonsspitals, ist vor seinem medizinischen Staatsexamen<br />

im Jahr 1849 so nervös, dass er schon mal den Reisepass<br />

einsteckt, damit er durchbrennen kann, falls er durchfällt.<br />

So weit kommt es nicht: Sonderegger besteht mit Bestnoten.<br />

In 150 Jahren Geschichte kann einiges geschehen.<br />

Diese Beispiele stehen für manch spannende Episode.<br />

Freund von Henry Dunant<br />

Der erste Assistent am<br />

Kantonsspital heisst<br />

Hermann Altherr (1848 – 1927).<br />

Später wird er Nationalrat und Spitalarzt in Heiden.<br />

Hier nimmt er Henry Dunant, den Gründer<br />

der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung,<br />

als Pensionär auf. Dunant ist<br />

aus Stuttgart ins Appenzellerland gereist, um mit<br />

frischer Luft und Ruhe seine Hautekzeme und<br />

Bauchbeschwerden zu lindern.<br />

UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN<br />

Berlin<br />

1873<br />

1974<br />

Modeschau im Hörsaal<br />

Sechs freiwillige Pflegerinnen<br />

führen 1974 verschiedene Optionen<br />

neuer Dienstkleidung für die<br />

Pflegekräfte vor, die Mitarbeitenden<br />

im Publikum dürfen abstimmen.<br />

103 von 119 Stimmen sprechen sich<br />

für die Farbe Weiss aus, 93 dafür, dass<br />

der Name auf die Dienstkleidung<br />

gestickt wird.<br />

Chaos beim Bau<br />

Das Kantonsspital St.Gallen hätte den Betrieb bereits<br />

1872 aufnehmen sollen statt erst am 1. Mai 1873. Die Bauarbeiten<br />

verzögern sich, weil Backsteinmangel herrscht<br />

und das in Saarbrücken bestellte Glas wegen des Deutsch-<br />

Französischen Kriegs nicht rechtzeitig geliefert wird. Und<br />

dann wird auch noch gepfuscht, sodass etwa die dampfbetriebene<br />

Zentralheizung – eine der ersten in der Schweiz<br />

– anfänglich nicht richtig funktioniert.<br />

1890<br />

Der Forschung verschrieben<br />

Der erste Pathologe am Kantonsspital,<br />

Dr. Arthur Hanau, arbeitet<br />

1890 unentgeltlich – auf eigenen<br />

Wunsch. Er will bei seiner Forschungsarbeit<br />

am <strong>KSSG</strong><br />

möglichst unabhängig<br />

sein.<br />

1912<br />

4 dl 5 dl<br />

Darf’s noch ein Gläschen<br />

Wein sein?<br />

Gemäss dem Speiseregulativ von<br />

1912 bekommt das Wart- und Dienstpersonal<br />

damals zur Arbeit täglich<br />

Wein oder Most vorgesetzt: vier Deziliter<br />

für Frauen, fünf für Männer. Wer<br />

weder Wein noch Most mag, darf auf<br />

eine Flasche Bier ausweichen.<br />

St.Gallen<br />

2018<br />

Ironwoman<br />

Etwas mehr als 13 Stunden benötigt<br />

Prof. Dr. Barbara Tettenborn,<br />

Chefärztin der Klinik für Neurologie<br />

– nicht für eine Operation, sondern für<br />

die Königsdisziplin des Triathlons, den<br />

Ironman auf Hawaii 2018: 3,86 Kilometer<br />

Schwimmen, 180 Kilometer Velofahren,<br />

42,195 Kilometer Laufen. Mit 13 Stunden,<br />

16 Minuten und 30 Sekunden erreicht die<br />

60-Jährige den neunten Rang in ihrer<br />

Alterskategorie.<br />

2021<br />

Unter Strom<br />

Bis zur Aufrichte des neuen Hauses 07A<br />

im Jahr 2021 werden 620 Kilometer<br />

Stromkabel verlegt. Das entspricht der<br />

Luftlinie St.Gallen – Berlin.<br />

3.86 km<br />

180 km<br />

42.195 km<br />

1917 Schwestern wecken<br />

Bis 1917 fehlte eine Nachtwache im <strong>KSSG</strong>. Brauchten Patientinnen<br />

oder Patienten in der Nacht Hilfe, waren sie auf die Unterstützung<br />

gehfähiger Zimmergenossinnen und -genossen angewiesen, die den<br />

Gang zum Schwesternzimmer auf sich nahmen und diese aufwecken<br />

mussten.<br />

1996<br />

Olympiagold<br />

Der ehemalige <strong>KSSG</strong>-Mitarbeiter Markus Gier und<br />

sein Bruder Michael rudern 1996 in Atlanta zu Olympiagold<br />

im Doppelzweier. Zurück in der Heimat<br />

werden sie bei der Schweizer Sportlerehrung zum<br />

«Team des Jahres» gekürt.<br />

6<br />

7


DIE FEDER SO SCHARF<br />

WIE EIN SKALPELL<br />

Dr. Jakob Laurenz Sonderegger (1825 – 1896) gilt als Gründervater<br />

des Kantonsspitals St.Gallen. Mit Herz, Verstand und spitzer Feder<br />

brachte er die Politik auf seine Seite.<br />

Arroganz, Lügen und Kantönligeist – Dr. Jakob<br />

Laurenz Sonderegger schwingt den rhetorischen<br />

Zweihänder, als er 1865 die Streitschrift «Spitalfrage<br />

im Kanton St.Gallen» zu Händen der Regierung und<br />

des Grossen Rates verfasst:<br />

«Wir dürfen nicht vornehm an dem Obdachlosen,<br />

an dem erkrankten Dienstboten, Handwerksgehilfen<br />

und Tagelöhner, an dem Verunglückten und<br />

dem armen Kranken vorübergehen und achselzuckend<br />

sagen: Ihr habt es gut genug. Doch wäret ihr<br />

in Zürich oder im Bündnerland liegen geblieben, so<br />

ginge es euch und uns besser. Wir haben eben kein<br />

Bedürfnis nach einem Krankenhause!»<br />

Seit Jahren fordern der Mediziner Sonderegger und<br />

einige Arztkollegen ein Kantonsspital für St.Gallen,<br />

doch die Politiker wollen davon nichts wissen.<br />

Warum auch? Viele von ihnen werden wie andere<br />

gutbetuchte Ortsbürgerinnen und Ortsbürger im<br />

städtischen Bürgerspital vorzüglich behandelt. Im<br />

kleinen Fremdenspital hingegen stirbt jede und<br />

jeder zweite Erkrankte an Wundbrand. Sieht so die<br />

Nächstenliebe im frommen St.Gallen aus?<br />

Ein Leiden folgt dem nächsten<br />

Sonderegger, Sohn einer angesehenen Beamtenfamilie<br />

aus Balgach im Rheintal, hat als kränkliches<br />

Kind am eigenen Leib erfahren, was eine rückständige<br />

medizinische Versorgung bedeutet. Er ringt mit<br />

einer Diphtherie, einer tödlichen Infektionskrankheit,<br />

die er zwar überlebt, die ihm aber nachhaltig<br />

das Reden erschwert.<br />

Als kränkliches Kind hat Sonderegger am eigenen<br />

Leib e rfahren, was eine rückständige medizinische<br />

Versorgung bedeutet.<br />

Erst disziplinierte Sprachübungen während des<br />

Medizinstudiums in Zürich machen ihn zum Redekünstler,<br />

sodass er sogar zum Präsidenten des Studentenvereins<br />

gewählt wird.<br />

Der Arzt Sonderegger bleibt aber stets auch ein<br />

Kranker, er kämpft im Verlauf seines Lebens mit<br />

einer Lungentuberkulose, mit einer lebensbedrohlichen<br />

Lungenentzündung, mit einem schwachen<br />

Herzen, Bronchitis und weiteren Gebrechen.<br />

Mitten in stürmische Zeiten<br />

Neben seinem persönlichen Leidensweg sind es<br />

politische und soziale Erfahrungen, die Sonderegger<br />

prägen.<br />

Im Herbst 1848 saugt der 23-jährige Medizinstudent<br />

im Wiener «Allgemeinen Krankenhaus» gerade die<br />

Eindrücke eines Grossbetriebs in sich auf, als im<br />

Kaisertum die Revolution ausbricht. Von den Hunderten<br />

fremden Ärzten nehmen fast alle Reissaus –<br />

Sonderegger bleibt, ob aus Pflichtbewusstsein oder<br />

Abenteuerlust. Jedenfalls hat er mit der Pflege von<br />

Verwundeten alle Hände voll zu tun.<br />

Ein Jahr später reist er nach Prag, nur um sich inmitten<br />

einer Choleraepidemie wiederzufinden – eine<br />

Armutskrankheit, verbreitet durch verschmutztes<br />

Trinkwasser. Sie verschafft dem Studenten Einblick<br />

in neue medizinische Welten, doch sie konfrontiert<br />

den jungen Mann auch mit viel Leid.<br />

Sonderegger kann alles<br />

In seiner Praxis in Balgach, Altstätten und St.Gallen<br />

erwirbt sich Sonderegger einerseits den Ruf,<br />

seine Patientinnen und Patienten unabhängig von<br />

ihrem Vermögen mit Sachverstand und Empathie<br />

zu behandeln. «Menschlich bedeutungsvoll ist alles,<br />

wenn man nicht Maschinen-Reparateur, sondern<br />

Arzt sein will», schreibt er in seiner Biografie.<br />

Andererseits macht er sich als Allgemeinmediziner,<br />

als Spezialist in der Gesundheitspflege, als<br />

Hygieniker, als Internist, Chirurg und Frauenarzt<br />

einen Namen – kurzum: Sonderegger kann alles.<br />

Und er schreibt mit spitzer Feder über Gesundheit<br />

und Politik, wird Kantonsrat, «um ein bisschen am<br />

Steuerruder des Staates mitzuzerren», steht dem<br />

kantonalen Ärzteverein vor, später der Schweizerischen<br />

Ärztekommission, wo er den Bundesrat in<br />

gesundheitspolitischen Fragen berät.<br />

Auch sein sprachgewaltiger Einsatz zugunsten eines<br />

Kantonsspitals in St.Gallen zeigt Wirkung. 1873 wird<br />

das einstige Fremdenspital, das jetzt Gemeindespital<br />

heisst, erweitert und zum Kantonsspital St.Gallen<br />

erhoben. Sonderegger wird zur ersten Aufsichtsperson<br />

gewählt, oder wie er es nennt: zum «Vermittler<br />

zwischen Staatswagen und Krankenwagen».<br />

Im Juni 1896 besucht Sonderegger «sein» Kantonsspital<br />

ein letztes Mal – wegen einer Erkrankung im<br />

Magen-Darm-Trakt. Die Gastroenterostomie, also<br />

die operative Verbindung von Magen und Dünndarm,<br />

gelingt in diesem nun hochmodernen Spital<br />

ohne Schwierigkeiten. Nur das Herz des 71-Jährigen<br />

macht nicht mehr mit. Der Gründervater des<br />

Kantonsspitals St.Gallen stirbt am 20. Juni 1896.<br />

Sonderegger behandelt seine Patientinnen<br />

und Patienten – unabhängig von ihrem Vermögen<br />

– mit Sachverstand und Empathie.<br />

8<br />

9


«WIR SPIELEN IN DER CHAMPIONS LEAGUE<br />

DER BIOMEDIZINISCHEN FORSCHUNG»<br />

Das Kantonsspital St.Gallen ist das erste nichtuniversitäre Spital der<br />

Schweiz mit eigenem Forschungszentrum. Was leistet die medizinische<br />

Forschung am <strong>KSSG</strong> und was bringt sie Patientinnen und Patienten?<br />

Ein Interview mit Prof. Dr. Burkhard Ludewig, Mitgründer und Leiter des<br />

Medizinischen Forschungszentrums.<br />

Herr Prof. Dr. Ludewig, Sie leiten seit 21 Jahren das Institut für<br />

Immunbiologie und seit 15 Jahren das Medizinische Forschungszentrum<br />

(MFZ) des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>). Wird Ihnen nicht<br />

langweilig?<br />

Im Gegenteil. Am MFZ kann ich meine wissenschaftliche Neugier<br />

voll ausleben. Das Gute ist ja, Forschung kennt kein Ende. Es gibt<br />

so viele Krankheiten, deren Ursachen und Mechanismen wir kaum<br />

kennen und deshalb auch keine guten Therapien anbieten können.<br />

Was ich ausserdem schätze: Ich arbeite hier mit jungen Forschenden,<br />

Doktoranden und Postdoktoranden, die wahnsinnig viel Energie ins<br />

MFZ einbringen. Ich habe den besten Beruf der Welt!<br />

Sie sind ein weltweit führender Immunologe. Worum geht es in der<br />

Immunologie?<br />

Wir fragen uns: Wie reagiert unser Immunsystem bei Erkrankungen?<br />

Wie funktionieren Entzündungen? Und wie kann man unsere körpereigenen<br />

Reaktionen medikamentös steuern? Denn bei manchen<br />

Krankheiten überreagiert unser Immunsystem, wie bei Allergien oder<br />

entzündlichen Erkrankungen des Herzmuskels – meinem Spezialgebiet.<br />

Bei anderen Krankheiten, wie Krebs, kann gezielte Steuerung des<br />

Immunsystems zur Heilung führen. Die Grundsatzfrage ist also, wie<br />

wir unser körpereigenes Immunsystem so stärken oder schwächen<br />

können, dass es der Gesundung der Patientinnen und Patienten dient.<br />

Welchen Stellenwert hatte die Forschung am <strong>KSSG</strong>, als Sie hier 2002<br />

anheuerten?<br />

Damals hatte das <strong>KSSG</strong> nur ein kleines Forschungslabor mit fünf Mitarbeitenden.<br />

An internationalen Forschungsstandards gemessen war<br />

St.Gallen aber Provinz. Genau das hat mich gereizt: hier etwas Neues<br />

aufzubauen. Der politische Wille dafür war spürbar – insbesondere<br />

als 2007 der strategische Entscheid für einen Ausbau des Labors zu<br />

einem Forschungszentrum gefällt wurde. Heute zählen wir am MFZ<br />

60 Mitarbeitende sowie sieben Forschungsgruppen und dürfen ohne<br />

falsche Bescheidenheit behaupten: Einige Projekte sind internationale<br />

Spitzenklasse.<br />

Prof. Dr. Burkhard Ludewig wurde 1963<br />

in Göttingen geboren. Der Sohn einer<br />

Bauernfamilie studierte Tiermedizin in<br />

Berlin, bevor er sich auf die humanmedizinische<br />

Immunologie spezialisierte. Sein<br />

Forschungsschwerpunkt ist die Kardioimmunologie,<br />

die Erforschung von Entzündungen<br />

des Herzmuskels. Prof. Dr.<br />

Burkhard Ludewig ist Vater einer erwachsenen<br />

Tochter und lebt mit seiner Frau,<br />

der Rechtspsychologin und Gutachterin<br />

Dr. Revital Ludewig, in St.Gallen. Die beiden<br />

haben sich 1985 in einem israelischen<br />

Kibbuz kennengelernt.<br />

i<br />

Wie lässt sich die «internationale Spitzenklasse» in der Forschung<br />

messen?<br />

Da gibt es viele Parameter, beispielsweise die Anzahl von Publikationen<br />

in den wichtigsten Fachzeitschriften. So haben unsere Forschenden<br />

in den letzten Jahren ihre Erkenntnisse in renommierten Fachzeitschriften<br />

wie Nature Immunology, Science und Nature publiziert. Zudem<br />

haben wir 2021 allein am Institut für Immunbiologie Drittmittel in<br />

der Höhe von 4,2 Millionen Franken eingeworben, davon 2,5 Millionen<br />

Franken für mein Projekt zur Untersuchung der molekularen<br />

und immunologischen Prozesse bei Herzmuskelentzündungen. Das<br />

Geld wurde uns vom Europäischen Forschungsrat zugesprochen – das<br />

ist quasi die Champions League der europäischen Forschung. Für<br />

all das braucht es innovative Forschungsprojekte und -ergebnisse,<br />

die in einem harten internationalen Wettbewerb bestehen müssen.<br />

«Ich habe den besten Beruf<br />

der Welt!»<br />

Was hat das <strong>KSSG</strong> und was haben die Patientinnen<br />

und Patienten von der erfolgreichen Forschung<br />

am MFZ?<br />

Einerseits sorgen die Drittmittel dafür, dass fast<br />

zwei Drittel unserer Mitarbeitenden fremdfinanziert<br />

sind, also das <strong>KSSG</strong> nichts kosten, ausser der Infrastruktur.<br />

Andererseits – und das ist noch wichtiger<br />

– sorgt die Nähe zwischen Forschung und medizinischer<br />

Praxis für eine höhere Behandlungsqualität,<br />

weil dadurch Innovationen schneller zu den<br />

Patientinnen und Patienten gelangen. Die Schweizerische<br />

Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />

hat kürzlich in ihrem White Paper Clinical Research<br />

gezeigt, wie entscheidend die Forschung an Spitälern<br />

für ein «lernendes Gesundheitssystem» ist.<br />

Sie sind seit eineinhalb Jahren mit einem<br />

20-Prozent-Pensum als Wissenschaftlicher<br />

Abteilungsleiter in der Klinik für Kardiologie<br />

am Universitätsspital Zürich angestellt.<br />

Wie verträgt sich das mit Ihrer Tätigkeit am <strong>KSSG</strong>?<br />

Sehr gut, denn von dieser Vernetzung profitieren<br />

beide Spitäler. Es geht hier vor allem um die Entwicklung<br />

einer Immuntherapie zur Behandlung von<br />

Herzmuskelentzündungen. Am Universitätsspital<br />

Zürich werden mehr Patientinnen und Patienten<br />

mit dieser Diagnose behandelt, und davon profitiert<br />

wiederum unsere Grundlagenforschung am <strong>KSSG</strong>.<br />

«Die Nähe zwischen medizinischer<br />

Forschung und Praxis sorgt für eine<br />

bessere Behandlungsqualität.»<br />

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Im<br />

Gegensatz zu vielen Ihrer deutschen Kolleginnen<br />

und Kollegen am <strong>KSSG</strong> reden Sie «Schwiizerdütsch».<br />

Warum?<br />

Erstens lerne ich gerne Sprachen – von Hebräisch<br />

bis Schweizerdeutsch. Zweitens spreche ich gerne<br />

so wie die Menschen, unter denen ich lebe. Das ist<br />

mir wichtig für die Integration. Allerdings reden<br />

wir im MFZ weder Schweizerdeutsch noch Hochdeutsch,<br />

sondern Englisch.<br />

10<br />

11


ROCKET SCIENCE*<br />

Spitzenforschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie in wissenschaftlichen<br />

Publikationen veröffentlicht wird und sich in einem harten Wettbewerb<br />

um Forschungsgelder durchsetzt. Hier stellen wir fünf Highlights aus dem<br />

Medizinischen Forschungszentrum des Kantonsspitals St.Gallen vor.<br />

Experimentelle Dermatologie<br />

Dr. Fiamma Berner und Dr. David Bomze, Medizinisches Forschungszentrum<br />

Dr. Fiamma Berner und Dr. David Bomze aus der Forschungsgruppe<br />

von Prof. Dr. Lukas Flatz haben 2020 den Pfizer Forschungspreis in der<br />

Kategorie Onkologie erhalten. In ihrem Forschungsprojekt haben die<br />

jungen Forschenden autoimmune Nebenwirkungen identifiziert, die<br />

bei der Behandlung von Lungenkrebserkrankungen auftreten können.<br />

Die Ausgangslage: Zwar kann man die «Bremsen des Immunsystems»<br />

heute durch sogenannte Inhibitoren lösen – ein medizinscher Durchbruch,<br />

der 2018 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Allerdings<br />

wird dadurch nicht nur der Tumor zurückgedrängt, sondern es steigt<br />

auch das Risiko für unerwünschte Autoimmunreaktionen in anderen<br />

Körperorganen wie der Haut. Genau das zeigt die Studie des St.Galler<br />

Forschungsteams erstmals umfassend, sodass das Risiko für Nebenwirkungen<br />

in Zukunft besser abgeschätzt werden kann.<br />

* «Rocket Science»: something that is very difficult to learn or understand<br />

(The Brittanica Dictionary; dt.: etwas, das sehr schwer zu lernen oder zu verstehen ist)<br />

Coronaviren im Verdauungstrakt<br />

Dr. Natalia Pikor, Medizinisches Forschungszentrum<br />

Das Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) hat Forschungsprofessorinnen<br />

und -professoren, nur dürfen sich<br />

diese nicht so nennen, da das <strong>KSSG</strong> kein universitäres<br />

Spital ist. Eine aufstrebende <strong>KSSG</strong>-Wissenschaftlerin<br />

von professoralem Format ist die 36-jährige<br />

Dr. Natalia Pikor, die für ihr Projekt «Antivirale<br />

Immunität gegen Coronaviren im Gastrointestinaltrakt»<br />

mit der renommierten Peter Hans Hofschneider<br />

Stiftungsprofessur ausgezeichnet wurde. Und darum<br />

geht es: Während die Folgen einer Coronainfektion<br />

für die Lunge und die Atemwege gut dokumentiert<br />

sind, erforscht Dr. Pikor die möglichen Auswirkungen<br />

auf den menschlichen Verdauungstrakt,<br />

insbesondere auf Magen, Darm und Leber. Die<br />

Entschlüsselung dieser Mechanismen soll dazu<br />

beitragen, Risikopatientinnen und -patienten mit<br />

Multiorganerkrankungen bei einer Coronainfektion<br />

besser therapieren zu können.<br />

Immunorgane im Darm, die sogenannten Peyerschen Platten.<br />

Die rot markierten Zellen sind vom Coronavirus infiziert.<br />

HELICAL: Mit Big Data zu gesunden Blutgefässen<br />

Projektleitung Prof. Dr. Alfred Mahr und Solange<br />

Gonzalez Chiappe, Klinik für Rheumatologie<br />

Big Data sind in aller Munde. Auch in der Medizin<br />

soll die Verarbeitung und Analyse riesiger Datenmengen<br />

zu neuen Erkenntnissen und letztlich besseren<br />

Therapien führen. Das EU-Projekt HELICAL<br />

steht für «HEalth data LInkage for ClinicAL benefit».<br />

In diesem interdisziplinären Projekt spannen<br />

17 akademische Partner aus acht europäischen Ländern,<br />

darunter die Klinik für Rheumatologie des<br />

<strong>KSSG</strong>, und neun industrielle Partner zusammen,<br />

um grosse klinische Datensätze unter Berücksichtigung<br />

des Datenschutzes und mithilfe gigantischer<br />

Computer auszuwerten. Als Fallbeispiel dient die<br />

chronische Vaskulitis, die entzündliche Erkrankung<br />

der Blutgefässe. Konkret bietet HELICAL 15 jungen<br />

Forschenden, darunter Solange Gonzalez Chiappe<br />

vom <strong>KSSG</strong>, die Möglichkeit, während 36 Monaten<br />

einen PhD (Philosophical Doctorate) in hochmoderner<br />

Datenanalyse zu erlangen. Ziel ist es, über Big<br />

Data die umweltbedingten Auslöser und komplexen<br />

Wirkungsmechanismen chronischer Krankheiten<br />

zu verstehen.<br />

Das Medizinische Forschungszentrum (MFZ)<br />

Das MFZ schafft für seine über 60 Mitarbeitenden<br />

eine attraktive Forschungsumgebung, um die<br />

akademische Lehre, Forschungskompetenz und<br />

Innovationskräfte am Kantonsspital St.Gallen zu<br />

stärken. Es besteht aus<br />

· dem Institut für Immunbiologie mit den<br />

Forschungsgruppen Immunbiologie, Dermatologie,<br />

Neuroimmunologie und Neurochirurgie<br />

· der Clinical Trials Unit (CTU) zur Koordination<br />

der klinischen Forschungstätigkeit mit anderen<br />

Spitälern und Industriepartnern<br />

· mehreren angegliederten Forschungsgruppen<br />

von den <strong>KSSG</strong>-Kliniken für Onkologie, Infektiologie<br />

und Urologie.<br />

Mit dem MFZ entspricht das <strong>KSSG</strong> dem Leistungsauftrag<br />

des Kantons St.Gallen «für den Betrieb von<br />

anwendungsorientierter Forschung (...) zur Gewinnung<br />

wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie zur Verbesserung<br />

der Prävention, Diagnostik und Behandlung<br />

von Krankheiten».<br />

i<br />

Blutdruck und postoperative Komplikationen<br />

Projektleitung Prof. Dr. Miodrag Filipovic, Stv. Chefarzt, Klinik für<br />

Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin<br />

Eine Kernaufgabe der Anästhesie ist es, während Operationen Vitalzeichen<br />

wie den Blutdruck zu kontrollieren und zu regulieren. Dabei<br />

ist bekannt, dass ein zu tiefer Blutdruck bei der Operation statistisch<br />

gesehen postoperative Komplikationen und Todesfälle begünstigt.<br />

Doch was passiert, wenn der Blutdruck während der Operation medikamentös<br />

etwas erhöht wird? Liessen sich dadurch postoperative<br />

Komplikationen reduzieren? Auf diese Fragen will die BBB-Studie (Biomarker,<br />

Blutdruck, BIS) Antworten finden. Nach dem Zufallsprinzip<br />

werden Patientinnen und Patienten in zwei Gruppen unterteilt: eine<br />

Kontrollgruppe mit dem heute üblichen Zielblutdruck sowie eine<br />

Gruppe mit einem erhöhten intraoperativen Zielblutdruck. Danach<br />

werden beide während zwölf Monaten bezüglich Komplikationen<br />

verglichen. Die Studie ist von hohem klinischem Interesse, und die<br />

Durchführung wurde vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.<br />

Ein «Flugsimulator» für Chirurginnen und Chirurgen<br />

Projektleitung Prof. Dr. Bruno Schmied, Chefarzt Klinik für Allgemein-,<br />

Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie<br />

Wovon Pilotinnen und Piloten längst profitieren, soll auch in der<br />

Chirurgie Fuss fassen: das Training am Simulator. Initiiert wird der<br />

Paradigmenwechsel – Training am Monitor statt am Menschen – durch<br />

das Projekt PROFICIENCY. Dessen Leiter, Prof. Dr. Bruno Schmied,<br />

Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie<br />

im <strong>KSSG</strong>, freut sich: «Das innovative Weiterbildungsangebot<br />

wird die chirurgische Weiterbildung in der offenen<br />

und minimalinvasiven Chirurgie entscheidend verbessern.» Auch<br />

Innosuisse ist begeistert: Die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung<br />

des Bundes unterstützt das Projekt PROFICIENCY mit<br />

zwölf Millionen Franken.<br />

12<br />

13


1972<br />

Landen, wo heute parkiert wird<br />

Bis Anfang der 1990er-Jahre landet der Helikopter auf dem heutigen Böschenmühle-Parkplatz<br />

(Parking B). Um den Transport von Patientinnen und Patienten<br />

zu vereinfachen, wird der Landeplatz auf das Dach des Hauses 03B verlegt,<br />

von dem ein Lift direkt ins Notfallzentrum führt. Weil dieser Landeplatz aber<br />

nur aus einer Richtung angeflogen werden kann und zu einem der gefährlichsten<br />

Landeplätze der Schweiz zählt, wird er 2029 auf das Dach des neuen<br />

Hauses 07A versetzt.<br />

GEBAUTE GESCHICHTE<br />

2023<br />

Das Wahrzeichen<br />

Mit seinen rund 78 Metern Höhe ist<br />

es das höchste Gebäude der Stadt:<br />

das Haus 04. Drei Jahre dauern die<br />

Bauarbeiten, die 1972 beginnen. Das<br />

Spitallogo wird 1997 angebracht;<br />

damals gilt solche «Eigenreklame»<br />

eines öffentlichen Spitals fast schon<br />

als gewagt.<br />

450 Autos<br />

78 m<br />

Das neue Herzstück<br />

Pünktlich zum Jubiläum wird es fertig sein, das Haus 07A mit der zentralen<br />

Eingangshalle, der Patientenaufnahme und seinen Ambulatorien, Behandlungsräumen,<br />

Operationssälen sowie den Bettenstationen im Hochhaus. Unter Grund<br />

gibt es Platz für 450 Autos. Es ist der neue Dreh- und Angelpunkt auf dem Areal.<br />

2024 wird der Umzug abgeschlossen und das Gebäude in Betrieb genommen.<br />

1873<br />

02<br />

03D<br />

03C<br />

03 03<br />

07A<br />

NFZ<br />

Wo alles begann<br />

1873 nehmen hier vier Chefärzte den Betrieb auf.<br />

Knapp 150 Jahre später wird das Urspital im Rahmen<br />

des Generationenprojekts «come together»<br />

abgerissen, um Platz für das neue Haus 07B zu<br />

schaffen.<br />

26<br />

25<br />

04<br />

03B<br />

07A<br />

01<br />

10<br />

25A 24<br />

05<br />

22<br />

21<br />

84 88 TFB<br />

25A 59<br />

21<br />

20<br />

1888<br />

19<br />

06<br />

09<br />

Von der Gebäranstalt zur Frauenklinik<br />

1835 gründet eine St.Galler Hebamme eine private «Hebammenunterrichtsanstalt».<br />

Der Kanton übernimmt diese und<br />

funktioniert sie in eine «Gebäranstalt» um, an der mittellose,<br />

schwangere Frauen aufgenommen und gleichzeitig<br />

Hebammen ausgebildet werden. 1888 kommt die «Entbindungsanstalt»<br />

auf dem Spitalareal zu liegen. Zur kantonalen<br />

Frauenklinik wird sie 1941 durch einen Zusammenschluss mit<br />

der gynäkologischen Abteilung.<br />

11<br />

2011<br />

32 57<br />

Pathologischer Platzmangel<br />

Der erste Pathologe am Kantonsspital,<br />

Dr. Arthur Hanau, muss sich 1890<br />

mit einem einzigen Zimmer im Haupthaus<br />

begnügen; das Leichenhaus liegt<br />

am Westende des Areals. Im Laufe der<br />

Jahrzehnte wachsen Pathologie und<br />

Rechtsmedizin stetig und beziehen neue<br />

Häuser auf dem Spitalareal. Der Neubau<br />

mit seiner markanten Lamellenfassade<br />

wird 2011 eröffnet und kostet 47 Millionen<br />

Franken.<br />

47 Mio.<br />

Das fliegende Klassenzimmer<br />

Es herrscht Platznot Anfang der 2000er-Jahre, doch man<br />

weiss sich zu helfen: Ein provisorischer Schulhauspavillon<br />

aus dem Rheintal wird umfunktioniert und bietet Raum für<br />

diverse ambulante Einrichtungen. Im Rahmen der Gesamtbausanierung<br />

wird der Pavillon wieder abgebrochen.<br />

14<br />

15


JEDE GEBURT<br />

IST EIN WUNDER<br />

Als die Hebamme Irmgard Schaflechner 1996 nach 23 Jahren im Kantonsspital<br />

St.Gallen in Pension ging, wurde die Hebamme Giulia Schai ebendort<br />

geboren. Ein Generationengespräch über Trends im Gebärzimmer<br />

und den Wandel eines Berufsbildes.<br />

Frau Schaflechner, Sie haben am Kantonsspital<br />

St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) über 3’000 Kinder auf die Welt<br />

begleitet, Sie, Frau Schai, bislang gut 300. Erinnern<br />

Sie sich an Ihre allererste Geburt?<br />

Irmgard Schaflechner (I. S.): Ich erlebte die erste<br />

Geburt als 14-Jährige. Meine jüngste Schwester<br />

kam zu Hause zur Welt, und ich fungierte als eine<br />

Art Handlangerin der Hebamme. Sie sagte meiner<br />

Mama: «Deine Irmgard wird einmal eine gute Hebamme».<br />

Giulia Schai (G. S.): Ich war 16 Jahre alt, als ich während<br />

eines Praktikums im Spital Heiden die erste<br />

Geburt miterlebte. Ich wollte unbedingt Hebamme<br />

werden, wusste aber kaum etwas über den Beruf.<br />

Entsprechend gross war der Schock, als mich die<br />

Praktikumsbetreuerin zu «meiner» ersten Geburt<br />

mitnahm. Nach wenigen Minuten war ich käsebleich<br />

und musste mich setzen – noch früher als<br />

der werdende Vater!<br />

Frau Schaflechner, Sie haben zunächst eine Ausbildung<br />

zur Verkäuferin absolviert – warum nicht<br />

gleich zur Hebamme?<br />

I. S.: Erstens wollte mein Vater seinen Töchtern<br />

keine teure Ausbildung zahlen. Wir würden ohnehin<br />

bald heiraten, sagte er. Zweitens stand in Österreich,<br />

meiner Heimat, die Hebammenschule erst<br />

Frauen ab 18 Jahren offen. Ich hätte also eine Sonderbewilligung<br />

des Bürgermeisters gebraucht. Und<br />

drittens gab es damals nach dem Krieg in keiner<br />

Branche so viele offene Stellen wie im Verkauf.<br />

Wann traten Sie die Hebammenausbildung<br />

schliesslich an?<br />

I. S.: 1961; da war ich 27 Jahre alt und Mutter zweier<br />

Kinder. Trotzdem musste ich wie alle Auszubildenden<br />

an Werktagen in der Frauenklinik Graz wohnen,<br />

das war damals die Bedingung. Wir mussten<br />

abrufbar sein, denn Kinder werden ja rund um die<br />

Uhr geboren. Also mussten meine Eltern mehrheitlich<br />

die Kinder hüten. Nach der Ausbildung<br />

arbeitete ich als freipraktizierende Gemeindehebamme.<br />

Doch damals lief der Trend gegen Hausgeburten,<br />

wodurch mein Einkommen sank. Und ich<br />

war Alleinverdienerin. Deshalb liess ich mich 1973<br />

am <strong>KSSG</strong> festanstellen. Am Anfang hatte ich etwas<br />

Mühe, vor allem mit den jungen Ärzten, die immer<br />

meinten, alles besser zu wissen. Zum Glück habe ich<br />

mich von meinen Chefs verstanden und getragen<br />

gefühlt; das <strong>KSSG</strong> wurde zu meiner zweiten Familie.<br />

Deshalb bin ich bis zu meiner Pensionierung Ende<br />

Februar 1996 geblieben.<br />

G. S.: Wir haben uns nur um ein paar Monate verpasst,<br />

Irmgard! Am 27. Juni 1996 habe ich im <strong>KSSG</strong><br />

das Licht der Welt erblickt!<br />

Frau Schai, 2019 haben Sie das vier Jahre dauernde<br />

Studium zur Hebamme abgeschlossen, seither<br />

arbeiten Sie am <strong>KSSG</strong>. Wie sieht Ihr gewöhnlicher<br />

Arbeitstag aus?<br />

G. S.: Schwangerschaften und Geburten sind nie<br />

gewöhnlich, folglich ist auch mein Arbeitsalltag<br />

nie gewöhnlich. Das ist das Herausfordernde, aber<br />

auch Spannende an unserem Beruf.<br />

17


i<br />

Irmgard Schaflechner (89) kam 1973 als Hebamme ans<br />

<strong>KSSG</strong> und blieb dem «Kanti» bis zu ihrer Pensionierung<br />

1996 treu.<br />

Giulia Schai (26) ist seit 2019 Hebamme im <strong>KSSG</strong> und hat<br />

ihrer Meinung nach «den besten Beruf der Welt».<br />

I. S.: Ich habe manchmal vier Babys gleichzeitig<br />

in den Armen gewippt – und liebte dieses Gefühl.<br />

Aber noch besser gefiel mir, wenn es medizinisch<br />

komplex wurde und ich dank meines Wissens und<br />

Erfahrungsschatzes eine heikle Situation entschärfen<br />

konnte. Es ist mir ein Genuss, mich an wunderbare<br />

Zwillings- und Steissgeburten zu erinnern.<br />

Aber grundsätzlich gilt: Jede Geburt ist ein Wunder.<br />

Was leistet eine Hebamme?<br />

G. S.: Meine Aufgabe als Hebamme ist es, Mutter<br />

und Kind vor, während und nach der Geburt<br />

professionell und empathisch zu begleiten und zu<br />

betreuen. Die Administration nimmt allerdings<br />

immer mehr Zeit in Anspruch.<br />

Frau Schaflechner, mit welchen Trends waren Sie früher als<br />

Hebamme konfrontiert?<br />

I. S.: In den Jahren des Wirtschaftswunders war die Gesellschaft sehr<br />

technologiebesessen. Denken Sie nur an die erste Mondlandung 1969!<br />

Auch der Umgang mit Geburten und Säuglingen war sehr technisch,<br />

man könnte auch sagen «männlich» geprägt. Das zeigte sich zum Beispiel<br />

darin, dass fast alle Ärzte eine Ernährung der Säuglinge durch<br />

Pulvermilch anstelle von Muttermilch empfahlen.<br />

1970 lag die Stillrate in der Schweiz bei nicht einmal 25 Prozent …<br />

I. S.: Eben. Ich erinnere mich an einen Hebammenkongress, da<br />

schimpfte der Referent gegen das Stillen, da die Gifte aus der verpesteten<br />

Umwelt über die Muttermilch direkt im Säugling landen<br />

würden.<br />

G. S.: Heute zeigen diverse Studien, dass Muttermilch die gesündeste<br />

Nahrung für Säuglinge ist. Ausserdem ist das Stillen für die frühkindliche<br />

Bindung wichtig. Deshalb empfiehlt auch die WHO, Säuglinge in<br />

den ersten sechs Monaten ausschliesslich zu stillen. Und die meisten<br />

Mütter wollen heute auch stillen. Nur klappt das nicht immer. Stillen<br />

muss man lernen und üben. Ich motiviere und gebe ihnen Tipps und<br />

Tricks, sage aber auch: «Wegen mir muss niemand stillen. Das muss<br />

jede Mutter selbst entscheiden.»<br />

Finden Ihre Worte als Hebamme Gehör?<br />

I. S.: Zu meiner Zeit glaubte man eher den Ärzten,<br />

also den Männern, als uns Hebammen.<br />

G. S.: Das ist inzwischen anders. Erstens gibt es<br />

immer mehr Gynäkologinnen, zweitens fragen mich<br />

unsere Ärztinnen und Ärzte am <strong>KSSG</strong> oft nach meiner<br />

Meinung.<br />

Wie empfinden Sie denn das gesellschaftliche<br />

Ansehen als Hebamme, Frau Schai?<br />

G. S.: Ich bin schon dreimal zufällig in eine Polizeikontrolle<br />

gekommen, und als ich jeweils sagte, ich<br />

sei Hebamme und auf dem Weg ins <strong>KSSG</strong>, wurde<br />

ich immer durchgewunken – begleitet von den besten<br />

Wünschen. Auch im Bekanntenkreis wollen<br />

alle immer über meinen Beruf reden – an jedem<br />

Geburtstagsfest, jeder Klassenzusammenkunft und<br />

sogar in der Migros an der Kasse. Fast alle finden<br />

meinen Beruf toll. Und ich gebe ihnen Recht: Es<br />

gibt keinen besseren!<br />

I. S.: Diese Entwicklung hat bereits in meinen letzten<br />

Berufsjahren begonnen. So viel Zeit für Papierkram.<br />

G. S.: Die Dokumentation ist aber auch notwendig.<br />

Käme es beispielsweise zu einem Gerichtsfall gegen<br />

das Spital, müssen wir unser Handeln rekonstruieren<br />

können.<br />

Auf Hebammen lastet eine enorme<br />

Verantwortung …<br />

I. S.: Ich habe mich stets an zwei Grundsätze gehalten:<br />

Die Gebärende soll sich sicher fühlen, und ich<br />

anerkenne meine eigenen Grenzen.<br />

G. S.: Das ist auch für mich das Wichtigste. Ich bin<br />

aber auch dankbar für die hervorragende technische<br />

Ausstattung am <strong>KSSG</strong>. Dennoch müssen wir<br />

auch unserer Wahrnehmung vertrauen, nicht nur<br />

den technischen Daten.<br />

Irmgard Schaflechner: «Zu meiner Zeit wurden am <strong>KSSG</strong> jährlich 1ʼ100 Kinder<br />

geboren.» – Giulia Schai: «Heute sind es doppelt so viele.»<br />

I. S.: Wie dehnbar ein Muttermund ist, das muss man fühlen, das<br />

kann keine Maschine, kein Ultraschall. Diese Technikbesessenheit<br />

hat mich manchmal frustriert. Und was mich richtig traurig stimmt,<br />

ist die steigende Rate an Kaiserschnittgeburten.<br />

G. S.: Die Sectio-Rate liegt am <strong>KSSG</strong> bei bis zu 30 Prozent. Die Zahl ist<br />

auch deshalb so hoch, weil wir ein Zentrumsspital sind. Das heisst,<br />

dass komplexe Geburten wie Mehrlinge oder Frühgeburten ab 24<br />

Wochen häufig bei uns zur Welt kommen – und das meist durch<br />

Kaiserschnitte. Auf der anderen Seite ermöglichen wir am <strong>KSSG</strong> aber<br />

auch vaginale Entbindungen, die in anderen Spitälern als Kaiserschnitte<br />

enden würden – beispielsweise Steissgeburten. Es gibt durchaus<br />

widersprüchliche Trends. Einerseits interessieren sich immer<br />

mehr werdende Eltern für naturnahe Geburten. Andererseits gibt<br />

es werdende Eltern, die die Geburt fast zu einem «Event» machen<br />

wollen, der wunderschön, möglichst schmerzfrei und so kurz wie<br />

möglich sein soll.<br />

18<br />

19


Für den Durchblick<br />

Die Augenklinik am Kantonsspital<br />

St.Gallen richtet in Zusammenarbeit<br />

mit dem Ostschweizerischen Blindenfürsorgeverein<br />

die erste «Low-Vision-<br />

Abteilung» der Schweiz ein. Menschen<br />

mit stark reduzierter Sehschärfe absolvieren<br />

unter der Leitung einer eigens<br />

dafür zuständigen Spezialistin ein Sehtraining<br />

und erhalten Tipps, um das<br />

verbleibende Sehvermögen im Alltag<br />

optimal einzusetzen. Die Einrichtung<br />

besteht bis heute.<br />

20


i<br />

Chantal Osterwalder (19) hat 2022 als zweite Person am Kantonsspital St.Gallen die Lehre<br />

zur Medizinproduktetechnologin abgeschlossen – ein neues Berufsbild. Ihr Arbeitsort ist die<br />

Zentrale Sterilgutversorgungsabteilung (ZSVA), die am <strong>KSSG</strong> 53 Mitarbeitende zählt. Später<br />

will sich Chantal Osterwalder zum Beispiel zur Operationstechnikerin HF weiterbilden, doch<br />

vorerst hat sie genug vom Lernen. Nur ihr Englisch will sie im Winter in Cambridge vom ersten<br />

ersparten Lohn verbessern.<br />

ICH SPÜRTE:<br />

ICH KANN DAS<br />

«Ich habe kurz die Augen geschlossen und mir vorgestellt:<br />

Die beiden Prüfenden wissen nichts. Und<br />

ich habe die Ehre, sie in die faszinierende Welt der<br />

Medizinproduktetechnologie zu entführen und<br />

ihnen einfach zu erklären, was ich warum tue. Das<br />

war meine Taktik. Und endlich verspürte ich eine<br />

tiefe, innere Ruhe.<br />

In den Nächten vor der praktischen Lehrabschlussprüfung<br />

habe ich kaum geschlafen, so aufgeregt<br />

war ich. Mein Kopf war voller Fragen. Was wollen<br />

die Prüferin aus Zürich und der Prüfer aus St.Gallen<br />

von mir wissen? Was habe ich in drei Lehrjahren<br />

gelernt? Was weiss ich, was kann ich, wenn<br />

es darauf ankommt? Ein Blackout, das war meine<br />

Horrorvorstellung.<br />

Um 8:30 Uhr ging es los. Als Erstes kam die Nasszone<br />

dran, in der wir kontaminierte Instrumente<br />

aus den Operationssälen und Stationen reinigen<br />

und desinfizieren. Der Nachtdienst hatte alles gut<br />

vorbereitet, nun musste ich die Beladungsträger für<br />

unser Reinigungs- und Desinfektionsgerät (RDG)<br />

bestücken. Aber natürlich habe ich das RDG erst<br />

einmal genau inspiziert: Ist der Filter gereinigt?<br />

Sind die Dreharme in alle Richtungen schwenkbar?<br />

Ist die Türdichtung sauber? Danach habe ich zwei<br />

Siebe aufbereitet: Wundhaken, Scheren, Klemmen,<br />

Skalpellgriffe, Nadelhalter – alles an seinen Platz.<br />

Und dazu habe ich erzählt und erzählt.<br />

Klar habe ich zwischendurch versucht, irgendwelche<br />

Reaktionen aus den Gesichtern der Prüfenden<br />

herauszulesen. Sagen und fragen dürfen diese ja<br />

nichts. Aber ich habe gemerkt: Das Ergründen tut<br />

mir nicht gut. Lieber bei der Sache bleiben. Denn<br />

ich war jetzt voller Selbstbewusstsein. Ich spürte:<br />

Ich kann das!<br />

Nach vier Stunden war die Prüfung beendet. Im Juni<br />

folgten die schriftliche und die mündliche Prüfung,<br />

am 6. Juli 2022 hatte ich das Ergebnis im Briefkasten.<br />

Bestanden mit 5,1 – was für eine Erleichterung!<br />

Ob ich gefeiert habe? Klar! Schliesslich lief gerade<br />

das Openair Frauenfeld. Dort bin ich sofort für die<br />

Nachmittagskonzerte hingefahren, um 18:00 Uhr<br />

haben mich meine Eltern für die Abschlussfeier<br />

in Zürich abgeholt, anschliessend haben sie mich<br />

wieder nach Frauenfeld gefahren. Am Freitag bin<br />

ich kurz nach Hause, um mich für die Abschlussfeier<br />

am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) frisch zu<br />

machen, danach bin ich wieder ans Openair. Sido<br />

war der Hammer!»<br />

23


DAS GEBÜNDELTE WISSEN<br />

Die Wirbelsäule<br />

Schauen wir sie uns an, Columna vertebralis, die<br />

Wirbelsäule. Einerseits ist sie das tragende Konstruktionselement<br />

aller Wirbeltiere; ohne sie fielen<br />

wir zusammen wie ein leerer Kartoffelsack. Andererseits<br />

umhüllt und schützt sie unser Rückenmark,<br />

diese Datenautobahn, die den Informationsfluss<br />

zwischen Gehirn und Peripherie sicherstellt. Die<br />

Wirbelsäule ist für unseren Bewegungsapparat also<br />

ebenso zentral wie für unser Nervensystem. Ist es<br />

da erstaunlich, dass bei ihrer Behandlung Orthopädinnen<br />

und Orthopäden, Neurochirurginnen<br />

und -chirurgen zusammenspannen? Die generelle<br />

Antwort: ja. Im <strong>KSSG</strong> indessen: nein.<br />

Spitzenmedizin für Alle<br />

Im OP 9, dem Flaggschiff aller Operationssäle im<br />

<strong>KSSG</strong>, läuft ein Eingriff, der nur in wenigen Schweizer<br />

Spitälern durchgeführt werden kann. Um 7:45 Uhr<br />

haben die Vorbereitungen begonnen, insgesamt sind<br />

acht Stunden angesetzt. Die Patientin: ein 16-jähriges<br />

Mädchen, das mit einem offenen Rücken geboren<br />

und bereits als Baby operiert wurde, das aber aufgrund<br />

ihrer Paraplegie während des Wachstums eine<br />

neuromuskuläre Verkrümmung (Skoliose) der Wirbelsäule<br />

entwickelt hat – so schwer, dass es seinen<br />

Oberkörper nur noch durch Abstützen aufrechthalten<br />

konnte. Doch wie eingeschränkt ist eine Paraplegikerin, die nun auch<br />

ihre Hände nicht mehr frei benutzen kann? Ziel der Operation ist es,<br />

die Wirbelsäule so zu korrigieren, dass das Mädchen seine weitgehende<br />

Selbständigkeit zurückerlangt.<br />

Um 9:45 Uhr ist es so weit: Eine Fachärztin für Neurochirurgie mit<br />

Spezialisierung auf spinale Fehlbildungen bei Kindern setzt mit dem<br />

Skalpell zum 50 Zentimeter langen Schnitt entlang der Wirbelsäule<br />

an. Anschliessend trennt sie die Muskulatur vom Knochen und legt<br />

so die Wirbelsäule frei. Nun kommt der heikle Part: Sie öffnet den<br />

Duralschlauch, der das Rückenmark umhüllt, und macht sich auf die<br />

Suche nach der Stelle des Rückenmarks, an der dieses durchschnitten<br />

werden kann, weil keine Nerven mehr aktiv sind. Um 10:35 Uhr erfolgt<br />

der Schnitt. Anschliessend schliesst die Ärztin den Duralschlauch<br />

und überlässt das Kommando am Operationstisch ihrem Gegenüber,<br />

dem Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des<br />

Bewegungsapparats.<br />

Schwerstarbeit mit Fingerspitzengefühl<br />

Die Aufgabe des Facharztes für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie<br />

des Bewegungsapparats ist es, die Wirbelsäule orthopädisch<br />

zu begradigen und zu stabilisieren; deshalb die vorgängige Durchtrennung<br />

des Rückenmarks: Ohne sie hätte die Begradigung zu viel<br />

Zug auf das Rückenmark ausgelöst, was die Paraplegie hätte körperaufwärts<br />

treiben können. 20 Schrauben und zwei Verbindungsstäbe<br />

auf den beiden Seiten der Wirbelsäule setzt der Arzt ein. Zudem muss<br />

er Gelenke aufmeisseln und Bänder durchtrennen, um die notwendige<br />

Flexibilität für die Begradigung zu erreichen. Schwerstarbeit mit<br />

Fingerspitzengefühl. Nach vier Stunden ist der Einsatz des Orthopäden<br />

beendet.<br />

Wer sich am Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum behandeln lässt, ist<br />

in guten Händen. Nicht in zwei oder vier, sondern in Dutzenden von<br />

guten Händen. Denn hier arbeiten hochspezialisierte Medizinerinnen<br />

und Mediziner, Pflegefachkräfte und Physician Assistants aus<br />

unterschiedlichen Disziplinen Hand in Hand – mit dem grösstmöglichen<br />

Nutzen für Patientinnen und Patienten.<br />

Konservative Behandlungen der Wirbelsäule werden bevorzugt. Doch wenn es zur Operation kommt, arbeiten Orthopädinnen und<br />

Orthopäden mit Neurochirurginnen und -chirurgen Hand in Hand.<br />

Das Besondere dieses Ortes ist unscheinbar. Wer<br />

sich in Spitälern auskennt, wird vielleicht das<br />

Fehlen des Bettbügels über den Patientenbetten<br />

bemerken. Aber sonst? Alles normal auf der Bettenstation<br />

im Haus 03, 6. Stock. Und doch ist dieser<br />

Ort ein medizinisches Powerzentrum, ein Kumulationspunkt<br />

geballten Wissens. Willkommen im<br />

Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum (OSWZ) des<br />

Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>).<br />

Der eine landet hier wegen eines Bandscheibenvorfalls, die andere<br />

wegen eines Wirbelsäulentumors oder eines Traumas nach einem<br />

Töffunfall. Der eine ist alt, die andere jung. Was sie eint, ist eine<br />

lädierte Wirbelsäule. Das ist auch der Grund für den fehlenden Bettbügel,<br />

weil das selbständige Aufrichten durch Zugkraft keine gute<br />

Idee für Patientinnen und Patienten ist, die ein Problem mit der Wirbelsäule<br />

haben.<br />

24


Ein Zentrum, doppelte Expertise<br />

Solche hochkomplexen Eingriffe sind selbst im<br />

OSWZ nicht alltäglich. Sie zeigen jedoch, wie viel<br />

interdisziplinäre Kompetenz hier gebündelt wird.<br />

Während in vielen Schweizer Spitälern Erkrankungen<br />

oder Traumata der Wirbelsäule entweder<br />

orthopädisch oder neurochirurgisch behandelt<br />

werden, arbeiten hier beide medizinischen Fachgebiete<br />

Hand in Hand. Damit reagieren Zentren wie<br />

das OSWZ patientenorientiert auf die zunehmende<br />

Spezialisierung in der Medizin. Im OSWZ wird das<br />

auf verschiedene Fachgebiete verteilte Wissen und<br />

Können zum Wohl der Patientinnen und Patienten<br />

zusammengeführt.<br />

Von dieser umfassenden Expertise profitieren nicht<br />

nur Schwerkranke oder -verunfallte, sondern auch<br />

Patientinnen und Patienten mit einem einfachen<br />

Bandscheibenvorfall oder einer Einengung des Wirbelkanals<br />

(Spinalkanalstenose). Dabei wird, wann<br />

immer möglich, eine konservative Behandlung ohne<br />

Operation angestrebt. Scheint ein chirurgischer Eingriff<br />

die beste Wahl, wird jeder Fall in einer Indikationskonferenz<br />

mit elf Fach- und Assistenzärztinnen<br />

und -ärzten sowie Klinischen Fachspezialistinnen<br />

und -spezialisten (Physican Assistants) diskutiert.<br />

Erstmeinung? Zweitmeinung? Multimeinung!<br />

Bei einer Operation selbst kommen möglichst schonende,<br />

minimalinvasive Techniken wie die Wirbelsäulenendoskopie<br />

und neuste Technologien wie die<br />

Neuronavigation zum Einsatz; ein weiterer Patientennutzen,<br />

den nur ein interdisziplinäres Zentrum<br />

mit entsprechend hohen Fallzahlen bieten kann.<br />

Eine spezialisierte Bettenstation<br />

Die 16-jährige Jugendliche konnte mittlerweile auf die Bettenstation<br />

verlegt werden. Vor der Gründung des OSWZ wäre sie entweder noch<br />

auf der Station der Neurochirurgie oder Orthopädie gelandet, jetzt liegt<br />

sie auf Station 03.06, wo 28 Betten den Patientinnen und Patienten des<br />

Wirbelsäulenzentrums vorbehalten sind. Warum eine spezialisierte<br />

Station Sinn ergibt, erklärt die Stationsleiterin: «Unsere Patientinnen<br />

und Patienten sind äusserst verletzlich und profitieren von unseren<br />

massgeschneiderten Pflegestandards und unserem spezialisierten<br />

Fachwissen.» Beispielsweise benötigen stationär behandelte Personen<br />

des Wirbelsäulenzentrums mehr Mobilisations- und Lagerungshilfen.<br />

Auch das Vorbeugen potenziell gefährlicher postoperativer Komplikationen<br />

– wie ein Darmverschluss – ist wichtig, beispielsweise durch<br />

einen behutsamen Kostaufbau. Die Betreuung der Patientinnen und<br />

Patienten stellen zudem zwei speziell ausgebildete Physician Assistants<br />

sicher.<br />

Besonders stolz ist man im OSWZ auf die kontinuierliche Erfassung<br />

und Überprüfung der Behandlungsqualität, die auch Grundlage für<br />

wissenschaftliche Analysen bietet. Im Gegensatz zu vielen Privatkliniken<br />

ist das OSWZ ein Aus- und Weiterbildungsbetrieb mit eigener<br />

Forschungstätigkeit. Wissen wird hier bereitwillig zum Wohle aller<br />

geteilt.<br />

Acht Tage nach der Operation kann die Jugendliche<br />

von ihren Eltern abgeholt werden. Es war ein<br />

grosser, aber lohnender Eingriff: Die 16-Jährige<br />

sitzt heute wieder aufrecht im Rollstuhl und kann<br />

sich frei bewegen. Und sie hat noch fast ihr ganzes<br />

Leben vor sich.<br />

Das Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum<br />

Das Kantonsspital St.Gallen führt diverse interdisziplinäre<br />

Zentren, in denen fachübergreifendes<br />

medizinisches Knowhow thematisch gebündelt<br />

wird. Ein gutes Beispiel ist das OSWZ, das im Juli<br />

2021 eröffnet wurde. Als eines der wenigen Spitäler<br />

der Schweiz bietet es das gesamte Spektrum der<br />

Wirbelsäulenmedizin an – von einfach bis hochkomplex:<br />

Degeneration, Trauma, Tumor, Deformität und<br />

Infektion. Alle Patientinnen und Patienten profitieren<br />

dabei von der gebündelten Expertise aus Orthopädie<br />

und Neurochirurgie. Das OSWZ ist von der Schweizer<br />

Gesellschaft für Neurochirurgie sowie von Swiss<br />

Orthopaedics als Weiterbildungsstätte für den Interdisziplinären<br />

Schwerpunkt Wirbelsäulenchirurgie<br />

zertifiziert und hat bereits die Zertifizierung als AO<br />

Spine Center erhalten. Die Zertifizierung als Eurospine<br />

Surgical Spine Center of Excellence ist bereits weit<br />

fortgeschritten. Mit dem Erhalt der Zertifizierung darf<br />

gegen Anfang des Jahres 2023 gerechnet werden.<br />

i<br />

Erstmeinung? Zweitmeinung? Multimeinung! Im<br />

Ostschweizer Wirbelsäulen zentrum wird jeder Einzelfall<br />

im Plenum diskutiert. Das garantiert eine gründliche<br />

Indikationsstellung und bestmögliche Therapie.<br />

Weitere interdisziplinäre Zentren des <strong>KSSG</strong>:<br />

Comprehensive Cancer Centre<br />

Gynäkologisches Krebszentrum<br />

Interdisziplinäres Beckenbodenzentrum<br />

Interdisziplinäres Wundzentrum<br />

Lungenzentrum<br />

Notfallzentrum (NFZ)<br />

Ostschweizer Adipositaszentrum<br />

Ostschweizer Gefässzentrum<br />

Ostschweizer Perinatalzentrum<br />

Ostschweizer Zentrum für Bewegungsstörungen<br />

Ostschweizer Zentrum für seltene Krankheiten<br />

Schlaganfallzentrum (Stroke Center)<br />

Schmerzzentrum<br />

Sportmedizinisches Zentrum<br />

Varizenzentrum<br />

Zentrum für Schlafmedizin<br />

26<br />

27


Ambi Rorschach<br />

Spital Wil<br />

Kantonsspital St.Gallen<br />

DAS KANTONSSPITAL ST.GALLEN −<br />

EIN STARKER PARTNER<br />

Ambi Flawil<br />

Spital Altstätten<br />

Das Kantonsspital St.Gallen agiert als Zentrumsspital<br />

auf universitärem Niveau und zeigt sich damit als starker<br />

medizinischer Partner in der Ostschweiz.<br />

Zusammen mit den Spitälern Grabs, Linth, Wil und Altstätten<br />

stellt das Kantonsspital St.Gallen die akutsomatische<br />

Grundversorgung der St.Galler Bevölkerung und<br />

der angrenzenden Regionen sicher. Das Ambi Rorschach<br />

und das Ambi Flawil ergänzen das medizinische Angebot<br />

in den Bereichen Diagnostik und Therapie. Die Spitalstandorte<br />

arbeiten gemeinsam und vernetzt, um optimale<br />

medizinische Behandlungen in vertrauter Nähe zu<br />

bieten. Die Koordination integrativer Behandlungskonzepte<br />

ist somit über mehrere Standorte gewährleistet.<br />

Das Kantonsspital St.Gallen nimmt bei schweren und<br />

komplexen Behandlungen seine Rolle als überregionaler<br />

Maximalversorger wahr. Dank Innovation und Forschung<br />

ist das Kantonsspital St.Gallen stets am Puls der Zeit<br />

und zeichnet sich durch ein Leistungsangebot auf universitärem<br />

Niveau aus.<br />

Spital Linth<br />

Spital Grabs<br />

28<br />

29


SEIT 150 JAHREN IM DIENST<br />

DER BEVÖLKERUNG<br />

Das sagen Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsbranche<br />

und der Politik über das Kantonsspital<br />

St.Gallen:<br />

DR. PASCAL MÜLLER<br />

Chefarzt Adoleszentenmedizin und Pädiatrische<br />

Psychosomatik, Ostschweizer Kinderspital (OKS)<br />

«Das Kantonsspital St.Gallen, unser Zentrumsspital<br />

für Erwachsenenmedizin der Ostschweiz,<br />

blickt auf seine 150-jährige Geschichte zurück – vor<br />

114 Jahren wurde der Grundstein des Ostschweizer<br />

Kinderspitals gelegt. Im Lauf der Jahrzehnte sind<br />

diese beiden Zentrumsspitäler zusammengerückt;<br />

einerseits, um die Kontinuität der Behandlung und<br />

Betreuung vom Kindes- ins Erwachsenenalter möglichst<br />

nahtlos zu gestalten, andererseits, um in der<br />

zunehmend spezialisierten Medizin gegenseitig<br />

von Knowhow zu profitieren. Mit dem Umzug des<br />

OKS auf den Campus des <strong>KSSG</strong> ab 2026 wird diese<br />

Zusammenarbeit noch intensiver. Wir gratulieren<br />

dem <strong>KSSG</strong> und all seinen Mitarbeitenden zum<br />

Jubiläum!»<br />

BRUNO DAMANN<br />

Vorsteher des Gesundheitsdepartements Kanton St.Gallen<br />

«Seit 150 Jahren stellt sich das Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) in den Dienst der St.Galler<br />

Bevölkerung. Es hat sich in dieser Zeit zu einem der grössten Spitäler der Schweiz mit einem<br />

umfassenden medizinischen Angebot entwickelt und ist aus der Gesundheitsversorgung<br />

der Ostschweiz nicht mehr wegzudenken. Ein grosser Dank geht in diesem Zusammenhang<br />

an die Spitalmitarbeitenden für ihren Einsatz rund um die Uhr. Ich gratuliere dem Kantonsspital<br />

St.Gallen zu seinem Jubiläum und wünsche ihm weiterhin viel Erfolg!»<br />

MARIA PAPPA<br />

Stadtpräsidentin der Stadt St.Gallen<br />

«Sobald man selbst oder Angehörige krank sind, wird einem bewusst,<br />

wie wichtig ein nahes und gutes Gesundheitsangebot ist. Mit dem Kantonsspital<br />

St.Gallen verfügt die Region seit nunmehr 150 Jahren über<br />

eine umfassende und kompetente Gesundheitsversorgung. Das <strong>KSSG</strong><br />

leistet unverzichtbare Dienste für uns alle, auch in Sachen Ausbildung<br />

und Forschung. Dies soll auch künftig so bleiben. Das Netzwerk St.Gallen<br />

Health, in dem auch das <strong>KSSG</strong> aktiv ist, bringt Wirtschaft, Forschung<br />

und Bildung zusammen und macht Kompetenzen sowie Synergien<br />

sichtbar.»<br />

KATRIN MEIER<br />

Verwaltungsratspräsidentin der Geriatrischen<br />

Klinik St.Gallen AG<br />

«Seit seiner Gründung sind das Kantonsspital<br />

St.Gallen und die Geriatrische Klinik, damals noch<br />

das Bürgerspital, eng miteinander verbunden.<br />

Heute wird angefangen bei der direkten Übernahme<br />

von Patientinnen und Patienten aus der<br />

Notfallaufnahme bis hin zu zahlreichen Fahrten<br />

im Tunnel unter der Rorschacher Strasse hindurch<br />

täglich Hand in Hand gearbeitet. Als preferred<br />

partner schätzen wir auf allen Ebenen die ebenso<br />

professionelle wie konstruktive Zusammenarbeit<br />

zugunsten unserer Patientinnen und Patienten –<br />

und wir wünschen zum Jubiläum weitere erfolgreiche<br />

150 Jahre.»<br />

PROF. DR. ALEX DOMMANN<br />

Departementsleiter «Materials meet Life», Empa<br />

«Die Empa, die in St.Gallen 1885 als Kontrollstelle für Baumwollgarne<br />

gegründet wurde, dankt dem Kantonsspital St.Gallen für die wertvolle<br />

Zusammenarbeit. Im Bereich der Knochenbiopsie reicht diese bis ins<br />

Jahr 2002 zurück, und seit 2015 haben wir rund 40 gemeinsame Projekte<br />

durchgeführt. Das <strong>KSSG</strong> ist einer unserer wichtigsten Partner und zusammen<br />

mit der Universität St.Gallen (HSG) ein Pfeiler des Innovationsparks<br />

in der Ostschweiz. Wir alle freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit<br />

und gratulieren dem Kantonsspital St.Gallen zu seinen Erfolgen und<br />

zum Jubiläum!»<br />

DR. DIEGO DE LORENZI<br />

Chefarzt Chirurgie, Geschäftsleitungsmitglied und Leiter Departement<br />

Allgemein- und Viszeral chirurgie der Spitalregion Rheintal<br />

Werden berg Sarganserland (SR RWS)<br />

«Das Kantonsspital St.Gallen ist ein unverzichtbarer Teil der Gesundheitsversorgung<br />

für die Ostschweizer Bevölkerung. Das breite Angebot<br />

ermöglicht eine umfassende Abklärung, Behandlung und Betreuung<br />

der Patientinnen und Patienten. Die enge Zusammenarbeit, die kurzen<br />

Wege und der fachliche Austausch mit dem Kantonsspital St.Gallen<br />

bieten den Vorteil, gemeinsame Standards und Prozesse zu entwickeln,<br />

was nicht zuletzt die medizinische Qualität in den kantonalen Spitälern<br />

weiter stärkt. Wir freuen uns, mit dem Kantonsspital St.Gallen ein starkes<br />

Zentrumsspital in unseren Reihen zu wissen, und gratulieren herzlich<br />

zum 150-jährigen Jubiläum.»<br />

DR. TILL HORNUNG<br />

CEO der Kliniken Valens<br />

«Das Kantonsspital St.Gallen war bereits an die<br />

100 Jahre alt, als die Rehaklinik Valens 1970 ihre<br />

Pforten öffnete. Inzwischen ist unser Unternehmen<br />

zu einer Rehaklinikgruppe herangewachsen – doch<br />

eines ist gleich geblieben: die enge und partnerschaftliche<br />

Zusammenarbeit mit dem <strong>KSSG</strong>, einem<br />

unserer wichtigsten zuweisenden Spitäler. Wir sind<br />

froh, auf das <strong>KSSG</strong> zählen zu dürfen, das auch nach<br />

150 Jahren eine feste Grösse in der Spitallandschaft<br />

ist und damals wie heute moderne Spitzenmedizin<br />

betreibt.»<br />

30<br />

31


ZEITRAFFER –<br />

150 JAHRE IM SCHNELLDURCHLAUF<br />

Seit 1873 ist das Kantonsspital St.Gallen eine feste Grösse<br />

in der Schweizer Spitallandschaft. Hier sind die wichtigsten<br />

Meilensteine der Unternehmensgeschichte:<br />

33


1873 // Gründervater<br />

Nach langem politischen Ringen und<br />

dank des unermüdlichen Einsatzes<br />

von Pionieren wie Dr. Jakob Laurenz<br />

Sonderegger wird aus dem kleinen<br />

Gemeindespital das stattliche Kantonsspital<br />

St.Gallen (<strong>KSSG</strong>).<br />

1881 // Soziale Pioniertat<br />

«Armengenössige» und «Bedürftige»<br />

müssen nur die Hälfte der normalen<br />

Tagestaxe bezahlen, genauer gesagt:<br />

einen Franken. Für die Ärmsten wird ein<br />

Freibettenfonds aus privaten Spenden<br />

eingerichtet. Dieser Fonds wird erst mit<br />

dem Inkrafttreten des neuen Krankenversicherungsgesetzes<br />

(KVG) 1996 aufgehoben.<br />

1873<br />

1888 // Vorläufer der Frauenklinik<br />

Die St.Galler «Entbindungsanstalt»<br />

kommt auf das Areal des Kantonsspitals.<br />

Darin sind 28 Betten sowie Unterrichtsräume<br />

für Hebammenschülerinnen<br />

untergebracht. Administrativ bleiben<br />

die «Entbindungsanstalt» und das Spital<br />

noch bis 1941 teilweise getrennt.<br />

1890 // Prosektur<br />

Das Kantonsspital erhält als erstes<br />

nichtuniversitäres Spital eine Prosektur,<br />

wo Leichen seziert und auf ihre Todesursache<br />

hin untersucht werden. Damit<br />

werden wichtige Grundlagen für die wissenschaftliche<br />

Forschung geschaffen.<br />

1914 – 1918 // Selbstversorgung<br />

im Krieg<br />

Während des Ersten Weltkriegs leidet<br />

die Schweiz unter Rohstoffmangel. Das<br />

<strong>KSSG</strong> hat gut vorgesorgt und grosse<br />

Reserven an Nahrungsmitteln, Kohle<br />

und Verbandsstoff gebunkert. Zudem<br />

bewirtschaftet das Kantonsspital eigene<br />

Gärten und einen Rebberg im Rheintal.<br />

1918 // «Spanische Grippe»<br />

Die «Spanische Grippe» greift um sich:<br />

Am Kantonsspital werden 1279 Infizierte<br />

behandelt, 130 Patientinnen und Patienten<br />

sterben.<br />

1921 // Pflege für Gotteslohn<br />

Ordensschwestern aus Ingenbohl prägen<br />

die Pflege am Kantonsspital. Ihr<br />

Einsatz gilt als Gottesdienst und wird<br />

nur minimal entschädigt. Deshalb wird<br />

auch ziviles Personal nur spärlich entlöhnt.<br />

Es bilden sich erste hierarchische<br />

Führungsmodelle mit Oberschwestern<br />

heraus.<br />

1939 – 1945 // Männer in den<br />

Aktivdienst<br />

Das <strong>KSSG</strong> bildet während des Zweiten<br />

Weltkriegs Pflegerinnen für Militär- und<br />

Zivilspitäler aus. Zudem lichten sich die<br />

eigenen Reihen, da die meisten männlichen<br />

Angestellten in den Aktivdienst<br />

müssen. Einige absolvieren diesen in<br />

der Luftschutztruppe des <strong>KSSG</strong> (Bild).<br />

Immerhin werden die Chefärzte vom<br />

Militärdienst befreit.<br />

1945 // Die eigene Apotheke<br />

Das Spital eröffnet seine eigene Apotheke,<br />

die ein Jahr später zur Kantonsapotheke<br />

erhoben wird.<br />

1948 // Anästhesie gewinnt an<br />

Bedeutung<br />

Dank neuer Narkoseverfahren aus<br />

England und Skandinavien sowie der<br />

Blutspendenorganisation werden lange,<br />

komplexe Operationen möglich. Chefchirurg<br />

Dr. Josef Oberholzer setzt sich<br />

als Erster in der Schweiz dafür ein, die<br />

Anästhesie als eigenständiges Fachgebiet<br />

anzuerkennen. 1960 wird Dr. Franz<br />

Kern zum ersten Chefarzt für Anästhesiologie<br />

am <strong>KSSG</strong> gewählt.<br />

1958 // Kampf gegen Polio<br />

1958 wütet die Kinderlähmung ein<br />

letztes Mal: Bevor sich Ende der 1950er-<br />

Jahre ein Impfstoff verbreitet, übernehmen<br />

Respiratoren im Notfall die künstliche<br />

Beatmung. Erkrankte Kinder dürfen<br />

die «eisernen Lungen», wie die Kapseln<br />

im Volksmund heissen, oft monatelang<br />

nicht verlassen.<br />

1961 // Pioniertat in der<br />

orthopädischen Chirurgie<br />

(Seiten 4 – 5)<br />

1969 // Erste Nierentransplan<br />

tation<br />

Am <strong>KSSG</strong> wird erstmals eine Niere unter<br />

der Leitung von Dr. Danko Sege transplantiert.<br />

Weltweit erfolgen derartige<br />

Transplantationen erst ab 1980 standardmässig.<br />

1970 // Hygienevorbild für Europa<br />

Die «ultrasterile Operationsbox» geht<br />

in Betrieb. Das Operationsteam ist von<br />

den Anästhesistinnen und Anästhesisten<br />

durch eine Trennwand isoliert, trägt<br />

Visierhelme und die bakterienreiche<br />

Atemluft des Patienten oder der Patientin<br />

wird über ein<br />

Schlauchsystem<br />

ins Freie geleitet.<br />

1978 // Freie Menüwahl<br />

Patientinnen und Patienten<br />

können neuerdings aus mehreren<br />

Menüs auswählen. Die<br />

Reorganisation der Essensverteilung<br />

hat die Prozesse<br />

im Spital wesentlich verändert.<br />

1979 // Interdisziplinäre<br />

Notfallstation<br />

Die «Zentrale Notfallstation» am <strong>KSSG</strong><br />

ist die erste interdisziplinäre Notfallstation<br />

der Schweiz. St.Galler Ärztinnen<br />

und Ärzte haben das Konzept der<br />

Emergency Station bei Weiterbildungen<br />

in den USA kennengelernt.<br />

1984 // Die Schwestern treten ab<br />

Aufgrund von Nachwuchsmangel müssen<br />

die Ingenbohler Schwestern ihren<br />

Pflegedienst am <strong>KSSG</strong> nach über 100<br />

Jahren aufgeben.<br />

1890<br />

1945 1978 1994<br />

1888 1921 1958 1972<br />

1988 1995<br />

1972 // Das neue<br />

Wahrzeichen<br />

Das Wahrzeichen des<br />

Kantonsspitals wächst<br />

in die Höhe und thront<br />

mit seinen rund 78 Metern über der<br />

Stadt: das Haus 04. Das Logo auf der<br />

Nord- und Südseite wird erst 17 Jahre<br />

später montiert.<br />

1973 // Der Hort lockt<br />

Wer im Spital arbeitet, kann seine Kinder<br />

in der neuen, spitaleigenen Kindertagesstätte<br />

betreuen lassen – ein fortschrittliches<br />

Angebot, das sich positiv auf die<br />

Rekrutierung von Frauen auswirkt.<br />

1988 // Nierensteinzertrümmerer<br />

Nierensteine mit Ultraschall zertrümmern<br />

– diese neuartige Methode ist<br />

aus finanziellen Gründen vorerst den<br />

Universitätsspitälern vorbehalten. Auf<br />

Initiative des <strong>KSSG</strong> schafft man zusammen<br />

mit den Spitälern Luzern, Aarau,<br />

Frauenfeld und Feldkirch einen mobilen<br />

Zertrümmerer an. Jeden Dienstag zertrümmert<br />

er in St.Gallen.<br />

1988 // Low-Vision-Abteilung<br />

(Seiten 20 – 21)<br />

1994 // Paradigmenwechsel im<br />

Rettungsdienst<br />

Um lebenswichtige Körperfunktionen<br />

schon am Notfallort und während des<br />

Transports aufrechtzuerhalten, wird<br />

der Rettungsdienst unter der Führung<br />

des <strong>KSSG</strong> professionalisiert und ausgebaut.<br />

Zuvor hatte die Stadtpolizei den<br />

Auftrag, Patientinnen und Patienten<br />

schnellstmöglich ins Spital zu transportieren.<br />

1995 // Globalkreditsystem<br />

Das Globalkreditsystem verwandelt das<br />

<strong>KSSG</strong> von einer kantonalen Dienststelle<br />

in ein selbstständig öffentlich-rechtliches<br />

Unternehmen. Das Parlament<br />

spricht dem Spital einen jährlichen<br />

Kredit zu, mit dem es selber haushalten<br />

muss. Das visionäre System hält später<br />

Einzug in zahlreiche Schweizer Spitäler.<br />

1995 // Nein zur Herzchirurgie<br />

Das St.Galler Stimmvolk lehnt eine Herzchirurgie<br />

im eigenen Kantonsspital ab<br />

– die Kampagne privater Konkurrenzkliniken<br />

war erfolgreich. Für Operationen<br />

am offenen Herzen werden Betroffene<br />

weiterhin in ausserkantonale Spitäler<br />

geschickt – ein herber Rückschlag für<br />

das <strong>KSSG</strong>.<br />

Bild: Staatsarchiv St.Gallen


1995 // Früher Internetauftritt<br />

In einer Zeit, in der nur Universitäten<br />

am Internet hängen und viele Menschen<br />

zweifeln, ob sich diese neuartige Technologie<br />

durchsetzen wird, nimmt das<br />

<strong>KSSG</strong> als erstes Spital in der Schweiz<br />

seine Website in Betrieb.<br />

1996 // Neues Kranken -<br />

v ersicherungsgesetz (KVG)<br />

Das neue KVG hat bedeutsame<br />

Auswirkungen:<br />

• Obligatorische Grundversicherung<br />

für alle<br />

• Keine Privathonorare für ambulante<br />

Patientinnen und Patienten<br />

• Wettbewerb unter den<br />

Krankenversicherern<br />

• Pflicht zur kantonalen<br />

Krankenhausplanung<br />

2002 // Quadriga<br />

Als Fortführung des Globalkreditsystems<br />

wird das System Quadriga eingeführt.<br />

Die neun Akutspitäler werden in<br />

vier selbständige Spitalverbunde mit<br />

Globalkredit zusammengefasst, um<br />

Synergien zu nutzen: St.Gallen-Rorschach,<br />

Altstätten-Grabs-Walenstadt,<br />

Uznach und Wattwil-Flawil-Wil.<br />

2004 // TARMED<br />

Der nationale Tarifplan TARMED listet<br />

die Preise von über 4’500 ambulanten<br />

Leistungen auf, die im ganzen Land<br />

gelten, jedoch mit unterschiedlichen<br />

kantonalen Taxpunkten.<br />

2009 // Siegreiche Logistik<br />

Das Logistikteam des <strong>KSSG</strong> gewinnt den<br />

Swiss Logistics Award – es ist das erste<br />

Mal, dass ein Spital diese Auszeichnung<br />

erhält.<br />

2009 // Ausbau der Forschung<br />

Die Forschungsabteilung wird zu einer<br />

Clinical Trials Unit (CTU) zur Beantwortung<br />

komplexer klinischer Forschungsfragen<br />

ausgebaut. Lediglich sechs<br />

Schweizer Spitäler haben ein CTU – das<br />

<strong>KSSG</strong> ist das einzige nichtuniversitäre.<br />

1996 2002<br />

2000 2006 2009<br />

2010<br />

1990/2000 // Innovative Struktur<br />

Das Departement für Innere Medizin<br />

wird neu strukturiert. Dabei ist insbesondere<br />

das klinikübergreifende Bettenmanagement<br />

überarbeitet worden.<br />

Die auf Interdisziplinarität ausgelegte<br />

Neustrukturierung ist schweizweit innovativ.<br />

In diesem Zusammenhang wird<br />

die Gastroenterologin Prof. Dr. Christa<br />

Meyenberger zur Chefärztin befördert –<br />

zur ersten Chefärztin in der Geschichte<br />

des Kantonsspitals.<br />

2001 // Pflegepersonal fordert<br />

mehr Lohn<br />

Das St.Galler Pflegepersonal fordert<br />

eine Lohnerhöhung um zwei Stufen,<br />

der Kanton bewilligt jedoch nur eine.<br />

Zehn Jahre und einen Bundesgerichtsprozess<br />

später bekommt das Spitalpersonal<br />

Recht – und 24 Millionen Franken<br />

Nachzahlungen.<br />

2006 // Quadriga 2<br />

Das Regionalspital Flawil wechselt in<br />

den Verbund St.Gallen-Rorschach, der<br />

sich nun Kantonsspital St.Gallen nennt.<br />

Die St.Galler Regierung nimmt wieder<br />

Einsitz in den Verwaltungsräten der<br />

Spitalverbunde.<br />

2009 // Gemeinsamer<br />

Notfallbetrieb<br />

Das Spital betreibt den Notfall in den<br />

erweiterten Räumlichkeiten der Zentralen<br />

Notfallstation des <strong>KSSG</strong> gemeinsam<br />

mit freipraktizierenden Ärztinnen und<br />

Ärzten.<br />

2010 // Neuer CEO<br />

Daniel Germann, der seit 2006 Hans<br />

Leuenbergers Stellvertreter war, wird<br />

neuer CEO. Bis zu seiner Pensionierung<br />

2022 fördert Daniel Germann als CEO<br />

die Weiterentwicklung des <strong>KSSG</strong>.<br />

2011 // Operationsroboter<br />

Die computerunterstützte Chirurgie mit<br />

Operationsrobotern wird immer wichtiger,<br />

am <strong>KSSG</strong> kommt der vierarmige<br />

Roboter Da Vinci etwa in der Urologie<br />

zum Einsatz. Er ermöglicht minimalinvasive<br />

Operationen mit höchster<br />

Präzision.<br />

2012 // SwissDRG<br />

Stationäre Leistungsangebote der<br />

Schweizer Spitäler werden neuerdings<br />

über Fallpauschalen entschädigt<br />

(SwissDRG), und es besteht freie Spitalwahl.<br />

Das verstärkt den Wettbewerb<br />

zwischen den Spitälern.<br />

2016 // Die Baumaschinen tanzen<br />

Nachdem das St.Galler Stimmvolk<br />

einen 930-Millionen-Franken-Kredit für<br />

neue Spitalbauten im Kanton bewilligt,<br />

fallen in den folgenden Jahrzehnten<br />

Um- und Neubauten im Umfang<br />

von 400 Millionen Franken an. In den<br />

nächsten elf Jahren wird das <strong>KSSG</strong><br />

eine umfassende bauliche Erweiterung<br />

und Erneuerung erfahren, zudem entsteht<br />

auf dem <strong>KSSG</strong>-Areal der Neubau<br />

des Ostschweizer Kinderspitals.<br />

2020 // Coronapandemie<br />

Eine junge Studentin mit leichtem<br />

Schnupfen steht im Fokus der Medien;<br />

sie ist der erste bestätigte Covid-19-Fall<br />

im Kanton St.Gallen. Das <strong>KSSG</strong> betreut<br />

sie zu Hause. Die Pandemie wird dem<br />

Spitalpersonal viel abverlangen.<br />

2012 2020 2021<br />

2017<br />

2017 // Immobilien übertragen<br />

Die Spitalimmobilien werden vom<br />

Kanton an die Spitalanlagegesellschaft<br />

Kantonsspital St.Gallen übertragen,<br />

die eine hundertprozentige Tochtergesellschaft<br />

des <strong>KSSG</strong> ist.<br />

2018 // Joint Medical Master<br />

Das Stimmvolk spricht sich deutlich für<br />

den Joint Medical Master in St.Gallen<br />

aus: ein Masterstudiengang in Medizin,<br />

um dem Mangel an ärztlichen Fachpersonen<br />

entgegenzuwirken. Dafür<br />

haben das <strong>KSSG</strong>, die Hochschule<br />

St.Gallen (HSG) und die Universität<br />

Zürich zusammengespannt.<br />

2021 // Laser gegen Tumor<br />

(Seiten 56 – 57)<br />

2021 // 4plus5: Schliessung der<br />

Regional spitäler<br />

Der Kanton konzentriert das stationäre<br />

Angebot in den Mehrspartenspitälern Grabs,<br />

St.Gallen, Uznach und Wil. Die Spitäler in<br />

Rorschach, Altstätten, Flawil und Wattwil<br />

werden geschlossen, an diesen Orten sollen<br />

ambulante Gesundheitszentren entstehen<br />

und das Spital Walenstadt an das Kantonsspital<br />

Graubünden verkauft werden. Die<br />

Strategie nennt sich 4plus5. Den Anfang<br />

macht das Spital Rorschach, bei dem die<br />

Türen der Notfallstation sowie der stationäre<br />

Teil des Spitals Rorschach seit Ende<br />

Januar geschlossen bleiben. Bis in einigen<br />

Jahren ein neues Gesundheitszentrum<br />

entstehen wird, führt das Kantonsspital<br />

St.Gallen sein ambulantes Angebot vor Ort<br />

unter dem Namen Ambi Rorschach weiter.<br />

In Flawil sieht es anders aus: Hier wird das<br />

Spital im Juni komplett geschlossen. Im<br />

Stadtzentrum von Flawil werden fortan<br />

ambulante Sprechstunden im Ambi Flawil<br />

angeboten.<br />

2023<br />

2022 // CEO-Wechsel<br />

Daniel Germann geht nach 12 Jahren als<br />

CEO in Pension. An seine Stelle tritt Stefan<br />

Lichtensteiger, der die Funktion per 1. Mai<br />

übernimmt.<br />

2023 // Das Ende einer Ära<br />

Das neue Herzstück des Kantonsspitals,<br />

das Haus 07A mit seinen fünfstöckigen<br />

Sockelbauten und dem Bettenhochhaus,<br />

wird fertiggestellt – das Bauprojekt «come<br />

together» schreitet auch im Jubiläumsjahr<br />

voran. Mit dem Abbruch des ursprünglichen<br />

Spitalgebäudes, des Hauses 01, endet am<br />

<strong>KSSG</strong> eine Ära – und es entsteht Platz für<br />

eine neue.


HERZENSANGELEGENHEIT<br />

Das Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung.<br />

Am Kantonsspital St.Gallen kämpft ein eingespieltes Team<br />

mit hochspezialisierter Software und handwerklicher Finesse<br />

gegen das «elektrische Gewitter» im Herz.<br />

Kurz nach 8:00 Uhr morgens liegt die erste Patientin<br />

narkotisiert im Herzkatheterlabor unter einem<br />

Abdecktuch. Das Team aus einem Anästhesisten,<br />

zwei Pflegefachpersonen und einem Softwaretechniker<br />

ist auch längst da. Eine angenehme Anspannung<br />

hängt in der Luft – wie vor einer Prüfung, auf die<br />

man sich minutiös vorbereitet hat und von der man<br />

weiss, dass man sie bestehen wird. Dann plötzlich<br />

steht Prof. Dr. Ammann in der Tür – schwarzgerahmte<br />

Brille, breites Lächeln, weisser Kittel, blaue<br />

Laufschuhe – und nickt seinen Mitarbeitenden zu.<br />

Es kann losgehen.<br />

In der Schweiz ist ein Prozent der Bevölkerung von<br />

Vorhofflimmern betroffen, der häufigsten aller<br />

Herzrhythmusstörungen. Dabei führen elektrische<br />

Kurzschlüsse in den Vorhöfen des Herzens dazu,<br />

dass sie und die Herzkammern nicht aufeinander<br />

abgestimmt pumpen. Dies hat einen unregelmässigen<br />

Puls und Kurzatmigkeit, manchmal auch<br />

Herzrasen oder einen Druck in der Brust zur Folge.<br />

In ebenso vielen Fällen ist Vorhofflimmern aber<br />

asymptomatisch und wird nur zufällig entdeckt.<br />

Unbehandelt kann es zur Herzinsuffizienz oder gar<br />

zum Hirnschlag führen. Doch es gibt einen effizienten<br />

Weg, das Vorhofflimmern zu behandeln: die<br />

Lungenvenenisolation.<br />

Blick aus dem Kontrollraum ins Herzkatheterlabor.<br />

Alle helfen mit<br />

Im Herzkatheterlabor wird schnell ersichtlich: Eine<br />

Lungenvenenisolation ist Teamwork. Die beiden<br />

Pflegefachpersonen legen dem Arzt die Instrumente<br />

bereit und nehmen sie ihm ab. Sie schälen lange,<br />

stählerne Nadeln und Katheter mit verschiedenen<br />

Aufsätzen aus ihren Plastikverpackungen und bereiten<br />

sie für den Eingriff vor.<br />

Jetzt stösst Prof. Dr. Ammann einen Katheter über<br />

ein venöses Blutgefäss in der Leiste der Patientin<br />

in deren rechten Herzvorhof und von da durch<br />

die Herzscheidewand in den linken Vorhof. Die<br />

Technik, einen Katheter bei pumpendem Herzen<br />

zu navigieren, hat der Professor seit über 20 Jahren<br />

perfektioniert – bei rund 150 Eingriffen im Jahr. Das<br />

sind Fallzahlen und Erfahrungswerte, die nur an<br />

einem spezialisierten Zentrumsspital möglich sind.<br />

Auch Ammanns Kolleginnen und Kollegen aus der<br />

Radiologie tragen zum Gelingen der Operation bei<br />

– Interdisziplinarität und Interprofessionalität sind<br />

wichtige Erfolgsfaktoren am Kantonsspital St.Gallen<br />

(<strong>KSSG</strong>). Die Radiologinnen und Radiologen haben<br />

das Herz der Patientin vorgängig mittels Magnetresonanztherapie<br />

(MRT/MRI) untersucht und detaillierte<br />

3D-Abbildungen beider Herzvorhöfe erstellt.<br />

Ergänzt um die elektrophysiologische Analyse, die<br />

Prof. Dr. Ammann mithilfe eines Diagnostikkatheters<br />

gerade erstellt, leuchten die 3D-Abbildungen<br />

der Herzvorhöfe jetzt neonfarbig auf dem Monitor,<br />

der über der Patientin von der Decke hängt. Knalliges<br />

Violett steht für den elektrisch gesunden Vorhof,<br />

während Flächen mit vernarbtem Vorhofgewebe<br />

und niedriger Spannung in leuchtendem Rot codiert<br />

werden. Dass nur kleine Flächen rot aufleuchten,<br />

zeigt, dass das Flimmern die Vorhöfe noch nicht<br />

allzu stark geschädigt hat. So weit, so gut.<br />

37<br />

39


Höchste Effizienz<br />

«Wir abladieren mit 50 Watt», sagt der Arzt jetzt<br />

– nicht zu sich selbst, sondern zu Omar Natour,<br />

der sich im Kontrollraum zwei Meter zu seiner<br />

Rechten hinter einer Glasscheibe und vor zwölf<br />

Monitoren eingerichtet hat. Der Softwaretechniker<br />

arbeitet für die Firma Biosense Webster, die Entwicklerin<br />

der Herzmapping-Software Carto3, mit<br />

der sich Katheter im Herzen ohne Durchleuchtung<br />

steuern lassen. «50 Watt, verstanden», klingt es aus<br />

dem Lautsprecher zurück. Dann ein dumpfes Rauschen,<br />

das zehn, sogar 20 Sekunden anhält. Der<br />

Arzt hat per Fusspedal die Ablation ausgelöst, also<br />

den Verödungsprozess, bei dem das Gewebe mittels<br />

Hochfrequenzenergie vernarbt und leitungsunfähig<br />

gemacht wird. Auf dem Bildschirm poppt an der<br />

virtuellen Katheterspitze ein Kreis auf, der sich mit<br />

roter Farbe füllt, bis Ammann den Fuss vom Pedal<br />

nimmt. Ein erster Ablationspunkt ist gesetzt, mit<br />

drei bis vier Millimetern Abstand folgt der nächste.<br />

So arbeitet sich der Arzt einmal rund um die Lungenvene<br />

vor, während Natour den visualisierten<br />

Vorhof nach Bedarf vergrössert, dreht oder Hilfslinien<br />

einzeichnet.<br />

«Mit der neusten Kathetertechnologie haben wir<br />

die reine Ablationszeit auf zehn Minuten gesenkt»,<br />

erklärt der Softwaretechniker in einer ruhigen<br />

Minute, «davor dauerte es dreimal so lang.» Möglich<br />

ist das dank immer leistungsstärkerer Katheter wie<br />

etwa dem QDot Micro, der auf einer 3,5 mm langen<br />

Spitze drei Mikroelektroden mit einer Ablationsfläche<br />

von je 0,086 mm 2 , einen Drucksensor, sechs<br />

Wärmesensoren und ein Kühlungssystem vereint.<br />

Bis zu 4’000 Franken kostet ein solcher Hightech-<br />

Katheter. Und dennoch: Dank ihrer hohen Effizienz<br />

lohnt sich die Investition in eine Lungenvenenisolation,<br />

auch weil dadurch lebenslange Behandlungen<br />

von Rhythmusstörungen mit Medikamenten häufig<br />

vermieden werden können.<br />

Prof. Dr. Peter Ammann, Leiter Rhythmologie<br />

Am Puls der Zeit<br />

Die minimalinvasive Methode gibt es seit den späten<br />

1990er-Jahren. Ein Kardiologe in Bordeaux identifizierte<br />

damals die Lungenvenen als Ausgangspunkt<br />

von Vorhofflimmern. Die mehrstündigen Eingriffe<br />

fanden allerdings unter ständiger Röntgenbestrahlung<br />

statt, was eine hohe Belastung für die Ärztinnen<br />

und Ärzte sowie die Patientinnen und Patienten<br />

darstellte.<br />

Als Prof. Dr. Ammann 2004 eine Vollzeitstelle am<br />

<strong>KSSG</strong> antrat, steckte die Rhythmologie, die sich<br />

mit Herzrhythmusstörungen befasst, hier noch<br />

in den Kinderschuhen. Heute gehört das <strong>KSSG</strong> zu<br />

den eifrigsten Nutzern des Carto3-Mapping-Systems<br />

und arbeitet auf dem medizinischen Niveau eines<br />

Universitätsspitals. Und die Zukunft ist vielversprechend:<br />

Gemeinsam mit den Universitätsspitälern<br />

Bern und Basel ist für nächstes Jahr eine Studie<br />

zur Pulsed Field Ablation geplant – einer wiederentdeckten<br />

Energiequelle in der Elektrophysiologie,<br />

mit der die Ablation noch schneller und sicherer<br />

sein soll. Das <strong>KSSG</strong> wird als «early adopter» somit<br />

zu den Erstanwendern gehören.<br />

Waagrecht ist gut<br />

Waagrechte Striche auf schwarzem Hintergrund<br />

– die weissen Graphen auf dem Bildschirm vor<br />

Prof. Dr. Ammann weisen keine Lungenvenensignale<br />

mehr auf. In der Rhythmologie bedeutet dies,<br />

dass die elektrischen Impulse in den Lungenvenen<br />

erfolgreich isoliert wurden und den Herzrhythmus<br />

nicht mehr stören können. Der Diagnostikkatheter<br />

misst bei der Nachkontrolle keine elektrische<br />

Spannung mehr – deshalb die waagrechte Linie<br />

auf dem Elektrogramm. Nach 80 Minuten ist der<br />

Eingriff beendet.<br />

«Bist du zufrieden, Omar?», spricht Prof. Dr.<br />

Ammann ins Mikrofon, die Konzentration ist einem<br />

Lächeln gewichen. «Wenn du zufrieden bist, Peter,<br />

dann bin ich das auch.» Am wichtigsten aber ist,<br />

dass die Patientin zufrieden ist. Nach ein paar Stunden<br />

Bettruhe wird sie das Spital schon am nächsten<br />

Tag gesund verlassen.<br />

Auch Dr. David Altmann ist spezialisiert auf Lungenvenenisolationen.<br />

Wie auch für Prof. Dr. Ammann und zwei<br />

weitere Kollegen im Fachbereich Rhythmologie<br />

sind Navigations-Software, Katheter und Monitor seine<br />

wichtigsten Instrumente dabei.


Für zwei Jahre verlässt Leuenberger die Ostschweiz,<br />

lebt in London und holt im Fernstudium die Maturität<br />

nach, bevor er in die Ostschweiz zurückkehrt,<br />

um an der renommierten Hochschule St.Gallen<br />

(HSG) Betriebswirtschaft zu studieren.<br />

Hier kommt er mit zahlreichen Management-Modellen<br />

in Berührung, doch ihn interessiert vor allem die<br />

Bedeutung der Unternehmenskultur als Faktor für<br />

eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Gegenseitige<br />

Wertschätzung soll ein positives Betriebsklima, die<br />

interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Leistung<br />

der Mitarbeitenden fördern. Dieser Ansatz ist<br />

in den 1970er-Jahren in der Schweizer Wirtschaft<br />

weitgehend unbekannt und bei der St.Galler Stadtverwaltung,<br />

deren erster Organisator Leuenberger<br />

im Jahr 1975 wird, sowieso.<br />

MR. KANTONSSPITAL<br />

Hans Leuenberger, der langjährige Geschäftsführer des Kantonsspitals<br />

St.Gallen, steht für eine Unternehmenskultur, wie man sie<br />

in öffentlichen Institutionen in der Schweiz vor ihm kaum kannte:<br />

mit Eigenverantwortung und Wertschätzung zum Erfolg.<br />

Die fünf gestandenen Chefärzte des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>)<br />

sind dem jungen Mann, der ihnen im Restaurant Sonne in Rotmonten<br />

bei Bratwurst und Rösti gegenübersitzt, nicht gerade wohlgesinnt.<br />

Dieser 35-jährige Betriebswirtschafter aus der Stadtverwaltung mit<br />

null Erfahrung im Gesundheitswesen soll ihr Chef werden? Ein zäher<br />

Abend bahnt sich an.<br />

Theorien aus der Ferne<br />

Als sich Hans Leuenberger in den 1960er-Jahren<br />

bei Adolph Saurer in Arbon zum Kaufmann ausbilden<br />

lässt, ist er begeistert vom Grossunternehmen:<br />

Jede und jeder Mitarbeitende, jedes Zahnrädchen<br />

erfüllt seinen Auftrag, damit das Uhrwerk Saurer<br />

reibungslos läuft.<br />

Praktikum bei Schwester Johanna<br />

Jetzt, am Esstisch mit den Chefärzten im Jahr 1980,<br />

setzt er alles auf die Karte Unternehmenskultur.<br />

Und da werden die Ärzte plötzlich hellhörig. Wie<br />

Leuenberger als Verwaltungsdirektor des Kantonsspitals<br />

dringend benötigtes Personal anlocken<br />

möchte, wollen sie wissen. «Indem wir uns nicht<br />

mit unserer Expertise brüsten, sondern uns als<br />

attraktiven Arbeitgeber präsentieren», argumentiert<br />

Leuenberger. Die Chefs müssten den Umgang<br />

mit ihren Mitarbeitenden verbessern, ihnen auf<br />

Augenhöhe begegnen. Das hat den Ärzten so noch<br />

niemand gesagt. Sie nicken einander bedächtig zu.<br />

Jede und jeder Mitarbeitende, jedes<br />

Zahnrädchen erfüllt seinen Auftrag.<br />

1981 wird Hans Leuenberger zum neuen Verwaltungsdirektor<br />

des Kantonsspitals St.Gallen gewählt<br />

– und lebt sogleich vor, was er mit «Augenhöhe»<br />

meint. Eine seiner ersten Amtshandlungen ist ein<br />

einwöchiges Praktikum bei Schwester Johanna auf<br />

der Pflege im siebten Stock der Chirurgie. Nahbarkeit<br />

und Verständnis für die Arbeit an der Basis werden<br />

zu Pfeilern einer neuen Unternehmenskultur<br />

am <strong>KSSG</strong>. Das Pflegepraktikum macht Leuenberger<br />

zur Pflichtaufgabe aller Kadermitarbeitenden.<br />

Verwaltungsdirektor hoch drei: Hans Leuenberger (links), sein Vorgänger Hans<br />

Adler (rechts) und dessen Vorgänger Theophil Wirth.<br />

Doch nicht nur als Chef, sondern auch als Betriebswirtschafter geht<br />

Leuenberger einen neuen Weg – einen steinigen Weg, der dauert. Mit<br />

der unternehmerischen Freiheit, die er für das <strong>KSSG</strong> fordert, stösst er<br />

in der Politik lange auf taube Ohren. 1995 schliesslich wird das von<br />

Leuenberger initiierte Globalkreditsystem im <strong>KSSG</strong> eingeführt. Es wird<br />

zur Grundlage für die Verwandlung des <strong>KSSG</strong> von einer kantonalen<br />

Dienststelle zum selbstständig öffentlich-rechtlichen Unternehmen,<br />

wie wir es heute kennen. Endlich hat Leuenberger den finanziellen<br />

Handlungsspielraum, um Innovationen zu fördern. «Pilotprojekt statt<br />

Technokratie» lautet seine Devise.<br />

Adieu am Bratwursttag<br />

Leuenberger ist auch deshalb ein beliebter Chef, weil er sich hinter<br />

seine Mitarbeitenden stellt. Anfang der 2000er-Jahre etwa demonstriert<br />

das Pflegepersonal für eine Lohnerhöhung um zwei Stufen, die<br />

St.Galler Regierung hatte zuvor nur eine genehmigt. Vor den Fernsehkameras<br />

sagt Leuenberger, er sei aus Überzeugung für eine Erhöhung<br />

um zwei Lohnklassen – solange es für den Kanton finanziell verkraftbar<br />

sei. Weil im Fernsehen der Nebensatz weggeschnitten wird, muss<br />

sich Leuenberger – eben immer noch Kantonsangestellter – gegen ein<br />

drohendes Disziplinarverfahren wehren.<br />

Im Frühling 2010 verabschiedet sich Hans Leuenberger am traditionellen<br />

Bratwursttag nach fast 30 Jahren in den Ruhestand. Im St.Galler<br />

Tagblatt und in der Öffentlichkeit hat er sich längst den Spitznamen<br />

«Mr. Kantonsspital» verdient. Zum Bratwurstessen kommt der beliebte<br />

Ostschweizer an diesem Tag freilich kaum: Er ist pausenlos am Händeschütteln.<br />

42<br />

43


Linearbeschleuniger<br />

Der erste installierte Linearbeschleuniger<br />

am <strong>KSSG</strong> im Vergleich mit dem heutigen.<br />

Besuch ja, aber nur dreimal die Woche<br />

1890: Mittwoch, Samstag, Sonn- und Feiertage, jeweils zwei Stunden am Nachmittag<br />

2023: Allgemeine, halbprivate und private Abteilung: 10:00 bis 20:00 Uhr täglich<br />

Rückmeldungen ans Spital<br />

In den 1980er-Jahren und heute<br />

Schuhe<br />

Die Schuhe der Pflegefachpersonen<br />

sind heute um einiges bequemer.<br />

SO WAR ES DAMALS, SO IST ES HEUTE<br />

Im Netz<br />

Das Kantonsspital St.Gallen von heute ist mit dem von damals<br />

Anzahl der Zugriffe auf die <strong>KSSG</strong>-Website pro Tag<br />

kaum zu vergleichen. Wer es dennoch tut, gerät ins Staunen.<br />

1995: 26 Zugriffe 2023: 3ʼ700 Zugriffe<br />

Exquisit!<br />

Mittagessen im Spital 1873:<br />

Hafersuppe, gesottenes Ochsenfleisch<br />

oder Kalbskotelett mit Gemüse, Milchreis<br />

Mittagessen im Spital 2023:<br />

Blumenkohlcremesuppe, Pouletschenkelragout<br />

an italienischer Petersiliensauce<br />

mit Teigwaren und glasierten Karotten<br />

oder Nudeln an Zitronengras-Lauch-<br />

Sauce mit rotem Pesto (vegetarisch),<br />

Ananassalat<br />

895 552ʼ233<br />

Rettungssanität<br />

Chauffeure für Wahl- und Verlegungstransporte in den 1980er-<br />

Jahren und eine moderne Rettungssanitäterin<br />

Eindrückliche Dimensionen<br />

1873: Ein Spital mit einer chirurgischen, zwei<br />

medizinischen und einer Augenabteilung<br />

2023: Ein Zentrumsspital mit über 50 Kliniken,<br />

Instituten und medizinischen Kompetenzzentren<br />

Patiententransport<br />

Der Patiententransport im Gründungsjahr<br />

1873 im Vergleich mit dem heutigen.<br />

247 Mio. 540 Mio.<br />

Baukosten<br />

1873 kostete der Bau des Kantonsspitals inklusive<br />

Bodenankauf 809ʼ605 Franken (entspricht heute rund<br />

247 Mio. CHF). Die Kosten für das heutige Neubauprojekt<br />

«come together» betragen rund 540 Millionen Franken.<br />

Kleidung Pflege<br />

Ganz früher, 1974 und heute<br />

Zimmer<br />

Früher<br />

Neue Dimensionen<br />

1873: 895 Patientinnen und Patienten<br />

2021: 552ʼ233 ambulante und stationäre Besuche<br />

Heute<br />

Grösster Arbeitgeber im Kanton<br />

1873: 48 Angestellte (vier Chefärzte, sechs Assistenzärzte, 19 Pflegerinnen<br />

und acht Pfleger, zwei Spitalgeistliche, drei Personen in der<br />

Verwaltung, eine davon mit Ehefrau, eine Waschbesorgerin, ein Spitalknecht,<br />

ein Heizer mit Gehilfe und ein Apotheker). Bettenbestand: 200<br />

Heute: 6ʼ146 Mitarbeitende in 48 Berufen, davon 751 in Ausbildung.<br />

Betten bestand: 684 (Geschäftsjahr 2021)<br />

Lauwarm wegen Glatteis<br />

Bis Ende der 1930er-Jahre werden die Mahlzeiten mit einem Handwagen von der abseitsstehenden<br />

Küche zu den Bettenhäusern transportiert und dort verteilt. Ab dem Zweiten Weltkrieg<br />

erfüllt ein kleiner Lastwagen diese Aufgabe – bei Glatteis im Winter etwas langsamer, sodass<br />

das Essen oft lauwarm ankommt. 1958 wird mit dem Bau der Zentralküche gleichzeitig ein<br />

1,5 Kilometer langes, unterirdisches Kanalsystem gegraben. Bis heute transportieren hier<br />

elektrische Schleppfahrzeuge alles, was es in einem Spital zu transportieren gibt.<br />

44<br />

45


i<br />

Sandro Russi (46) wurde der Kochlöffel in die<br />

Wiege gelegt: Sein Vater war Küchenchef im<br />

Spital Wattwil, sein Grossvater tat bis 1982<br />

dasselbe am <strong>KSSG</strong> und war dafür bekannt,<br />

am Personalfest lauthals Vico Torrianis Schlager<br />

anzustimmen. Russi ist seit 2000 am <strong>KSSG</strong><br />

tätig und hat sich vom Diätkoch zum Leiter<br />

Hospitality Management hochgearbeitet.<br />

«Jedes Spital ist auch ein kleines Gastrounternehmen – oder im<br />

Fall des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) ein grosses. Es gilt, täglich<br />

700 Patientinnen und Patienten sowie 2’000 Mitarbeitende zu verpflegen:<br />

morgens, mittags, abends und zwischendurch. Ohne Planung<br />

und Visionen geht da gar nichts. Deshalb durfte ich 2012 als Nutzervertreter<br />

der Projektgruppe beitreten, die für das neue Haus 07A ein<br />

zukunftsträchtiges Gastrokonzept entwickeln sollte.<br />

So haben wir drei Konzepte erarbeitet, die hoffentlich bis Oktober<br />

2023 Wirklichkeit werden: Erstens kommt auf der neuen Dachterrasse<br />

das Restaurant «Roof Garden» zu stehen. Da gibt es wenig Fleisch<br />

und tierische Produkte, dafür aber viel Rohkost, und alles wird in<br />

praktischen Bowls serviert, wie man es aus den<br />

hippen Restaurants in Zürich kennt. Das Essen<br />

soll gesund und nachhaltig sein, denn ich bin<br />

überzeugt, dass das den Puls der Gesellschaft<br />

trifft. Am <strong>KSSG</strong> bin ich mit dieser Überzeugung<br />

nicht allein: Seit 2014 haben wir das erste vegetarische<br />

Restaurant der Stadt und bieten seit 2017<br />

sogar täglich vegane Mahlzeiten an.<br />

Natürlich wirkt sich das auf den anstehenden<br />

Küchenumbau aus: Die heutigen Ernährungsgewohnheiten<br />

erfordern neue Infrastrukturen,<br />

zum Beispiel mehr Steamer für Gemüse und<br />

weniger Schmormöglichkeiten. Einem Prinzip<br />

aber bleiben wir treu: Es wird auch künftig frisch gekocht und sofort<br />

serviert. Dass wir viele regionale Zutaten verwenden, entspricht unserer<br />

Verpflegungsphilosophie und ist im ISO-Zertifikat festgehalten.<br />

Unsere zweite Idee für den Neubau: Das «Caffè Sette» mit 120 Sitzplätzen<br />

im Eingangsbereich. An einer sechs Meter langen Kaffeebar<br />

werden Baristas den besten Spitalkaffee der Schweiz brühen. Dafür<br />

haben wir mit der ältesten Kaffeerösterei des Landes eine St.Galler<br />

Partnerin gefunden, von der wir 15 Tonnen Kaffeebohnen pro Jahr<br />

beziehen.<br />

WIR SIND<br />

GASTROPIONIERE<br />

Drittens ist gleich neben der Kaffeebar der «Pickup Minimarket»<br />

vorgesehen, der mehrere Funktionen erfüllt: Er bietet ein umfangreiches<br />

Kiosksortiment und Besucherinnen und Besucher können<br />

kleine Geschenke für ihre Angehörigen besorgen – etwa einen Blumenstrauss<br />

aus der hauseigenen Floristik oder selbstgemachte Öle.<br />

Um auf dem Nachhauseweg den Gang zum Supermarkt einzusparen,<br />

gibt es zudem das Wichtigste für den täglichen Bedarf zu kaufen: vom<br />

Brot über Joghurt bis hin zum Trockenfleisch.»<br />

47


EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN<br />

DES KANTONSSPITALS ST.GALLEN<br />

Fast alle waren schon einmal in einem Spital.<br />

Doch die meisten Räume und Orte bleiben<br />

Patientinnen, Patienten und Besuchenden<br />

verborgen. Ein Blick hinter die Kulissen des<br />

Kantonsspitals St.Gallen.<br />

5<br />

2<br />

4<br />

3<br />

1 Lüftungsanlage Haus 24<br />

2 Dampferzeugung Haus 25<br />

3 Notstromgeneratoren Haus 10<br />

4 Gemüselager Küche<br />

5 Bettenreinigung<br />

6 Aussicht von Dach Haus 04<br />

6<br />

1<br />

48<br />

49


2<br />

1 Kälteanlage Dach Haus 04<br />

2 Nasszone Sterilisation<br />

3 Geschirrspülmaschine Küche<br />

4 Reinigung Zentraler Hörsaal<br />

5 Kühlraum Spitalpharmazie<br />

6 Patiententransport im unterirdischen Kanalsystem<br />

7 Apothekerin bei der Herstellung von Zytostatika<br />

3<br />

6<br />

BILD DUNKLER MACHEN<br />

1<br />

5<br />

7<br />

4<br />

50<br />

51


1<br />

1 Helikopterlandeplatz<br />

2 Warmwassererzeugung Frischwasserstationen Haus 03<br />

3 Laufband Küche<br />

4 Rohrpost<br />

5 Operationssaal<br />

6 Operationsgeräte<br />

3<br />

4<br />

2<br />

6<br />

5<br />

52<br />

53


CHEFÄRZTIN<br />

NUMMER EINS<br />

Eine medizinische Methode, die alles verändert, ein visionäres Arbeitsmodell<br />

– die ehemalige Chefärztin Prof. Dr. Christa Meyenberger hat<br />

das Kantonsspital St.Gallen in vielerlei Hinsicht geprägt.<br />

Prof. Dr. Christa Meyenberger deutet es als gutes<br />

Omen, dass der Einladung zum Bewerbungsgespräch<br />

am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) nicht nur<br />

eine Parkkarte, sondern sogar eine handgeschriebene<br />

Notiz des Spitaldirektors beiliegt. Hier scheint<br />

sich der Chef persönlich um die Mitarbeitenden<br />

zu kümmern.<br />

Das Bewerbungsgespräch mit Hans Leuenberger<br />

wird zu einem beidseitigen Vergnügen, und so<br />

wechselt Meyenberger 1996 als Leitende Ärztin<br />

ans <strong>KSSG</strong>. Vier Jahre später wird sie im Rahmen<br />

der Umstrukturierung des Departements Innere<br />

Medizin zur Chefärztin befördert – notabene als<br />

erste Frau in der Geschichte des Kantonsspitals.<br />

Die letzte Sprosse der Karriereleiter erklimmt sie<br />

wiederum vier Jahre später, als sie Mitglied der<br />

Geschäftsleitung wird.<br />

Niemals Zürich oder St.Gallen<br />

Dabei hat sich die Hausarzttochter aus Wil einst<br />

geschworen: «Nach St.Gallen oder – noch schlimmer<br />

– Zürich will ich nie!» Riesig stellte sie sich die<br />

dortigen Spitäler vor, anonym und kalt das Arbeitsklima.<br />

Doch dann kam alles anders: Nachdem sie<br />

von 1971 bis 1978 in Zürich studiert hatte, bewarb sie<br />

Bild: Archiv Robert Willi<br />

Gastroenterologie und Viszeralchirurgie<br />

Die Gastroenterologie ist ein Teilgebiet der Inneren Medizin<br />

und befasst sich mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts<br />

sowie den damit verbundenen Organen Leber, Gallenblase<br />

und Bauchspeicheldrüse.<br />

Die Viszeralchirurgie umfasst Operationen des Magen-Darm-<br />

Trakts und der umgebenden Organe.<br />

sich erfolgreich am drittgrössten Spital der Schweiz,<br />

am Universitätsspital Zürich – nicht zuletzt des hervorragenden<br />

Rufes der Inneren Medizin und der<br />

Forschung wegen. Doch das universitäre Umfeld<br />

war herausfordernd: Den Umgang empfand sie oft<br />

als rau, den Konkurrenzkampf als hart. Auch mit<br />

ihrer Habilitation über die Endosonographie, den<br />

endoskopischen Ultraschall, musste sich Meyenberger<br />

am Universitätsspital Zürich erst einmal<br />

durchsetzen: Ein Radiologe schimpfte, sie würde<br />

ihm durch die Nutzung bildgebender Verfahren<br />

seine Domäne streitig machen.<br />

Die entscheidende Technik<br />

Die Endosonographie ist eine der bahnbrechenden<br />

Innovationen in der Gastroenterologie, die<br />

Meyenberger am <strong>KSSG</strong> etabliert und weiterentwickelt:<br />

Ein Endoskop, also ein Beobachtungsschlauch<br />

mit Kamera, verschafft zusammen mit einem Ultraschallkopf<br />

Einblick in Körper und Organe. Das<br />

ist etwa bei einer schweren Bauchspeicheldrüsenentzündung<br />

nützlich: Mit durch den Mund eingeführten,<br />

endoskopischen Instrumenten und viel<br />

Fingerspitzengefühl wird der Eiterherd von innen<br />

aufgeschnitten, damit der Eiter durch einen zwischen<br />

Bauchhöhle und Magen platzierten Stent<br />

abfliessen kann.<br />

Die von Meyenberger vorangetriebene minimalinvasive<br />

Technik wird die Gastroenterologie und weitere<br />

medizinische Disziplinen grundlegend verändern<br />

und dazu beitragen, die Mortalität zu senken, Traumata<br />

zu minimieren sowie die Aufenthaltsdauer in<br />

Spitälern – und damit die Gesundheitskosten – zu<br />

reduzieren.<br />

i<br />

Arbeitszeiten wählen<br />

Meyenbergers Pioniergeist erschöpft<br />

sich aber nicht im Medizinischen;<br />

auch als Führungsperson<br />

geht sie neue Wege. Anfang der<br />

2000er-Jahre, als Teilzeitarbeit und<br />

Jobsharing in der Schweiz noch<br />

Fremdwörter sind, überlässt sie<br />

ihren Teammitgliedern die Wahl,<br />

welches Pensum sie arbeiten<br />

möchten. Sitzungen werden nie<br />

nach 18:00 Uhr terminiert. Damit<br />

wird Meyenberger zu einer Vorreiterin<br />

für familienfreundliche Arbeitsmodelle, die<br />

das <strong>KSSG</strong> bis heute als fortschrittliches Unternehmen<br />

auf dem Arbeitsmarkt auszeichnen.<br />

Sich selbst hingegen gönnt die Gastroenterologin<br />

kaum eine Verschnaufpause. Wenn sie den Heimweg<br />

antritt, sind die Gänge im <strong>KSSG</strong> meist leer. Stetig<br />

treibt sie Neues um. Anfang der 2000er-Jahre<br />

fährt sie mit dem Kollegen Prof. Dr. Jochen Lange<br />

nach München, um sich ein sogenanntes Tumorboard<br />

zeigen zu lassen. Wenig später lanciert das <strong>KSSG</strong><br />

mit ihrer Unterstützung sein erstes Tumorboard,<br />

an dem die Viszeralchirurgie und die Gastroenterologie<br />

(siehe Box) interdisziplinär nach der besten<br />

Behandlung von Krebserkrankungen im Magen-<br />

Darm-Trakt suchen. 2006 skizziert sie mit einem<br />

befreundeten Hausarzt ein Weiterbildungssystem<br />

für angehende Hausärztinnen und Hausärzte, ein<br />

schweizweites Pilotprojekt, das Direktor Leuenberger<br />

unbürokratisch unterstützt und etabliert.<br />

Meyenbergers Pioniergeist erschöpft<br />

sich nicht im Medizinischen;<br />

auch als Führungsperson geht sie<br />

neue Wege.<br />

Nach 20 Jahren am <strong>KSSG</strong> wird Christa Meyenberger<br />

2016 pensioniert. Seitdem steht sie dem <strong>KSSG</strong> als<br />

Konsiliarärztin zur Verfügung und gibt ihr Wissen<br />

als Senior Teacher an zukünftige Kadermitarbeitende<br />

weiter.<br />

54<br />

55


Laser gegen Tumor<br />

Prof. Dr. Oliver Bozinov behandelt<br />

am <strong>KSSG</strong> erstmals einen Hirntumor<br />

mit dem Laserkatheter – eine neue<br />

Methode, die europaweit nur wenige<br />

beherrschen. Nach fünfstündiger Vorbereitung<br />

des Präzisionseingriffs wird<br />

das Tumorgewebe über einen Zugang<br />

von drei Millimetern mit dem Laser auf<br />

bis zu 70 Grad Celsius erhitzt und zerstört.<br />

Der Eingriff ist ein Beispiel für die<br />

hochmoderne Spitzenmedizin, wie<br />

sie am <strong>KSSG</strong> in interdisziplinärer und<br />

interprofessioneller Zusammenarbeit<br />

praktiziert wird.<br />

56<br />

57


ZWISCHEN MENSCH<br />

UND MEDTECH<br />

Auch in der Pflege sind Digitalisierung und Hightech nicht wegzudenken.<br />

Im Mittelpunkt steht jedoch immer die Beziehung<br />

von Mensch zu Mensch.<br />

Ruth Koster ist schnell. Flugs zieht sie in Zimmer<br />

2 den Vorhang zurück, tritt zum Perfusor, checkt<br />

Dosierung und Laufrate und sagt zum Patienten:<br />

«Es geht aufwärts.» Dann aber drosselt sie das<br />

Tempo, nimmt sich Zeit, setzt sich auf einen Stuhl<br />

und zeigt fragend auf die Kinderzeichnung auf dem<br />

Nachttisch. Der Patient lächelt – und erzählt von<br />

seinen Enkeln in Neuseeland. Fünf Minuten, dann<br />

muss seine Zuhörerin ein Zimmer weiter. Aber die<br />

300 Sekunden Aufmerksamkeit sind für ihn heilsam<br />

– so wie das Medikament, das über den Perfusor und<br />

eine Infusion in seinen Körper gelangt.<br />

Sorge tragen<br />

Ruth Koster ist diplomierte Pflegefachfrau und<br />

arbeitet seit 15 Jahren auf derselben Bettenstation.<br />

Heute ist sie für sieben Patientinnen und Patienten<br />

verantwortlich. Diese sollen sich hier im 8. Stock<br />

von Haus 04 medizinisch bestmöglich betreut fühlen,<br />

menschlich wertgeschätzt und umsorgt. Ruth<br />

Koster und ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiten<br />

nach dem Konzept der zuwendenden empathischen<br />

Pflege, dem sogenannten Caring (englisch für «Fürsorge»).<br />

Dazu gehört das Dasein – vom Ansprechen<br />

bis Zuhören – und auch das Plaudern über Enkelkinder,<br />

Gott und die Welt.<br />

Apropos Gott: Es waren Ordensschwestern, die am<br />

Ursprung der auf Fürsorge basierenden Pflege am<br />

Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) standen. 1878 stellte<br />

das Spital die ersten vier Ingenbohler Schwestern<br />

ein – gegen Kost und Logis und 150 Franken Jahresgehalt.<br />

Der Rest war Gotteslohn. Das war in<br />

der Schweiz nichts Aussergewöhnliches: Ende des<br />

19. Jahrhunderts war die Pflege vielerorts in der<br />

Hand von Ordensschwestern.<br />

Am <strong>KSSG</strong> waren die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz<br />

106 Jahre Teil des Pflegepersonals. Es waren lebensfrohe Frauen,<br />

zuverlässig, diszipliniert und selbstbewusst. Sie pflegten nach einem<br />

christlichen Menschenbild, waren Tag und Nacht für die Patientinnen<br />

und Patienten da – und besassen doch nicht viel mehr als ihre beiden<br />

Trachten: eine für werktags und eine für sonntags.<br />

Doch mit der Loslösung von der Kirche und der Professionalisierung<br />

des Pflegeberufs wurden die Ordensschwestern immer weniger. Weltliche<br />

Pflegefachkräfte traten an ihre Stelle. 1984 verabschiedeten<br />

sich die letzten «Ingenbohlerinnen» aus dem <strong>KSSG</strong> – ihr Geist, ein<br />

auf Nächstenliebe beruhendes Pflegemodell, ist hingegen geblieben.<br />

Die grosse Kunst<br />

In Zimmer 6 bereitet Pflegefachfrau Ruth Koster das digitale Blutzuckermanagement<br />

vor. Die Applikation misst den Blutzucker und<br />

berechnet die nötige Insulindosierung, alles vollautomatisch, schnell<br />

und exakt. Auch der Perfusor beim Patienten in Zimmer 2 läuft immer<br />

noch mit höchster Präzision. Von so viel Hightech hätten die Ingenbohler<br />

Schwestern nur träumen können. Sie mussten die Laufrate,<br />

die Anzahl der Tropfen pro Minute, selbst ausrechnen und manuell<br />

einstellen.<br />

Die Technik ist ein Segen, gewiss. Und im besten Fall spart sie auch<br />

Zeit. Dennoch: Wenn sie nur der zunehmenden Effizienz dient, wo<br />

bleibt da noch Zeit für einen warmen Händedruck oder ein tröstendes<br />

Wort? Findet eine Pflegefachperson noch genug Zeit für das<br />

Caring, wenn Regulation, Technik und Spardruck immer mehr Platz<br />

einnehmen?<br />

Ein Lächeln, eine Berührung: Pflegefachfrau Ruth Koster arbeitet wie ihre<br />

Kolleginnen und Kollegen nach dem Konzept der zuwendenden empathischen<br />

Pflege, dem Caring (englisch für «Fürsorge»).<br />

58


«Die Kunst ist», sagt Barbara Giger-Hauser, Leiterin<br />

Departement Pflege, «achtsam und präsent zu sein.<br />

Das Caring hängt ab von der Dauer, aber eben auch<br />

von der Tiefe.» Gerade in turbulenten Zeiten sei<br />

eine zuwendende Pflege wichtig. Einerseits, weil sie<br />

gemäss Studien Einfluss auf die Genesung hat, zum<br />

Beispiel, indem sie bei Patientinnen und Patienten<br />

die Partizipation, Selbstpflegefähigkeit oder Therapiemotivation<br />

stärkt. Andererseits, weil das Caring<br />

laut Studien nicht nur Patientinnen und Patienten<br />

gesünder macht, sondern das Personal auch glücklicher.<br />

Je mehr Zeit eine Pflegefachperson für das<br />

Caring hat, desto zufriedener ist sie in ihrem Beruf.<br />

Routinetätigkeiten wie die Medikamentausgabe erledigt<br />

Ruth Koster im Eiltempo – bei gebotener Genauigkeit.<br />

Dennoch ist das Caring am <strong>KSSG</strong> heute kein individueller Glaubensakt<br />

mehr, sondern eine im Pflegeleitbild festgeschriebene Norm. Das<br />

aber schmälert seine Bedeutung nicht. Im Gegenteil: Caring wird wie<br />

andere professionelle pflegerische Kompetenzen gezielt gefördert<br />

und geschult – zum Beispiel durch Weiterbildungen und Workshops<br />

zu Themen wie Achtsamkeit, Aromapflege und Basale Stimulation.<br />

Balsam für den Schlaf<br />

Kurz vor 21:00 Uhr: Ruth Koster misst bei der Patientin in Zimmer 11<br />

Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Eine Routinetätigkeit,<br />

flink ausgeführt.<br />

Dann wird die Pflegefachfrau nochmals langsam. Sehr langsam. Sie<br />

dimmt das Licht und schlägt das Fussende der Bettdecke zurück. Sie<br />

tropft etwas Lavendelöl auf ihre Hand und reibt damit sanft die Füsse<br />

der Patientin ein. Zuwendung, Duft und Wärme – eine Wohltat für<br />

den Schlaf. Ruth Koster lächelt, als der Patientin die Augen zufallen.<br />

DER INNOVATIONSGEIST<br />

BLEIBT GEFORDERT<br />

Drei leitende Frauen aus dem Departement Pflege des<br />

Kantonsspitals St.Gallen über die Entwicklung und die<br />

Zukunft der Pflege am führenden Ostschweizer Spital.<br />

DENISE EIGENMANN<br />

Leiterin Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />

«Die Medizin macht seit einigen Jahren gewaltige Fortschritte. Und mit jedem Schritt vorwärts<br />

müssen wir uns fragen: Welche zusätzlichen Kompetenzen braucht das Personal dafür? Wir<br />

nehmen die Bedürfnisse wahr, beobachten Trends, analysieren den Markt und entwickeln<br />

passende Bildungsangebote – sowohl für die Mitarbeitenden des Kantonsspitals St.Gallen<br />

(<strong>KSSG</strong>) als auch für externes Fachpersonal. Das <strong>KSSG</strong> ist bekannt für seinen Pioniergeist,<br />

gerade in der Bildung. Unsere Expertise im Vermitteln von Wissen ist gross. Darum ist uns<br />

die Vernetzung mit Gesundheitsinstitutionen in der ganzen Schweiz ebenso wichtig wie die<br />

Mitarbeit in Gremien und an Vernehmlassungen. Wir haben Wichtiges zu sagen!»<br />

BARBARA GIGER-HAUSER<br />

Leiterin Departement Pflege<br />

«Seit 2021 – mit der Coronapandemie und dem Ja<br />

zur Pflegeinitiative – sind der Pflegeberuf und seine<br />

Rahmenbedingungen in den Fokus der öffentlichen<br />

Aufmerksamkeit gerückt. Wir wollen diesen Aufschwung<br />

nutzen, um unser Berufsbild weiter zu verfeinern<br />

und attraktiv zu gestalten. Der Pflegeberuf<br />

hat nichts mehr mit dem Bild von früher gemein,<br />

das geprägt war von Aufopferung und Demut. Heute<br />

ist die Pflege eine Wissenschaft und ein Beruf mit<br />

einem Bildungsweg auf Hochschulstufe. Dank<br />

der Akademisierung stehen diplomierten Pflegefachpersonen<br />

zig Aufstiegsmöglichkeiten offen,<br />

sei es auf einem Fachgebiet, in der Bildung oder<br />

im Management. Welche Chance eine Pflegefachperson<br />

auch nutzt: eine abwechslungsreiche, sinnstiftende,<br />

bereichernde und krisensichere Arbeit ist<br />

ihr gewiss – die beste auf der Welt.»<br />

BARBARA SCHOOP<br />

Leiterin Entwicklung & Qualitätsmanagement Pflege<br />

«Zum Selbstverständnis der früheren «Krankenschwestern» gehörte<br />

zusätzlich zur Pflegearbeit auch das ganze «Drumherum», der Zimmerservice<br />

genauso wie die Seelsorge, Reinigungsarbeiten und die Wartung<br />

der Geräte und des Mobiliars. Die heutige professionelle Pflege aber<br />

ist ein perfektes Zusammenspiel im ganzen Versorgungsnetz aus sehr<br />

gut ausgebildeten, hochkompetenten spezialisierten Fachkräften aus<br />

zig Disziplinen. Es gibt längst nicht mehr nur die Krankenschwester –<br />

die heute wohlgemerkt Pflegefachfrau heisst oder in der männlichen<br />

Variante Pflegefachmann –, sondern über 20 verschiedene Pflegeberufe,<br />

von der Expertin Anästhesiepflege über die Stroke Nurse, Palliativpflege<br />

bis zur Wundexpertin. Die Spezialisierung in der Pflege ist mit jener in<br />

der Medizin einhergegangen und noch längst nicht abgeschlossen.<br />

Unser Innovationsgeist bleibt gefordert.»<br />

60<br />

61


ICH BIN DER MANN<br />

FÜR ALLE FÄLLE<br />

«Es macht mich heute noch verrückt, dass mein Chef bei unserem<br />

letzten Jassturnier besser war als ich. Schliesslich habe ich ihm das<br />

Jassen erst beigebracht. Jassen, Brett- und Computerspiele sind meine<br />

grosse Leidenschaft. Das liegt in der Familie. Auch im HELP-Team<br />

klopfen wir über Mittag oft einen Jass.<br />

Meistens gewinne ich. Nur beim Jassturnier eben nicht, weil ich mal<br />

wieder einen Migräneanfall hatte. Mein Körper und mein Kopf wollen<br />

halt nicht immer so, wie ich es will. Das ist schon seit meiner Geburt<br />

so. Deshalb habe ich nur sechs Jahre die Schule besucht und danach<br />

eine Anlehre als Landschaftsgärtner gemacht.<br />

i<br />

Seit 15 Jahren arbeite ich am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>). Manche<br />

sagen, ich sei ein Mädchen für alles. Aber das höre ich nicht gern.<br />

Mädchen! Wenn schon: der Mann für alle Fälle! Denn ich erledige<br />

tatsächlich alles Mögliche. Meistens beginnt mein Arbeitstag um<br />

7:00 Uhr mit dem Morgenappell in der Gärtnerei. Dann werden die<br />

Arbeiten verteilt: hier eine Hecke scheren, dort etwas einpflanzen<br />

oder auf dem Campus Unkraut jäten. Sogar das tägliche Fischefüttern<br />

und die Scheibenreinigung der beiden Aquarien auf der Palliativstation<br />

in Haus 02 liegen in unserer Verantwortung. Und ausserdem<br />

sind wir natürlich ständig mit unseren Putzwagen auf dem Campus<br />

unterwegs, um diesen sauber zu halten.<br />

Was schön ist: Ich bin viel an der frischen Luft. Schon als Kind war<br />

ich am liebsten im Wald, um den Vögeln, den Blättern und Insekten<br />

zu lauschen.<br />

Da ich ständig unterwegs bin im <strong>KSSG</strong>, kenne ich fast jeden und<br />

jeder kennt mich. «Hallo» hier, «Sali» dort. Ein kleiner Schwatz ist<br />

immer drin. Dabei bekomme ich viel Lob für meine Arbeit. Neulich<br />

war ich wieder am «Fötzeln», da kommt ein Besucher auf mich zu<br />

und streckt mir einen 10-Franken-Schein entgegen: Weil wir hier<br />

immer so akkurat für Sauberkeit sorgen würden. Das Geld liegt jetzt<br />

in unserer Kaffeekasse.»<br />

Florian Rohner (34) arbeitet seit 2007 in einem geschützten<br />

Arbeitsumfeld im <strong>KSSG</strong> und seit 2012 in der Gruppe<br />

HELP, in der zehn Mitarbeitende mit körperlicher oder<br />

kognitiver Beeinträchtigung ins Arbeitsleben integriert<br />

werden. Die Arbeit von Florian Rohner ist jeden Tag anders,<br />

so wie die Sonnenuntergänge, die er in seiner Freizeit so<br />

gerne fotografiert.<br />

62<br />

63


«WAS MACHT EIGENTLICH EIN CEO?»<br />

(MIA LEIBUNDGUT, 17)<br />

«KANNST DU DIR VORSTELLEN, EINMAL<br />

ALS ERSTE FRAU CEO DES KANTONSSPITALS<br />

ST.GALLEN ZU WERDEN?»<br />

(STEFAN LICHTENSTEIGER, 55)<br />

Mia Leibundgut ist 17 Jahre jung und absolviert am Kantons spital<br />

St.Gallen ihre Ausbildung zur Kauffrau. Stefan Lichtensteiger ist 55 Jahre<br />

alt und seit Mai 2022 CEO des Kantonsspitals St.Gallen. Ein Gespräch<br />

über Geld und Gesundheit, Frauen in Chefsesseln und die Zukunft des<br />

Kantonsspitals.<br />

Mia Leibundgut (M. L.): Grüezi, Herr Lichtensteiger!<br />

Stefan Lichtensteiger (S. L.): Hallo, Frau Leibundgut.<br />

Darf ich Ihnen gleich das Du anbieten? Ich<br />

bin der Stefan.<br />

M. L.: Gerne, Mia!<br />

S. L.: Wie geht es dir? Hattest du einen guten Arbeitstag?<br />

M. L.: Ja, die Arbeit macht mir viel Spass. Ich war<br />

allerdings etwas nervös. Ich habe noch nie mit<br />

einem CEO gesprochen. Aber meine Chefin hat<br />

behauptet, der Stefan sei ganz ein Netter.<br />

S. L. (lacht): Das ist schön zu hören.<br />

M. L.: Es ist ja auch interessant, den Chef alles fragen<br />

zu können, was einem in den Sinn kommt. Zum<br />

Beispiel: Was macht ein CEO den ganzen Tag?<br />

S. L.: Das klingt jetzt vielleicht langweilig, aber:<br />

Ich sitze viel, und zwar in Sitzungen. Von Montagfrüh<br />

bis Freitagmittag ist mein Terminkalender<br />

voll mit Sitzungen. Und ganz ehrlich: Das ist überhaupt<br />

nicht langweilig. Vielmehr geht es meist um<br />

Weichenstellungen, um Projekte, um Entscheidungen,<br />

welche in ihrer Summe die Zukunft unseres<br />

Zentrumsspitals prägen. Ausserdem bin ich ein<br />

Teamplayer. Ich tausche mich aus, höre zu und<br />

fälle wichtige Entscheidungen nie alleine, sondern<br />

primär zusammen mit meinen Kolleginnen und<br />

Kollegen der Geschäftsleitung.<br />

M. L.: Vor fünf Minuten hattest du ja eine Sitzung.<br />

Worum ging es da?<br />

S. L.: Da hatte ich Besuch aus Rorschach. Wir diskutierten<br />

Möglichkeiten, um die finanzielle Situation<br />

der dortigen Hämodialyse zu verbessern. Das<br />

ist anspruchsvoll, weil ambulante Behandlungen<br />

aufgrund des veralteten Tarifsystems nicht kostendeckend<br />

entschädigt werden. Das Gesundheitswesen<br />

ist stark reguliert und diese Regulierungen und<br />

Tarife hinken vielen Entwicklungen hinterher. Es<br />

gibt viel zu tun.<br />

«Es gibt viel zu tun.» (Stefan Lichtensteiger)<br />

M. L.: Immer geht es nur ums Geld, wenn ich in<br />

der Zeitung etwas über Spitäler lese. Das finde ich<br />

schade.<br />

S. L.: Das kann ich verstehen. Aber die Gesundheitskosten<br />

steigen stetig, das spiegelt sich in immer<br />

höheren Krankenkassenprämien und das spüren<br />

die Leute in ihrem Portemonnaie. Und auch der<br />

Kanton St.Gallen bemerkt das, weil er der Eigentümer<br />

des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) ist. Er will<br />

Lösungen von uns sehen, wie wir in Zukunft wieder<br />

kostendeckend arbeiten können. Und ich bin das<br />

Bindeglied zwischen Verwaltungsrat, der politisch<br />

gewählt ist, und unserer Geschäftsleitung, welche<br />

die im Verwaltungsrat beschlossenen Strategien<br />

umsetzen muss.<br />

M. L.: Aber gerät da nicht unsere eigentliche Aufgabe<br />

aus dem Fokus? Wir müssen doch vor allem<br />

für eine bestmögliche medizinische Versorgung<br />

unserer Patientinnen und Patienten sorgen …<br />

S. L.: Diesen Fokus dürfen wir nie verlieren. Wir<br />

tragen eine grosse Verantwortung gegenüber den<br />

Steuerzahlerinnen und -zahlern, aber vor allem<br />

gegenüber unseren Patientinnen und Patienten.<br />

M. L.: Warum steigen die Kosten denn die ganze Zeit?<br />

S. L.: Aus meiner und aus volkswirtschaftlicher<br />

Sicht steigen die Gesundheitskosten nicht, weil die


Ich will später nicht auf Karriere<br />

verzichten, nur weil ich vielleicht<br />

Kinder habe. (Mia Leibundgut)<br />

i<br />

Preise steigen, sondern die Menge der Leistungen.<br />

Man kann immer mehr behandeln und die Gesellschaft<br />

bezieht daher auch immer mehr Gesundheitsleistungen.<br />

Weil wir uns eine immer bessere,<br />

individuellere und teurere Gesundheitsversorgung<br />

leisten, steigen auch die Kosten. Wir können heute<br />

Krebserkrankungen behandeln, die noch vor wenigen<br />

Jahren rasch zum Tod führen konnten. Heute<br />

können wir Patientinnen und Patienten noch viele<br />

Jahre Leben schenken. Ist das nicht ein echter<br />

Gegenwert? Zudem werden wir immer älter, und<br />

da die Gesundheitskosten im Alter steigen, schlägt<br />

sich dies ebenfalls auf die Kosten nieder.<br />

M. L.: Das erinnert mich an meine Grossmutter.<br />

Die hatte auch Krebs und konnte noch über Jahre<br />

gut weiterleben dank medizinischer Unterstützung<br />

durch das <strong>KSSG</strong>. Das war ein Geschenk – für sie<br />

und auch für mich.<br />

S. L.: Wärst du denn bereit, immer mehr für die<br />

Gesundheit zu bezahlen?<br />

M. L.: Na ja, noch bezahlen meine Eltern meine<br />

Prämien. Aber ja, Gesundheit ist mir sehr wichtig,<br />

wichtiger als ein teures Auto zum Beispiel. Und ich<br />

sehe ja täglich, wie aufwändig eine medizinische<br />

Behandlung sein kann, aber auch, was sie leistet. Es<br />

ist beeindruckend, wie schnell manche Menschen<br />

genesen.<br />

S. L.: Das ist ein interessanter Punkt: Es gibt viele<br />

Eingriffe, die haben früher eine tage- oder wochenlange<br />

stationäre Versorgung nach sich gezogen.<br />

Heute ist die stationäre Aufenthaltsdauer viel kürzer.<br />

Und das ist gut für die Patientinnen und Patienten,<br />

aber auch für die Wirtschaft. Denn diese Menschen<br />

können viel früher wieder arbeiten. Wenn<br />

man von Kostenwahrheit spricht, gehören auch<br />

solche Effekte dazu.<br />

M. L.: Das klingt nach einem aufreibenden Job, den<br />

du hast. Bleibt da noch Zeit für Familie und Freizeit?<br />

S. L.: Die Zeit ist knapp. Zumal ich abends oft noch<br />

repräsentative Aufgaben habe. Aber wenn abends<br />

keine Termine anstehen, versuche ich, zu vernünftigen<br />

Zeiten zu Hause zu sein, damit die Familie<br />

noch etwas von mir hat. Dank der Digitalisierung<br />

kann ich bei Bedarf auch noch von zu Hause aus<br />

arbeiten, wenn die Kinder im Bett sind. Und du,<br />

wie erholst du dich?<br />

M. L.: Ich spiele Unihockey beim UHC Appenzell.<br />

Wenn ich Unihockey spiele, vergesse ich alles<br />

andere.<br />

S. L.: Du machst ja neben deiner Ausbildung die<br />

Berufsmatura. Kannst du dir vorstellen, erste CEO<br />

des <strong>KSSG</strong> zu werden?<br />

M. L.: Wenn ich dich so höre, eher nicht. Ich will<br />

nicht nur für den Job leben. Und mal ehrlich: Wie<br />

viele Frauen als CEO von Spitälern kennst du?<br />

S. L.: Ich kenne nicht so viele.<br />

M. L.: Und wie viele Frauen sitzen in der Geschäftsleitung<br />

des <strong>KSSG</strong>?<br />

S. L.: Zwei. Gegenüber neun Männern. Aber das<br />

wird sich in Zukunft hoffentlich ändern.<br />

Während einer Schnupperlehre merkte Mia Leibundgut (17), dass sie kein Blut sehen kann.<br />

Weil sie trotzdem im Gesundheitswesen arbeiten wollte, begann sie 2021 eine Kaufmännische<br />

Lehre im <strong>KSSG</strong>. Daneben besucht sie die Berufsmaturitätsschule. Eine kaufmännische Lehre<br />

ist auch Stefan Lichtensteigers (55) Erstausbildung. Es folgten ein Studium als Betriebsökonom<br />

an der Fachhochschule für Wirtschaft in St.Gallen (vormals HWV) und ein Executive MBA<br />

in General Management an der Universität St.Gallen. 2010 bis 2022 war er Spitaldirektor in<br />

der Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland, seit Mai 2022 ist der Vater von vier<br />

Kindern CEO des <strong>KSSG</strong>.<br />

M. L.: Ich finde, es braucht neue Arbeitsmodelle,<br />

die Karrieren ermöglichen, ohne auf Familie und<br />

Freizeit zu verzichten.<br />

S. L.: Als ich 1994 hier am <strong>KSSG</strong> meine erste Anstellung<br />

hatte, da war es undenkbar, in leitender Position<br />

auch nur 90 Prozent zu arbeiten. Doch beim<br />

heutigen Fachkräftemangel kann man sich das nicht<br />

mehr leisten – weder gegenüber Frauen noch gegenüber<br />

Männern. Heute erwarten auch Mitarbeitende<br />

in Kaderpositionen Teilzeitstellen oder Jobsharing.<br />

Und wenn man ihnen das nicht gewährt, suchen<br />

sie sich eine andere Stelle. Deshalb erarbeiten wir<br />

derzeit eine Personalpolitik für den zukünftigen<br />

Spitalverbund St.Gallen. Darin spielen unter anderem<br />

flexible Arbeitszeitmodelle eine entscheidende<br />

Rolle.<br />

M. L.: Das klingt gut. Denn ich will nicht auf eine<br />

Karriere verzichten, nur weil ich später vielleicht<br />

Kinder habe.<br />

S. L.: Es gibt sicher schon heute einige Möglichkeiten.<br />

Aber klar ist auch, dass eine noch grössere<br />

Bereitschaft aller Beteiligten für Veränderungen<br />

vonnöten ist.<br />

M. L.: Und was wünschst du dir für die Zukunft<br />

des <strong>KSSG</strong>?<br />

S. L.: Ich wünsche mir, dass das <strong>KSSG</strong> weiterhin<br />

in der Lage ist, allen Patientinnen und Patienten<br />

eine medizinische Versorgung und pflegerische<br />

Betreuung auf höchstem Niveau anzubieten. Dafür<br />

müssen wir unsere Fachkräfte und Spezialistinnen<br />

und Spezialisten halten und – trotz Fachkräftemangel<br />

– neue rekrutieren. Neben der fachlichen<br />

Qualifikation verfügen diese Mitarbeitenden auch<br />

über die notwendige Sozialkompetenz, um in der<br />

fachkundigen und konstruktiven Zusammenarbeit<br />

mit anderen Expertinnen und Experten sicherzustellen,<br />

dass unsere Patientinnen und Patienten<br />

trotz zunehmender Spezialisierung ganzheitlich<br />

behandelt werden. Deshalb fördern wir die Bildung<br />

von Zentren, wo unterschiedliche Disziplinen und<br />

Berufsgruppen ihre Expertisen einbringen, um sie<br />

zum Wohle jeder einzelnen Patientin und jedes einzelnen<br />

Patienten zu bündeln. Was wünschst du dir?<br />

M. L.: Ich würde mir wünschen, dass die psychischen<br />

und seelischen Aspekte von Krankheiten<br />

stärker berücksichtigt werden. Auch das gehört<br />

für mich dazu, wenn man Patientinnen und Patienten<br />

ganzheitlich betreut. Deshalb finde ich es toll,<br />

dass beispielsweise im Pflegekonzept des <strong>KSSG</strong> das<br />

Caring, die empathische Betreuung von Patientinnen<br />

und Patienten, festgeschrieben ist.<br />

66<br />

67


UNSERE ZUKUNFT<br />

Wie sieht das Kantonsspital St.Gallen im Jahr<br />

2033 aus? Wie werden sich die Berufsbilder<br />

weiterentwickeln? Sieben junge Mitarbeitende<br />

blicken in die Zukunft.<br />

MICHELA CUTAZZO<br />

Fachfrau Hauswirtschaft<br />

Stv. Gruppenleiterin Reinigung 02<br />

«Im August 2021 begann mein Abenteuer hier am<br />

<strong>KSSG</strong> als Stv. Gruppenleiterin Reinigung 02. Auf<br />

meiner bisherigen Reise durfte ich einige tolle<br />

Momente erleben, wertvolle Erfahrungen sammeln<br />

und viel Dankbarkeit von den Patientinnen und<br />

Patienten spüren. Als Reinigungskraft wird man<br />

oftmals unterschätzt, weshalb ich mir wünsche,<br />

dass wir in den kommenden Jahren mehr Wertschätzung<br />

erfahren. In meinem Beruf gibt es wie<br />

in allen Branchen immer wieder technologische<br />

Fortschritte: Neue Reinigungsmaschinen, einfachere<br />

Bedienung und somit effizientere Reinigung<br />

– betreffen wird uns das bestimmt auch. Ich<br />

denke jedoch, dass die Reinigungstätigkeit auch<br />

in Zukunft ein Handwerk für sich bleibt.»<br />

JAN SCHERRER<br />

Fachspezialist Hardware Support Informatik<br />

«Ich gehe davon aus, dass in zehn Jahren alle<br />

Papierdokumente digitalisiert wurden und am Kantonsspital<br />

St.Gallen vollständig papierlos gearbeitet<br />

wird. Ich wünsche mir für das Jahr 2033, dass<br />

gewisse Vorgänge wie zum Beispiel die Patiententransporte,<br />

Essenstransporte und vieles weitere<br />

durch Roboter automatisiert ist. Mein Wunsch ist<br />

es, dass die älteren Gebäude renoviert oder durch<br />

neue ersetzt werden sowie mehr Grünflächen mit<br />

Sitzmöglichkeiten geschaffen werden. Somit wäre<br />

der ganze Campus modernisiert und noch attraktiver<br />

für das Personal sowie die Patientinnen und<br />

Patienten und die Besuchenden.»<br />

DENISE WOLF<br />

Leiterin Case Management ZPM Neurologie<br />

«Mein Job am <strong>KSSG</strong> im Jahr 2033 sieht so aus, dass die Umsetzung von<br />

neuen Vorgehen bzw. Projekten in den Kliniken schneller und unkomplizierter<br />

realisierbar ist. Durch den Einsatz der neusten Technologie,<br />

welche direkt zur Verfügung steht, kann ein nahtloser Übergang ohne<br />

Zwischenlösungen stattfinden. Ziel soll sein, dass die Menschen (weiterhin)<br />

gerne am <strong>KSSG</strong> arbeiten und die Arbeit im Sozial- und Gesundheitsbereich<br />

in jeglicher Form mehr Wertschätzung erfährt. Mit dem<br />

Ausbau des Areals und den damit entstandenen Grünflächen und<br />

Sitzmöglichkeiten im Freien, ist ein erster Grundstein gelegt, um das<br />

Wohlbefinden der Mitarbeitenden sowie Patientinnen und Patienten<br />

noch zu steigern.»<br />

ANNA LUBINA<br />

Gruppen-Controllerin, Departement Finanzen<br />

«Ich wünsche mir für das Kantonsspital St.Gallen,<br />

für die Region und für die Mitarbeitenden ein weiterhin<br />

attraktives und auf universitärem Niveau<br />

etabliertes Spital. Die Mitarbeitenden der vier Spitalverbunde<br />

des Kantons St.Gallen sollen dafür an<br />

einem Strang ziehen und zu einer grossen Einheit<br />

zusammenwachsen. Die Region soll von einem<br />

funktionierenden und stabilen Gesundheitswesen<br />

profitieren können.»<br />

DANIEL BJOLL ZELL<br />

Assistenzarzt Neurologie<br />

«Der Anspruch auf beste medizinische Versorgung<br />

mit einer familiären Atmosphäre und guter interdisziplinärer<br />

Zusammenarbeit ist ein Grundwert,<br />

der uns am <strong>KSSG</strong> auszeichnet. Ich hoffe, dass wir<br />

in Zukunft die notwendigen Schritte gehen, um<br />

dieses hohe Niveau zu halten. Angefangen mit einer<br />

erfolgreichen Digitalisierung und einem benutzerfreundlichen<br />

Krankenhausinformationssystem, Verbesserungen<br />

in der Vereinbarkeit von Beruf und<br />

Familie sowie einer bewussten, gegenseitigen<br />

Wertschätzung über alle Berufsgruppen hinweg.<br />

Und bei alldem darf der leckere Kaffee im «al terzo»<br />

natürlich nicht fehlen.»<br />

CARMEN CORDIN<br />

In Ausbildung zur Kindheitspädagogin HF<br />

Kita Spieltrückli<br />

«Im Jahr 2033 sehe ich meinen Beruf «Kindheitspädagogik HF» in der<br />

Kita stärker vertreten. Dabei wollen wir den Eltern einerseits die Vereinbarkeit<br />

von Beruf und Familie ermöglichen und andererseits mit<br />

unserem vertieften Wissen im Bereich Entwicklungs- und Bildungsprozesse<br />

sowie pädagogische Beziehungsgestaltung jedes Kind in<br />

seiner Individualität und den eigenen Ressourcen abholen. Zudem<br />

möchten wir die individuelle Förderung mit altersgerechten und vielfältigen<br />

didaktischen wie auch methodischen Angeboten gestalten.»<br />

MILENA HENRICH<br />

Stv. Stationsleiterin Nephrologie und<br />

Transplantationsmedizin<br />

«Im Jahr 2033 werden wir auf ein sehr modernes<br />

<strong>KSSG</strong> treffen. Durch diverse Optimierungen, wie<br />

die Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation<br />

im stationären Setting, doch vor<br />

allem durch die Praxisentwicklung im Rahmen der<br />

Akademisierung der Pflege werden wir eine flachere<br />

Hierarchie realisieren. Somit ermöglichen wir interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit, welche motiviert,<br />

Hand in Hand aktuelle sowie zukünftige Herausforderungen<br />

zu meistern.»<br />

68<br />

69


Impressum<br />

Herausgeber:<br />

Kantonsspital St.Gallen<br />

Unternehmenskommunikation<br />

Rorschacher Strasse 95<br />

CH-9007 St.Gallen<br />

Tel. +41 71 494 11 11<br />

www.kssg.ch<br />

Historische Recherche und Redaktion:<br />

Widmer Kohler AG<br />

Design:<br />

Kantonsspital St.Gallen<br />

Unternehmenskommunikation<br />

Fotos:<br />

Bodo Rüedi , Christoph Kohler,<br />

Bildarchiv Kantonsspital St.Gallen<br />

Karikatur:<br />

Dr. Markus Oberhauser<br />

Druck:<br />

Schmid-Fehr AG, Goldach<br />

Veröffentlicht im Januar 2023<br />

Drucksache<br />

myclimate.org/05-22-134018<br />

Wie wird das Leistungsangebot des Kantonsspitals<br />

St.Gallen wohl in weiteren 150 Jahren aussehen?<br />

70<br />

71


kompetent<br />

umfassend<br />

nah<br />

Wir sind immer für Sie da –<br />

jeden Tag, rund um die Uhr.<br />

www.kssg.ch/150jahre<br />

72

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