KSSG_Magazin_150Jahre
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HAPPY<br />
BIRTHDAY<br />
1
Liebe Leserinnen und Leser<br />
INHALT<br />
4 Ein Chirurg von Weltruf<br />
6 Unglaubliche Geschichten<br />
8 Die Feder so scharf wie ein Skalpell –<br />
Dr. Jakob Laurenz Sonderegger<br />
10 Die Champions League der<br />
biomedizinischen Forschung<br />
12 Rocket Science<br />
14 Gebaute Geschichte<br />
16 Jede Geburt ist ein Wunder<br />
38 Herzens angelegenheit<br />
42 Mr. Kantonsspital –<br />
Hans Leuenberger<br />
44 So war es damals, so ist es heute<br />
46 Wir sind Gastropioniere –<br />
Zeitzeuge Sandro Russi<br />
48 Ein Blick hinter die Kulissen<br />
des Kantonsspitals St.Gallen<br />
54 Chefärztin Nummer eins –<br />
Prof. Dr. Christa Meyenberger<br />
12<br />
32<br />
38<br />
150 Jahre Kantonsspital St.Gallen –<br />
eine Zahl, die für sich selbst spricht! Ein<br />
guter Grund, sich Zeit zu nehmen, um<br />
die Erfolgsgeschichte unseres Spitals<br />
Revue passieren zu lassen und einen<br />
Blick in die Zukunft zu wagen.<br />
Schon seit seiner Gründung am 1. Mai<br />
1873 wird im Kantonsspital St.Gallen<br />
fortschrittlich gearbeitet. Durch den Mut<br />
zur Innovation und den tatkräftigen Einsatz<br />
unserer Mitarbeitenden konnte sich<br />
das Kantonsspital St.Gallen, das einst<br />
aus lediglich vier Bereichen bestand, in<br />
den letzten Jahrzehnten zum grössten und bedeutendsten Spital der Ostschweiz<br />
entwickeln und eine medizinische Versorgung auf universitärem Niveau erreichen.<br />
Heute zählt es mehr als 50 Kliniken und Bereiche mit über 6ʼ000 Mitarbeitenden,<br />
versorgt jährlich 33ʼ379 stationäre Patientinnen und Patienten und verzeichnet<br />
nahezu 520ʼ000 ambulante Besuche – eine Entwicklung, die sich sehen lassen<br />
kann und weiterhin vorangetrieben und optimiert wird.<br />
20 Für den Durchblick<br />
22 Ich spürte: Ich kann das –<br />
Zeitzeugin Chantal Osterwalder<br />
24 Das gebündelte Wissen<br />
28 Das Kantonsspital St.Gallen −<br />
ein starker Partner<br />
30 Gratulationen aus der St.Galler<br />
Gesundheitsbranche<br />
32 Zeitraffer – 150 Jahre im<br />
Schnelldurchlauf<br />
56 Laser gegen Tumor<br />
58 Zwischen Mensch und Medtech<br />
61 Der Innovationsgeist bleibt gefordert<br />
62 Der Mann für alle Fälle –<br />
Zeitzeuge Florian Rohner<br />
64 Im Gespräch: Lernende und<br />
CEO über die Zukunft<br />
68 Unsere Zukunft: Wünsche und<br />
Visionen junger Mitarbeitenden<br />
70 Karrikatur – das Kantonsspital St.Gallen<br />
in 150 Jahren<br />
16<br />
24<br />
58<br />
64<br />
150 Jahre Kantons spital St.Gallen – wir wollen dieses Jubiläum auch nutzen, um<br />
Danke zu sagen! Wir bedanken uns für den täglichen Einsatz unserer Mitarbeitenden,<br />
für die Treue und das langjährige Vertrauen in uns und unsere Leistungen<br />
seitens Partnerinnen und Partner sowie Patientinnen und Patienten.<br />
Rückblickend auf die innovative Entwicklung und den Erfolg der letzten 150 Jahre<br />
sind wir uns sicher, dass die Geschichte des Kantonsspitals St.Gallen noch lange<br />
weiter geschrieben wird. Wie es hier wohl in weiteren 150 Jahren aussehen wird?<br />
Eines steht fest: Unabhängig von den zukünftigen Entwicklungen im Gesundheitswesen<br />
sind und bleiben es unsere Patientinnen und Patienten, für die wir täglich<br />
unser Bestes geben. Ganz nach dem Motto: «Wir sind immer für Sie da – jeden<br />
Tag, rund um die Uhr.»<br />
Tauchen Sie ein in die Geschichte des Kantonsspitals St.Gallen und geniessen Sie<br />
in diesem <strong>Magazin</strong> einen Einblick in die vergangenen 150 Jahre unseres Unternehmens.<br />
Herzliche Grüsse<br />
2<br />
3
Ein Chirurg von Weltruf<br />
Die Klinik für Orthopädische Chirurgie im Kantonsspital<br />
St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) geniesst weit über die Landesgrenzen<br />
hinaus einen guten Ruf. Das liegt in erster Linie an ihrem<br />
Chefarzt, dem Orthopäden Prof. Dr. Maurice E. Müller. Er gilt<br />
als Pionier der Osteosynthese, also der operativen Knochenbruchbehandlung<br />
mit Implantaten. Am <strong>KSSG</strong> setzt er erstmals<br />
1961 einem Patienten eine Hüftgelenkstotalprothese<br />
ein – sechs Jahre, bevor es ihm Spitäler im restlichen Europa<br />
gleichtun. Hunderte Fachleute aus aller Welt pilgern jährlich<br />
nach St.Gallen, um sich von Prof. Dr. Müllers Methoden<br />
inspirieren zu lassen.<br />
4
1849 1873<br />
Gewappnet für den Notfall<br />
Jakob Laurenz Sonderegger,<br />
der spätere Gründer des<br />
Kantonsspitals, ist vor seinem medizinischen Staatsexamen<br />
im Jahr 1849 so nervös, dass er schon mal den Reisepass<br />
einsteckt, damit er durchbrennen kann, falls er durchfällt.<br />
So weit kommt es nicht: Sonderegger besteht mit Bestnoten.<br />
In 150 Jahren Geschichte kann einiges geschehen.<br />
Diese Beispiele stehen für manch spannende Episode.<br />
Freund von Henry Dunant<br />
Der erste Assistent am<br />
Kantonsspital heisst<br />
Hermann Altherr (1848 – 1927).<br />
Später wird er Nationalrat und Spitalarzt in Heiden.<br />
Hier nimmt er Henry Dunant, den Gründer<br />
der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung,<br />
als Pensionär auf. Dunant ist<br />
aus Stuttgart ins Appenzellerland gereist, um mit<br />
frischer Luft und Ruhe seine Hautekzeme und<br />
Bauchbeschwerden zu lindern.<br />
UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN<br />
Berlin<br />
1873<br />
1974<br />
Modeschau im Hörsaal<br />
Sechs freiwillige Pflegerinnen<br />
führen 1974 verschiedene Optionen<br />
neuer Dienstkleidung für die<br />
Pflegekräfte vor, die Mitarbeitenden<br />
im Publikum dürfen abstimmen.<br />
103 von 119 Stimmen sprechen sich<br />
für die Farbe Weiss aus, 93 dafür, dass<br />
der Name auf die Dienstkleidung<br />
gestickt wird.<br />
Chaos beim Bau<br />
Das Kantonsspital St.Gallen hätte den Betrieb bereits<br />
1872 aufnehmen sollen statt erst am 1. Mai 1873. Die Bauarbeiten<br />
verzögern sich, weil Backsteinmangel herrscht<br />
und das in Saarbrücken bestellte Glas wegen des Deutsch-<br />
Französischen Kriegs nicht rechtzeitig geliefert wird. Und<br />
dann wird auch noch gepfuscht, sodass etwa die dampfbetriebene<br />
Zentralheizung – eine der ersten in der Schweiz<br />
– anfänglich nicht richtig funktioniert.<br />
1890<br />
Der Forschung verschrieben<br />
Der erste Pathologe am Kantonsspital,<br />
Dr. Arthur Hanau, arbeitet<br />
1890 unentgeltlich – auf eigenen<br />
Wunsch. Er will bei seiner Forschungsarbeit<br />
am <strong>KSSG</strong><br />
möglichst unabhängig<br />
sein.<br />
1912<br />
4 dl 5 dl<br />
Darf’s noch ein Gläschen<br />
Wein sein?<br />
Gemäss dem Speiseregulativ von<br />
1912 bekommt das Wart- und Dienstpersonal<br />
damals zur Arbeit täglich<br />
Wein oder Most vorgesetzt: vier Deziliter<br />
für Frauen, fünf für Männer. Wer<br />
weder Wein noch Most mag, darf auf<br />
eine Flasche Bier ausweichen.<br />
St.Gallen<br />
2018<br />
Ironwoman<br />
Etwas mehr als 13 Stunden benötigt<br />
Prof. Dr. Barbara Tettenborn,<br />
Chefärztin der Klinik für Neurologie<br />
– nicht für eine Operation, sondern für<br />
die Königsdisziplin des Triathlons, den<br />
Ironman auf Hawaii 2018: 3,86 Kilometer<br />
Schwimmen, 180 Kilometer Velofahren,<br />
42,195 Kilometer Laufen. Mit 13 Stunden,<br />
16 Minuten und 30 Sekunden erreicht die<br />
60-Jährige den neunten Rang in ihrer<br />
Alterskategorie.<br />
2021<br />
Unter Strom<br />
Bis zur Aufrichte des neuen Hauses 07A<br />
im Jahr 2021 werden 620 Kilometer<br />
Stromkabel verlegt. Das entspricht der<br />
Luftlinie St.Gallen – Berlin.<br />
3.86 km<br />
180 km<br />
42.195 km<br />
1917 Schwestern wecken<br />
Bis 1917 fehlte eine Nachtwache im <strong>KSSG</strong>. Brauchten Patientinnen<br />
oder Patienten in der Nacht Hilfe, waren sie auf die Unterstützung<br />
gehfähiger Zimmergenossinnen und -genossen angewiesen, die den<br />
Gang zum Schwesternzimmer auf sich nahmen und diese aufwecken<br />
mussten.<br />
1996<br />
Olympiagold<br />
Der ehemalige <strong>KSSG</strong>-Mitarbeiter Markus Gier und<br />
sein Bruder Michael rudern 1996 in Atlanta zu Olympiagold<br />
im Doppelzweier. Zurück in der Heimat<br />
werden sie bei der Schweizer Sportlerehrung zum<br />
«Team des Jahres» gekürt.<br />
6<br />
7
DIE FEDER SO SCHARF<br />
WIE EIN SKALPELL<br />
Dr. Jakob Laurenz Sonderegger (1825 – 1896) gilt als Gründervater<br />
des Kantonsspitals St.Gallen. Mit Herz, Verstand und spitzer Feder<br />
brachte er die Politik auf seine Seite.<br />
Arroganz, Lügen und Kantönligeist – Dr. Jakob<br />
Laurenz Sonderegger schwingt den rhetorischen<br />
Zweihänder, als er 1865 die Streitschrift «Spitalfrage<br />
im Kanton St.Gallen» zu Händen der Regierung und<br />
des Grossen Rates verfasst:<br />
«Wir dürfen nicht vornehm an dem Obdachlosen,<br />
an dem erkrankten Dienstboten, Handwerksgehilfen<br />
und Tagelöhner, an dem Verunglückten und<br />
dem armen Kranken vorübergehen und achselzuckend<br />
sagen: Ihr habt es gut genug. Doch wäret ihr<br />
in Zürich oder im Bündnerland liegen geblieben, so<br />
ginge es euch und uns besser. Wir haben eben kein<br />
Bedürfnis nach einem Krankenhause!»<br />
Seit Jahren fordern der Mediziner Sonderegger und<br />
einige Arztkollegen ein Kantonsspital für St.Gallen,<br />
doch die Politiker wollen davon nichts wissen.<br />
Warum auch? Viele von ihnen werden wie andere<br />
gutbetuchte Ortsbürgerinnen und Ortsbürger im<br />
städtischen Bürgerspital vorzüglich behandelt. Im<br />
kleinen Fremdenspital hingegen stirbt jede und<br />
jeder zweite Erkrankte an Wundbrand. Sieht so die<br />
Nächstenliebe im frommen St.Gallen aus?<br />
Ein Leiden folgt dem nächsten<br />
Sonderegger, Sohn einer angesehenen Beamtenfamilie<br />
aus Balgach im Rheintal, hat als kränkliches<br />
Kind am eigenen Leib erfahren, was eine rückständige<br />
medizinische Versorgung bedeutet. Er ringt mit<br />
einer Diphtherie, einer tödlichen Infektionskrankheit,<br />
die er zwar überlebt, die ihm aber nachhaltig<br />
das Reden erschwert.<br />
Als kränkliches Kind hat Sonderegger am eigenen<br />
Leib e rfahren, was eine rückständige medizinische<br />
Versorgung bedeutet.<br />
Erst disziplinierte Sprachübungen während des<br />
Medizinstudiums in Zürich machen ihn zum Redekünstler,<br />
sodass er sogar zum Präsidenten des Studentenvereins<br />
gewählt wird.<br />
Der Arzt Sonderegger bleibt aber stets auch ein<br />
Kranker, er kämpft im Verlauf seines Lebens mit<br />
einer Lungentuberkulose, mit einer lebensbedrohlichen<br />
Lungenentzündung, mit einem schwachen<br />
Herzen, Bronchitis und weiteren Gebrechen.<br />
Mitten in stürmische Zeiten<br />
Neben seinem persönlichen Leidensweg sind es<br />
politische und soziale Erfahrungen, die Sonderegger<br />
prägen.<br />
Im Herbst 1848 saugt der 23-jährige Medizinstudent<br />
im Wiener «Allgemeinen Krankenhaus» gerade die<br />
Eindrücke eines Grossbetriebs in sich auf, als im<br />
Kaisertum die Revolution ausbricht. Von den Hunderten<br />
fremden Ärzten nehmen fast alle Reissaus –<br />
Sonderegger bleibt, ob aus Pflichtbewusstsein oder<br />
Abenteuerlust. Jedenfalls hat er mit der Pflege von<br />
Verwundeten alle Hände voll zu tun.<br />
Ein Jahr später reist er nach Prag, nur um sich inmitten<br />
einer Choleraepidemie wiederzufinden – eine<br />
Armutskrankheit, verbreitet durch verschmutztes<br />
Trinkwasser. Sie verschafft dem Studenten Einblick<br />
in neue medizinische Welten, doch sie konfrontiert<br />
den jungen Mann auch mit viel Leid.<br />
Sonderegger kann alles<br />
In seiner Praxis in Balgach, Altstätten und St.Gallen<br />
erwirbt sich Sonderegger einerseits den Ruf,<br />
seine Patientinnen und Patienten unabhängig von<br />
ihrem Vermögen mit Sachverstand und Empathie<br />
zu behandeln. «Menschlich bedeutungsvoll ist alles,<br />
wenn man nicht Maschinen-Reparateur, sondern<br />
Arzt sein will», schreibt er in seiner Biografie.<br />
Andererseits macht er sich als Allgemeinmediziner,<br />
als Spezialist in der Gesundheitspflege, als<br />
Hygieniker, als Internist, Chirurg und Frauenarzt<br />
einen Namen – kurzum: Sonderegger kann alles.<br />
Und er schreibt mit spitzer Feder über Gesundheit<br />
und Politik, wird Kantonsrat, «um ein bisschen am<br />
Steuerruder des Staates mitzuzerren», steht dem<br />
kantonalen Ärzteverein vor, später der Schweizerischen<br />
Ärztekommission, wo er den Bundesrat in<br />
gesundheitspolitischen Fragen berät.<br />
Auch sein sprachgewaltiger Einsatz zugunsten eines<br />
Kantonsspitals in St.Gallen zeigt Wirkung. 1873 wird<br />
das einstige Fremdenspital, das jetzt Gemeindespital<br />
heisst, erweitert und zum Kantonsspital St.Gallen<br />
erhoben. Sonderegger wird zur ersten Aufsichtsperson<br />
gewählt, oder wie er es nennt: zum «Vermittler<br />
zwischen Staatswagen und Krankenwagen».<br />
Im Juni 1896 besucht Sonderegger «sein» Kantonsspital<br />
ein letztes Mal – wegen einer Erkrankung im<br />
Magen-Darm-Trakt. Die Gastroenterostomie, also<br />
die operative Verbindung von Magen und Dünndarm,<br />
gelingt in diesem nun hochmodernen Spital<br />
ohne Schwierigkeiten. Nur das Herz des 71-Jährigen<br />
macht nicht mehr mit. Der Gründervater des<br />
Kantonsspitals St.Gallen stirbt am 20. Juni 1896.<br />
Sonderegger behandelt seine Patientinnen<br />
und Patienten – unabhängig von ihrem Vermögen<br />
– mit Sachverstand und Empathie.<br />
8<br />
9
«WIR SPIELEN IN DER CHAMPIONS LEAGUE<br />
DER BIOMEDIZINISCHEN FORSCHUNG»<br />
Das Kantonsspital St.Gallen ist das erste nichtuniversitäre Spital der<br />
Schweiz mit eigenem Forschungszentrum. Was leistet die medizinische<br />
Forschung am <strong>KSSG</strong> und was bringt sie Patientinnen und Patienten?<br />
Ein Interview mit Prof. Dr. Burkhard Ludewig, Mitgründer und Leiter des<br />
Medizinischen Forschungszentrums.<br />
Herr Prof. Dr. Ludewig, Sie leiten seit 21 Jahren das Institut für<br />
Immunbiologie und seit 15 Jahren das Medizinische Forschungszentrum<br />
(MFZ) des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>). Wird Ihnen nicht<br />
langweilig?<br />
Im Gegenteil. Am MFZ kann ich meine wissenschaftliche Neugier<br />
voll ausleben. Das Gute ist ja, Forschung kennt kein Ende. Es gibt<br />
so viele Krankheiten, deren Ursachen und Mechanismen wir kaum<br />
kennen und deshalb auch keine guten Therapien anbieten können.<br />
Was ich ausserdem schätze: Ich arbeite hier mit jungen Forschenden,<br />
Doktoranden und Postdoktoranden, die wahnsinnig viel Energie ins<br />
MFZ einbringen. Ich habe den besten Beruf der Welt!<br />
Sie sind ein weltweit führender Immunologe. Worum geht es in der<br />
Immunologie?<br />
Wir fragen uns: Wie reagiert unser Immunsystem bei Erkrankungen?<br />
Wie funktionieren Entzündungen? Und wie kann man unsere körpereigenen<br />
Reaktionen medikamentös steuern? Denn bei manchen<br />
Krankheiten überreagiert unser Immunsystem, wie bei Allergien oder<br />
entzündlichen Erkrankungen des Herzmuskels – meinem Spezialgebiet.<br />
Bei anderen Krankheiten, wie Krebs, kann gezielte Steuerung des<br />
Immunsystems zur Heilung führen. Die Grundsatzfrage ist also, wie<br />
wir unser körpereigenes Immunsystem so stärken oder schwächen<br />
können, dass es der Gesundung der Patientinnen und Patienten dient.<br />
Welchen Stellenwert hatte die Forschung am <strong>KSSG</strong>, als Sie hier 2002<br />
anheuerten?<br />
Damals hatte das <strong>KSSG</strong> nur ein kleines Forschungslabor mit fünf Mitarbeitenden.<br />
An internationalen Forschungsstandards gemessen war<br />
St.Gallen aber Provinz. Genau das hat mich gereizt: hier etwas Neues<br />
aufzubauen. Der politische Wille dafür war spürbar – insbesondere<br />
als 2007 der strategische Entscheid für einen Ausbau des Labors zu<br />
einem Forschungszentrum gefällt wurde. Heute zählen wir am MFZ<br />
60 Mitarbeitende sowie sieben Forschungsgruppen und dürfen ohne<br />
falsche Bescheidenheit behaupten: Einige Projekte sind internationale<br />
Spitzenklasse.<br />
Prof. Dr. Burkhard Ludewig wurde 1963<br />
in Göttingen geboren. Der Sohn einer<br />
Bauernfamilie studierte Tiermedizin in<br />
Berlin, bevor er sich auf die humanmedizinische<br />
Immunologie spezialisierte. Sein<br />
Forschungsschwerpunkt ist die Kardioimmunologie,<br />
die Erforschung von Entzündungen<br />
des Herzmuskels. Prof. Dr.<br />
Burkhard Ludewig ist Vater einer erwachsenen<br />
Tochter und lebt mit seiner Frau,<br />
der Rechtspsychologin und Gutachterin<br />
Dr. Revital Ludewig, in St.Gallen. Die beiden<br />
haben sich 1985 in einem israelischen<br />
Kibbuz kennengelernt.<br />
i<br />
Wie lässt sich die «internationale Spitzenklasse» in der Forschung<br />
messen?<br />
Da gibt es viele Parameter, beispielsweise die Anzahl von Publikationen<br />
in den wichtigsten Fachzeitschriften. So haben unsere Forschenden<br />
in den letzten Jahren ihre Erkenntnisse in renommierten Fachzeitschriften<br />
wie Nature Immunology, Science und Nature publiziert. Zudem<br />
haben wir 2021 allein am Institut für Immunbiologie Drittmittel in<br />
der Höhe von 4,2 Millionen Franken eingeworben, davon 2,5 Millionen<br />
Franken für mein Projekt zur Untersuchung der molekularen<br />
und immunologischen Prozesse bei Herzmuskelentzündungen. Das<br />
Geld wurde uns vom Europäischen Forschungsrat zugesprochen – das<br />
ist quasi die Champions League der europäischen Forschung. Für<br />
all das braucht es innovative Forschungsprojekte und -ergebnisse,<br />
die in einem harten internationalen Wettbewerb bestehen müssen.<br />
«Ich habe den besten Beruf<br />
der Welt!»<br />
Was hat das <strong>KSSG</strong> und was haben die Patientinnen<br />
und Patienten von der erfolgreichen Forschung<br />
am MFZ?<br />
Einerseits sorgen die Drittmittel dafür, dass fast<br />
zwei Drittel unserer Mitarbeitenden fremdfinanziert<br />
sind, also das <strong>KSSG</strong> nichts kosten, ausser der Infrastruktur.<br />
Andererseits – und das ist noch wichtiger<br />
– sorgt die Nähe zwischen Forschung und medizinischer<br />
Praxis für eine höhere Behandlungsqualität,<br />
weil dadurch Innovationen schneller zu den<br />
Patientinnen und Patienten gelangen. Die Schweizerische<br />
Akademie der Medizinischen Wissenschaften<br />
hat kürzlich in ihrem White Paper Clinical Research<br />
gezeigt, wie entscheidend die Forschung an Spitälern<br />
für ein «lernendes Gesundheitssystem» ist.<br />
Sie sind seit eineinhalb Jahren mit einem<br />
20-Prozent-Pensum als Wissenschaftlicher<br />
Abteilungsleiter in der Klinik für Kardiologie<br />
am Universitätsspital Zürich angestellt.<br />
Wie verträgt sich das mit Ihrer Tätigkeit am <strong>KSSG</strong>?<br />
Sehr gut, denn von dieser Vernetzung profitieren<br />
beide Spitäler. Es geht hier vor allem um die Entwicklung<br />
einer Immuntherapie zur Behandlung von<br />
Herzmuskelentzündungen. Am Universitätsspital<br />
Zürich werden mehr Patientinnen und Patienten<br />
mit dieser Diagnose behandelt, und davon profitiert<br />
wiederum unsere Grundlagenforschung am <strong>KSSG</strong>.<br />
«Die Nähe zwischen medizinischer<br />
Forschung und Praxis sorgt für eine<br />
bessere Behandlungsqualität.»<br />
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Im<br />
Gegensatz zu vielen Ihrer deutschen Kolleginnen<br />
und Kollegen am <strong>KSSG</strong> reden Sie «Schwiizerdütsch».<br />
Warum?<br />
Erstens lerne ich gerne Sprachen – von Hebräisch<br />
bis Schweizerdeutsch. Zweitens spreche ich gerne<br />
so wie die Menschen, unter denen ich lebe. Das ist<br />
mir wichtig für die Integration. Allerdings reden<br />
wir im MFZ weder Schweizerdeutsch noch Hochdeutsch,<br />
sondern Englisch.<br />
10<br />
11
ROCKET SCIENCE*<br />
Spitzenforschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie in wissenschaftlichen<br />
Publikationen veröffentlicht wird und sich in einem harten Wettbewerb<br />
um Forschungsgelder durchsetzt. Hier stellen wir fünf Highlights aus dem<br />
Medizinischen Forschungszentrum des Kantonsspitals St.Gallen vor.<br />
Experimentelle Dermatologie<br />
Dr. Fiamma Berner und Dr. David Bomze, Medizinisches Forschungszentrum<br />
Dr. Fiamma Berner und Dr. David Bomze aus der Forschungsgruppe<br />
von Prof. Dr. Lukas Flatz haben 2020 den Pfizer Forschungspreis in der<br />
Kategorie Onkologie erhalten. In ihrem Forschungsprojekt haben die<br />
jungen Forschenden autoimmune Nebenwirkungen identifiziert, die<br />
bei der Behandlung von Lungenkrebserkrankungen auftreten können.<br />
Die Ausgangslage: Zwar kann man die «Bremsen des Immunsystems»<br />
heute durch sogenannte Inhibitoren lösen – ein medizinscher Durchbruch,<br />
der 2018 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Allerdings<br />
wird dadurch nicht nur der Tumor zurückgedrängt, sondern es steigt<br />
auch das Risiko für unerwünschte Autoimmunreaktionen in anderen<br />
Körperorganen wie der Haut. Genau das zeigt die Studie des St.Galler<br />
Forschungsteams erstmals umfassend, sodass das Risiko für Nebenwirkungen<br />
in Zukunft besser abgeschätzt werden kann.<br />
* «Rocket Science»: something that is very difficult to learn or understand<br />
(The Brittanica Dictionary; dt.: etwas, das sehr schwer zu lernen oder zu verstehen ist)<br />
Coronaviren im Verdauungstrakt<br />
Dr. Natalia Pikor, Medizinisches Forschungszentrum<br />
Das Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) hat Forschungsprofessorinnen<br />
und -professoren, nur dürfen sich<br />
diese nicht so nennen, da das <strong>KSSG</strong> kein universitäres<br />
Spital ist. Eine aufstrebende <strong>KSSG</strong>-Wissenschaftlerin<br />
von professoralem Format ist die 36-jährige<br />
Dr. Natalia Pikor, die für ihr Projekt «Antivirale<br />
Immunität gegen Coronaviren im Gastrointestinaltrakt»<br />
mit der renommierten Peter Hans Hofschneider<br />
Stiftungsprofessur ausgezeichnet wurde. Und darum<br />
geht es: Während die Folgen einer Coronainfektion<br />
für die Lunge und die Atemwege gut dokumentiert<br />
sind, erforscht Dr. Pikor die möglichen Auswirkungen<br />
auf den menschlichen Verdauungstrakt,<br />
insbesondere auf Magen, Darm und Leber. Die<br />
Entschlüsselung dieser Mechanismen soll dazu<br />
beitragen, Risikopatientinnen und -patienten mit<br />
Multiorganerkrankungen bei einer Coronainfektion<br />
besser therapieren zu können.<br />
Immunorgane im Darm, die sogenannten Peyerschen Platten.<br />
Die rot markierten Zellen sind vom Coronavirus infiziert.<br />
HELICAL: Mit Big Data zu gesunden Blutgefässen<br />
Projektleitung Prof. Dr. Alfred Mahr und Solange<br />
Gonzalez Chiappe, Klinik für Rheumatologie<br />
Big Data sind in aller Munde. Auch in der Medizin<br />
soll die Verarbeitung und Analyse riesiger Datenmengen<br />
zu neuen Erkenntnissen und letztlich besseren<br />
Therapien führen. Das EU-Projekt HELICAL<br />
steht für «HEalth data LInkage for ClinicAL benefit».<br />
In diesem interdisziplinären Projekt spannen<br />
17 akademische Partner aus acht europäischen Ländern,<br />
darunter die Klinik für Rheumatologie des<br />
<strong>KSSG</strong>, und neun industrielle Partner zusammen,<br />
um grosse klinische Datensätze unter Berücksichtigung<br />
des Datenschutzes und mithilfe gigantischer<br />
Computer auszuwerten. Als Fallbeispiel dient die<br />
chronische Vaskulitis, die entzündliche Erkrankung<br />
der Blutgefässe. Konkret bietet HELICAL 15 jungen<br />
Forschenden, darunter Solange Gonzalez Chiappe<br />
vom <strong>KSSG</strong>, die Möglichkeit, während 36 Monaten<br />
einen PhD (Philosophical Doctorate) in hochmoderner<br />
Datenanalyse zu erlangen. Ziel ist es, über Big<br />
Data die umweltbedingten Auslöser und komplexen<br />
Wirkungsmechanismen chronischer Krankheiten<br />
zu verstehen.<br />
Das Medizinische Forschungszentrum (MFZ)<br />
Das MFZ schafft für seine über 60 Mitarbeitenden<br />
eine attraktive Forschungsumgebung, um die<br />
akademische Lehre, Forschungskompetenz und<br />
Innovationskräfte am Kantonsspital St.Gallen zu<br />
stärken. Es besteht aus<br />
· dem Institut für Immunbiologie mit den<br />
Forschungsgruppen Immunbiologie, Dermatologie,<br />
Neuroimmunologie und Neurochirurgie<br />
· der Clinical Trials Unit (CTU) zur Koordination<br />
der klinischen Forschungstätigkeit mit anderen<br />
Spitälern und Industriepartnern<br />
· mehreren angegliederten Forschungsgruppen<br />
von den <strong>KSSG</strong>-Kliniken für Onkologie, Infektiologie<br />
und Urologie.<br />
Mit dem MFZ entspricht das <strong>KSSG</strong> dem Leistungsauftrag<br />
des Kantons St.Gallen «für den Betrieb von<br />
anwendungsorientierter Forschung (...) zur Gewinnung<br />
wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie zur Verbesserung<br />
der Prävention, Diagnostik und Behandlung<br />
von Krankheiten».<br />
i<br />
Blutdruck und postoperative Komplikationen<br />
Projektleitung Prof. Dr. Miodrag Filipovic, Stv. Chefarzt, Klinik für<br />
Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin<br />
Eine Kernaufgabe der Anästhesie ist es, während Operationen Vitalzeichen<br />
wie den Blutdruck zu kontrollieren und zu regulieren. Dabei<br />
ist bekannt, dass ein zu tiefer Blutdruck bei der Operation statistisch<br />
gesehen postoperative Komplikationen und Todesfälle begünstigt.<br />
Doch was passiert, wenn der Blutdruck während der Operation medikamentös<br />
etwas erhöht wird? Liessen sich dadurch postoperative<br />
Komplikationen reduzieren? Auf diese Fragen will die BBB-Studie (Biomarker,<br />
Blutdruck, BIS) Antworten finden. Nach dem Zufallsprinzip<br />
werden Patientinnen und Patienten in zwei Gruppen unterteilt: eine<br />
Kontrollgruppe mit dem heute üblichen Zielblutdruck sowie eine<br />
Gruppe mit einem erhöhten intraoperativen Zielblutdruck. Danach<br />
werden beide während zwölf Monaten bezüglich Komplikationen<br />
verglichen. Die Studie ist von hohem klinischem Interesse, und die<br />
Durchführung wurde vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt.<br />
Ein «Flugsimulator» für Chirurginnen und Chirurgen<br />
Projektleitung Prof. Dr. Bruno Schmied, Chefarzt Klinik für Allgemein-,<br />
Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie<br />
Wovon Pilotinnen und Piloten längst profitieren, soll auch in der<br />
Chirurgie Fuss fassen: das Training am Simulator. Initiiert wird der<br />
Paradigmenwechsel – Training am Monitor statt am Menschen – durch<br />
das Projekt PROFICIENCY. Dessen Leiter, Prof. Dr. Bruno Schmied,<br />
Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Endokrin- und Transplantationschirurgie<br />
im <strong>KSSG</strong>, freut sich: «Das innovative Weiterbildungsangebot<br />
wird die chirurgische Weiterbildung in der offenen<br />
und minimalinvasiven Chirurgie entscheidend verbessern.» Auch<br />
Innosuisse ist begeistert: Die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung<br />
des Bundes unterstützt das Projekt PROFICIENCY mit<br />
zwölf Millionen Franken.<br />
12<br />
13
1972<br />
Landen, wo heute parkiert wird<br />
Bis Anfang der 1990er-Jahre landet der Helikopter auf dem heutigen Böschenmühle-Parkplatz<br />
(Parking B). Um den Transport von Patientinnen und Patienten<br />
zu vereinfachen, wird der Landeplatz auf das Dach des Hauses 03B verlegt,<br />
von dem ein Lift direkt ins Notfallzentrum führt. Weil dieser Landeplatz aber<br />
nur aus einer Richtung angeflogen werden kann und zu einem der gefährlichsten<br />
Landeplätze der Schweiz zählt, wird er 2029 auf das Dach des neuen<br />
Hauses 07A versetzt.<br />
GEBAUTE GESCHICHTE<br />
2023<br />
Das Wahrzeichen<br />
Mit seinen rund 78 Metern Höhe ist<br />
es das höchste Gebäude der Stadt:<br />
das Haus 04. Drei Jahre dauern die<br />
Bauarbeiten, die 1972 beginnen. Das<br />
Spitallogo wird 1997 angebracht;<br />
damals gilt solche «Eigenreklame»<br />
eines öffentlichen Spitals fast schon<br />
als gewagt.<br />
450 Autos<br />
78 m<br />
Das neue Herzstück<br />
Pünktlich zum Jubiläum wird es fertig sein, das Haus 07A mit der zentralen<br />
Eingangshalle, der Patientenaufnahme und seinen Ambulatorien, Behandlungsräumen,<br />
Operationssälen sowie den Bettenstationen im Hochhaus. Unter Grund<br />
gibt es Platz für 450 Autos. Es ist der neue Dreh- und Angelpunkt auf dem Areal.<br />
2024 wird der Umzug abgeschlossen und das Gebäude in Betrieb genommen.<br />
1873<br />
02<br />
03D<br />
03C<br />
03 03<br />
07A<br />
NFZ<br />
Wo alles begann<br />
1873 nehmen hier vier Chefärzte den Betrieb auf.<br />
Knapp 150 Jahre später wird das Urspital im Rahmen<br />
des Generationenprojekts «come together»<br />
abgerissen, um Platz für das neue Haus 07B zu<br />
schaffen.<br />
26<br />
25<br />
04<br />
03B<br />
07A<br />
01<br />
10<br />
25A 24<br />
05<br />
22<br />
21<br />
84 88 TFB<br />
25A 59<br />
21<br />
20<br />
1888<br />
19<br />
06<br />
09<br />
Von der Gebäranstalt zur Frauenklinik<br />
1835 gründet eine St.Galler Hebamme eine private «Hebammenunterrichtsanstalt».<br />
Der Kanton übernimmt diese und<br />
funktioniert sie in eine «Gebäranstalt» um, an der mittellose,<br />
schwangere Frauen aufgenommen und gleichzeitig<br />
Hebammen ausgebildet werden. 1888 kommt die «Entbindungsanstalt»<br />
auf dem Spitalareal zu liegen. Zur kantonalen<br />
Frauenklinik wird sie 1941 durch einen Zusammenschluss mit<br />
der gynäkologischen Abteilung.<br />
11<br />
2011<br />
32 57<br />
Pathologischer Platzmangel<br />
Der erste Pathologe am Kantonsspital,<br />
Dr. Arthur Hanau, muss sich 1890<br />
mit einem einzigen Zimmer im Haupthaus<br />
begnügen; das Leichenhaus liegt<br />
am Westende des Areals. Im Laufe der<br />
Jahrzehnte wachsen Pathologie und<br />
Rechtsmedizin stetig und beziehen neue<br />
Häuser auf dem Spitalareal. Der Neubau<br />
mit seiner markanten Lamellenfassade<br />
wird 2011 eröffnet und kostet 47 Millionen<br />
Franken.<br />
47 Mio.<br />
Das fliegende Klassenzimmer<br />
Es herrscht Platznot Anfang der 2000er-Jahre, doch man<br />
weiss sich zu helfen: Ein provisorischer Schulhauspavillon<br />
aus dem Rheintal wird umfunktioniert und bietet Raum für<br />
diverse ambulante Einrichtungen. Im Rahmen der Gesamtbausanierung<br />
wird der Pavillon wieder abgebrochen.<br />
14<br />
15
JEDE GEBURT<br />
IST EIN WUNDER<br />
Als die Hebamme Irmgard Schaflechner 1996 nach 23 Jahren im Kantonsspital<br />
St.Gallen in Pension ging, wurde die Hebamme Giulia Schai ebendort<br />
geboren. Ein Generationengespräch über Trends im Gebärzimmer<br />
und den Wandel eines Berufsbildes.<br />
Frau Schaflechner, Sie haben am Kantonsspital<br />
St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) über 3’000 Kinder auf die Welt<br />
begleitet, Sie, Frau Schai, bislang gut 300. Erinnern<br />
Sie sich an Ihre allererste Geburt?<br />
Irmgard Schaflechner (I. S.): Ich erlebte die erste<br />
Geburt als 14-Jährige. Meine jüngste Schwester<br />
kam zu Hause zur Welt, und ich fungierte als eine<br />
Art Handlangerin der Hebamme. Sie sagte meiner<br />
Mama: «Deine Irmgard wird einmal eine gute Hebamme».<br />
Giulia Schai (G. S.): Ich war 16 Jahre alt, als ich während<br />
eines Praktikums im Spital Heiden die erste<br />
Geburt miterlebte. Ich wollte unbedingt Hebamme<br />
werden, wusste aber kaum etwas über den Beruf.<br />
Entsprechend gross war der Schock, als mich die<br />
Praktikumsbetreuerin zu «meiner» ersten Geburt<br />
mitnahm. Nach wenigen Minuten war ich käsebleich<br />
und musste mich setzen – noch früher als<br />
der werdende Vater!<br />
Frau Schaflechner, Sie haben zunächst eine Ausbildung<br />
zur Verkäuferin absolviert – warum nicht<br />
gleich zur Hebamme?<br />
I. S.: Erstens wollte mein Vater seinen Töchtern<br />
keine teure Ausbildung zahlen. Wir würden ohnehin<br />
bald heiraten, sagte er. Zweitens stand in Österreich,<br />
meiner Heimat, die Hebammenschule erst<br />
Frauen ab 18 Jahren offen. Ich hätte also eine Sonderbewilligung<br />
des Bürgermeisters gebraucht. Und<br />
drittens gab es damals nach dem Krieg in keiner<br />
Branche so viele offene Stellen wie im Verkauf.<br />
Wann traten Sie die Hebammenausbildung<br />
schliesslich an?<br />
I. S.: 1961; da war ich 27 Jahre alt und Mutter zweier<br />
Kinder. Trotzdem musste ich wie alle Auszubildenden<br />
an Werktagen in der Frauenklinik Graz wohnen,<br />
das war damals die Bedingung. Wir mussten<br />
abrufbar sein, denn Kinder werden ja rund um die<br />
Uhr geboren. Also mussten meine Eltern mehrheitlich<br />
die Kinder hüten. Nach der Ausbildung<br />
arbeitete ich als freipraktizierende Gemeindehebamme.<br />
Doch damals lief der Trend gegen Hausgeburten,<br />
wodurch mein Einkommen sank. Und ich<br />
war Alleinverdienerin. Deshalb liess ich mich 1973<br />
am <strong>KSSG</strong> festanstellen. Am Anfang hatte ich etwas<br />
Mühe, vor allem mit den jungen Ärzten, die immer<br />
meinten, alles besser zu wissen. Zum Glück habe ich<br />
mich von meinen Chefs verstanden und getragen<br />
gefühlt; das <strong>KSSG</strong> wurde zu meiner zweiten Familie.<br />
Deshalb bin ich bis zu meiner Pensionierung Ende<br />
Februar 1996 geblieben.<br />
G. S.: Wir haben uns nur um ein paar Monate verpasst,<br />
Irmgard! Am 27. Juni 1996 habe ich im <strong>KSSG</strong><br />
das Licht der Welt erblickt!<br />
Frau Schai, 2019 haben Sie das vier Jahre dauernde<br />
Studium zur Hebamme abgeschlossen, seither<br />
arbeiten Sie am <strong>KSSG</strong>. Wie sieht Ihr gewöhnlicher<br />
Arbeitstag aus?<br />
G. S.: Schwangerschaften und Geburten sind nie<br />
gewöhnlich, folglich ist auch mein Arbeitsalltag<br />
nie gewöhnlich. Das ist das Herausfordernde, aber<br />
auch Spannende an unserem Beruf.<br />
17
i<br />
Irmgard Schaflechner (89) kam 1973 als Hebamme ans<br />
<strong>KSSG</strong> und blieb dem «Kanti» bis zu ihrer Pensionierung<br />
1996 treu.<br />
Giulia Schai (26) ist seit 2019 Hebamme im <strong>KSSG</strong> und hat<br />
ihrer Meinung nach «den besten Beruf der Welt».<br />
I. S.: Ich habe manchmal vier Babys gleichzeitig<br />
in den Armen gewippt – und liebte dieses Gefühl.<br />
Aber noch besser gefiel mir, wenn es medizinisch<br />
komplex wurde und ich dank meines Wissens und<br />
Erfahrungsschatzes eine heikle Situation entschärfen<br />
konnte. Es ist mir ein Genuss, mich an wunderbare<br />
Zwillings- und Steissgeburten zu erinnern.<br />
Aber grundsätzlich gilt: Jede Geburt ist ein Wunder.<br />
Was leistet eine Hebamme?<br />
G. S.: Meine Aufgabe als Hebamme ist es, Mutter<br />
und Kind vor, während und nach der Geburt<br />
professionell und empathisch zu begleiten und zu<br />
betreuen. Die Administration nimmt allerdings<br />
immer mehr Zeit in Anspruch.<br />
Frau Schaflechner, mit welchen Trends waren Sie früher als<br />
Hebamme konfrontiert?<br />
I. S.: In den Jahren des Wirtschaftswunders war die Gesellschaft sehr<br />
technologiebesessen. Denken Sie nur an die erste Mondlandung 1969!<br />
Auch der Umgang mit Geburten und Säuglingen war sehr technisch,<br />
man könnte auch sagen «männlich» geprägt. Das zeigte sich zum Beispiel<br />
darin, dass fast alle Ärzte eine Ernährung der Säuglinge durch<br />
Pulvermilch anstelle von Muttermilch empfahlen.<br />
1970 lag die Stillrate in der Schweiz bei nicht einmal 25 Prozent …<br />
I. S.: Eben. Ich erinnere mich an einen Hebammenkongress, da<br />
schimpfte der Referent gegen das Stillen, da die Gifte aus der verpesteten<br />
Umwelt über die Muttermilch direkt im Säugling landen<br />
würden.<br />
G. S.: Heute zeigen diverse Studien, dass Muttermilch die gesündeste<br />
Nahrung für Säuglinge ist. Ausserdem ist das Stillen für die frühkindliche<br />
Bindung wichtig. Deshalb empfiehlt auch die WHO, Säuglinge in<br />
den ersten sechs Monaten ausschliesslich zu stillen. Und die meisten<br />
Mütter wollen heute auch stillen. Nur klappt das nicht immer. Stillen<br />
muss man lernen und üben. Ich motiviere und gebe ihnen Tipps und<br />
Tricks, sage aber auch: «Wegen mir muss niemand stillen. Das muss<br />
jede Mutter selbst entscheiden.»<br />
Finden Ihre Worte als Hebamme Gehör?<br />
I. S.: Zu meiner Zeit glaubte man eher den Ärzten,<br />
also den Männern, als uns Hebammen.<br />
G. S.: Das ist inzwischen anders. Erstens gibt es<br />
immer mehr Gynäkologinnen, zweitens fragen mich<br />
unsere Ärztinnen und Ärzte am <strong>KSSG</strong> oft nach meiner<br />
Meinung.<br />
Wie empfinden Sie denn das gesellschaftliche<br />
Ansehen als Hebamme, Frau Schai?<br />
G. S.: Ich bin schon dreimal zufällig in eine Polizeikontrolle<br />
gekommen, und als ich jeweils sagte, ich<br />
sei Hebamme und auf dem Weg ins <strong>KSSG</strong>, wurde<br />
ich immer durchgewunken – begleitet von den besten<br />
Wünschen. Auch im Bekanntenkreis wollen<br />
alle immer über meinen Beruf reden – an jedem<br />
Geburtstagsfest, jeder Klassenzusammenkunft und<br />
sogar in der Migros an der Kasse. Fast alle finden<br />
meinen Beruf toll. Und ich gebe ihnen Recht: Es<br />
gibt keinen besseren!<br />
I. S.: Diese Entwicklung hat bereits in meinen letzten<br />
Berufsjahren begonnen. So viel Zeit für Papierkram.<br />
G. S.: Die Dokumentation ist aber auch notwendig.<br />
Käme es beispielsweise zu einem Gerichtsfall gegen<br />
das Spital, müssen wir unser Handeln rekonstruieren<br />
können.<br />
Auf Hebammen lastet eine enorme<br />
Verantwortung …<br />
I. S.: Ich habe mich stets an zwei Grundsätze gehalten:<br />
Die Gebärende soll sich sicher fühlen, und ich<br />
anerkenne meine eigenen Grenzen.<br />
G. S.: Das ist auch für mich das Wichtigste. Ich bin<br />
aber auch dankbar für die hervorragende technische<br />
Ausstattung am <strong>KSSG</strong>. Dennoch müssen wir<br />
auch unserer Wahrnehmung vertrauen, nicht nur<br />
den technischen Daten.<br />
Irmgard Schaflechner: «Zu meiner Zeit wurden am <strong>KSSG</strong> jährlich 1ʼ100 Kinder<br />
geboren.» – Giulia Schai: «Heute sind es doppelt so viele.»<br />
I. S.: Wie dehnbar ein Muttermund ist, das muss man fühlen, das<br />
kann keine Maschine, kein Ultraschall. Diese Technikbesessenheit<br />
hat mich manchmal frustriert. Und was mich richtig traurig stimmt,<br />
ist die steigende Rate an Kaiserschnittgeburten.<br />
G. S.: Die Sectio-Rate liegt am <strong>KSSG</strong> bei bis zu 30 Prozent. Die Zahl ist<br />
auch deshalb so hoch, weil wir ein Zentrumsspital sind. Das heisst,<br />
dass komplexe Geburten wie Mehrlinge oder Frühgeburten ab 24<br />
Wochen häufig bei uns zur Welt kommen – und das meist durch<br />
Kaiserschnitte. Auf der anderen Seite ermöglichen wir am <strong>KSSG</strong> aber<br />
auch vaginale Entbindungen, die in anderen Spitälern als Kaiserschnitte<br />
enden würden – beispielsweise Steissgeburten. Es gibt durchaus<br />
widersprüchliche Trends. Einerseits interessieren sich immer<br />
mehr werdende Eltern für naturnahe Geburten. Andererseits gibt<br />
es werdende Eltern, die die Geburt fast zu einem «Event» machen<br />
wollen, der wunderschön, möglichst schmerzfrei und so kurz wie<br />
möglich sein soll.<br />
18<br />
19
Für den Durchblick<br />
Die Augenklinik am Kantonsspital<br />
St.Gallen richtet in Zusammenarbeit<br />
mit dem Ostschweizerischen Blindenfürsorgeverein<br />
die erste «Low-Vision-<br />
Abteilung» der Schweiz ein. Menschen<br />
mit stark reduzierter Sehschärfe absolvieren<br />
unter der Leitung einer eigens<br />
dafür zuständigen Spezialistin ein Sehtraining<br />
und erhalten Tipps, um das<br />
verbleibende Sehvermögen im Alltag<br />
optimal einzusetzen. Die Einrichtung<br />
besteht bis heute.<br />
20
i<br />
Chantal Osterwalder (19) hat 2022 als zweite Person am Kantonsspital St.Gallen die Lehre<br />
zur Medizinproduktetechnologin abgeschlossen – ein neues Berufsbild. Ihr Arbeitsort ist die<br />
Zentrale Sterilgutversorgungsabteilung (ZSVA), die am <strong>KSSG</strong> 53 Mitarbeitende zählt. Später<br />
will sich Chantal Osterwalder zum Beispiel zur Operationstechnikerin HF weiterbilden, doch<br />
vorerst hat sie genug vom Lernen. Nur ihr Englisch will sie im Winter in Cambridge vom ersten<br />
ersparten Lohn verbessern.<br />
ICH SPÜRTE:<br />
ICH KANN DAS<br />
«Ich habe kurz die Augen geschlossen und mir vorgestellt:<br />
Die beiden Prüfenden wissen nichts. Und<br />
ich habe die Ehre, sie in die faszinierende Welt der<br />
Medizinproduktetechnologie zu entführen und<br />
ihnen einfach zu erklären, was ich warum tue. Das<br />
war meine Taktik. Und endlich verspürte ich eine<br />
tiefe, innere Ruhe.<br />
In den Nächten vor der praktischen Lehrabschlussprüfung<br />
habe ich kaum geschlafen, so aufgeregt<br />
war ich. Mein Kopf war voller Fragen. Was wollen<br />
die Prüferin aus Zürich und der Prüfer aus St.Gallen<br />
von mir wissen? Was habe ich in drei Lehrjahren<br />
gelernt? Was weiss ich, was kann ich, wenn<br />
es darauf ankommt? Ein Blackout, das war meine<br />
Horrorvorstellung.<br />
Um 8:30 Uhr ging es los. Als Erstes kam die Nasszone<br />
dran, in der wir kontaminierte Instrumente<br />
aus den Operationssälen und Stationen reinigen<br />
und desinfizieren. Der Nachtdienst hatte alles gut<br />
vorbereitet, nun musste ich die Beladungsträger für<br />
unser Reinigungs- und Desinfektionsgerät (RDG)<br />
bestücken. Aber natürlich habe ich das RDG erst<br />
einmal genau inspiziert: Ist der Filter gereinigt?<br />
Sind die Dreharme in alle Richtungen schwenkbar?<br />
Ist die Türdichtung sauber? Danach habe ich zwei<br />
Siebe aufbereitet: Wundhaken, Scheren, Klemmen,<br />
Skalpellgriffe, Nadelhalter – alles an seinen Platz.<br />
Und dazu habe ich erzählt und erzählt.<br />
Klar habe ich zwischendurch versucht, irgendwelche<br />
Reaktionen aus den Gesichtern der Prüfenden<br />
herauszulesen. Sagen und fragen dürfen diese ja<br />
nichts. Aber ich habe gemerkt: Das Ergründen tut<br />
mir nicht gut. Lieber bei der Sache bleiben. Denn<br />
ich war jetzt voller Selbstbewusstsein. Ich spürte:<br />
Ich kann das!<br />
Nach vier Stunden war die Prüfung beendet. Im Juni<br />
folgten die schriftliche und die mündliche Prüfung,<br />
am 6. Juli 2022 hatte ich das Ergebnis im Briefkasten.<br />
Bestanden mit 5,1 – was für eine Erleichterung!<br />
Ob ich gefeiert habe? Klar! Schliesslich lief gerade<br />
das Openair Frauenfeld. Dort bin ich sofort für die<br />
Nachmittagskonzerte hingefahren, um 18:00 Uhr<br />
haben mich meine Eltern für die Abschlussfeier<br />
in Zürich abgeholt, anschliessend haben sie mich<br />
wieder nach Frauenfeld gefahren. Am Freitag bin<br />
ich kurz nach Hause, um mich für die Abschlussfeier<br />
am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) frisch zu<br />
machen, danach bin ich wieder ans Openair. Sido<br />
war der Hammer!»<br />
23
DAS GEBÜNDELTE WISSEN<br />
Die Wirbelsäule<br />
Schauen wir sie uns an, Columna vertebralis, die<br />
Wirbelsäule. Einerseits ist sie das tragende Konstruktionselement<br />
aller Wirbeltiere; ohne sie fielen<br />
wir zusammen wie ein leerer Kartoffelsack. Andererseits<br />
umhüllt und schützt sie unser Rückenmark,<br />
diese Datenautobahn, die den Informationsfluss<br />
zwischen Gehirn und Peripherie sicherstellt. Die<br />
Wirbelsäule ist für unseren Bewegungsapparat also<br />
ebenso zentral wie für unser Nervensystem. Ist es<br />
da erstaunlich, dass bei ihrer Behandlung Orthopädinnen<br />
und Orthopäden, Neurochirurginnen<br />
und -chirurgen zusammenspannen? Die generelle<br />
Antwort: ja. Im <strong>KSSG</strong> indessen: nein.<br />
Spitzenmedizin für Alle<br />
Im OP 9, dem Flaggschiff aller Operationssäle im<br />
<strong>KSSG</strong>, läuft ein Eingriff, der nur in wenigen Schweizer<br />
Spitälern durchgeführt werden kann. Um 7:45 Uhr<br />
haben die Vorbereitungen begonnen, insgesamt sind<br />
acht Stunden angesetzt. Die Patientin: ein 16-jähriges<br />
Mädchen, das mit einem offenen Rücken geboren<br />
und bereits als Baby operiert wurde, das aber aufgrund<br />
ihrer Paraplegie während des Wachstums eine<br />
neuromuskuläre Verkrümmung (Skoliose) der Wirbelsäule<br />
entwickelt hat – so schwer, dass es seinen<br />
Oberkörper nur noch durch Abstützen aufrechthalten<br />
konnte. Doch wie eingeschränkt ist eine Paraplegikerin, die nun auch<br />
ihre Hände nicht mehr frei benutzen kann? Ziel der Operation ist es,<br />
die Wirbelsäule so zu korrigieren, dass das Mädchen seine weitgehende<br />
Selbständigkeit zurückerlangt.<br />
Um 9:45 Uhr ist es so weit: Eine Fachärztin für Neurochirurgie mit<br />
Spezialisierung auf spinale Fehlbildungen bei Kindern setzt mit dem<br />
Skalpell zum 50 Zentimeter langen Schnitt entlang der Wirbelsäule<br />
an. Anschliessend trennt sie die Muskulatur vom Knochen und legt<br />
so die Wirbelsäule frei. Nun kommt der heikle Part: Sie öffnet den<br />
Duralschlauch, der das Rückenmark umhüllt, und macht sich auf die<br />
Suche nach der Stelle des Rückenmarks, an der dieses durchschnitten<br />
werden kann, weil keine Nerven mehr aktiv sind. Um 10:35 Uhr erfolgt<br />
der Schnitt. Anschliessend schliesst die Ärztin den Duralschlauch<br />
und überlässt das Kommando am Operationstisch ihrem Gegenüber,<br />
dem Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des<br />
Bewegungsapparats.<br />
Schwerstarbeit mit Fingerspitzengefühl<br />
Die Aufgabe des Facharztes für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie<br />
des Bewegungsapparats ist es, die Wirbelsäule orthopädisch<br />
zu begradigen und zu stabilisieren; deshalb die vorgängige Durchtrennung<br />
des Rückenmarks: Ohne sie hätte die Begradigung zu viel<br />
Zug auf das Rückenmark ausgelöst, was die Paraplegie hätte körperaufwärts<br />
treiben können. 20 Schrauben und zwei Verbindungsstäbe<br />
auf den beiden Seiten der Wirbelsäule setzt der Arzt ein. Zudem muss<br />
er Gelenke aufmeisseln und Bänder durchtrennen, um die notwendige<br />
Flexibilität für die Begradigung zu erreichen. Schwerstarbeit mit<br />
Fingerspitzengefühl. Nach vier Stunden ist der Einsatz des Orthopäden<br />
beendet.<br />
Wer sich am Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum behandeln lässt, ist<br />
in guten Händen. Nicht in zwei oder vier, sondern in Dutzenden von<br />
guten Händen. Denn hier arbeiten hochspezialisierte Medizinerinnen<br />
und Mediziner, Pflegefachkräfte und Physician Assistants aus<br />
unterschiedlichen Disziplinen Hand in Hand – mit dem grösstmöglichen<br />
Nutzen für Patientinnen und Patienten.<br />
Konservative Behandlungen der Wirbelsäule werden bevorzugt. Doch wenn es zur Operation kommt, arbeiten Orthopädinnen und<br />
Orthopäden mit Neurochirurginnen und -chirurgen Hand in Hand.<br />
Das Besondere dieses Ortes ist unscheinbar. Wer<br />
sich in Spitälern auskennt, wird vielleicht das<br />
Fehlen des Bettbügels über den Patientenbetten<br />
bemerken. Aber sonst? Alles normal auf der Bettenstation<br />
im Haus 03, 6. Stock. Und doch ist dieser<br />
Ort ein medizinisches Powerzentrum, ein Kumulationspunkt<br />
geballten Wissens. Willkommen im<br />
Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum (OSWZ) des<br />
Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>).<br />
Der eine landet hier wegen eines Bandscheibenvorfalls, die andere<br />
wegen eines Wirbelsäulentumors oder eines Traumas nach einem<br />
Töffunfall. Der eine ist alt, die andere jung. Was sie eint, ist eine<br />
lädierte Wirbelsäule. Das ist auch der Grund für den fehlenden Bettbügel,<br />
weil das selbständige Aufrichten durch Zugkraft keine gute<br />
Idee für Patientinnen und Patienten ist, die ein Problem mit der Wirbelsäule<br />
haben.<br />
24
Ein Zentrum, doppelte Expertise<br />
Solche hochkomplexen Eingriffe sind selbst im<br />
OSWZ nicht alltäglich. Sie zeigen jedoch, wie viel<br />
interdisziplinäre Kompetenz hier gebündelt wird.<br />
Während in vielen Schweizer Spitälern Erkrankungen<br />
oder Traumata der Wirbelsäule entweder<br />
orthopädisch oder neurochirurgisch behandelt<br />
werden, arbeiten hier beide medizinischen Fachgebiete<br />
Hand in Hand. Damit reagieren Zentren wie<br />
das OSWZ patientenorientiert auf die zunehmende<br />
Spezialisierung in der Medizin. Im OSWZ wird das<br />
auf verschiedene Fachgebiete verteilte Wissen und<br />
Können zum Wohl der Patientinnen und Patienten<br />
zusammengeführt.<br />
Von dieser umfassenden Expertise profitieren nicht<br />
nur Schwerkranke oder -verunfallte, sondern auch<br />
Patientinnen und Patienten mit einem einfachen<br />
Bandscheibenvorfall oder einer Einengung des Wirbelkanals<br />
(Spinalkanalstenose). Dabei wird, wann<br />
immer möglich, eine konservative Behandlung ohne<br />
Operation angestrebt. Scheint ein chirurgischer Eingriff<br />
die beste Wahl, wird jeder Fall in einer Indikationskonferenz<br />
mit elf Fach- und Assistenzärztinnen<br />
und -ärzten sowie Klinischen Fachspezialistinnen<br />
und -spezialisten (Physican Assistants) diskutiert.<br />
Erstmeinung? Zweitmeinung? Multimeinung!<br />
Bei einer Operation selbst kommen möglichst schonende,<br />
minimalinvasive Techniken wie die Wirbelsäulenendoskopie<br />
und neuste Technologien wie die<br />
Neuronavigation zum Einsatz; ein weiterer Patientennutzen,<br />
den nur ein interdisziplinäres Zentrum<br />
mit entsprechend hohen Fallzahlen bieten kann.<br />
Eine spezialisierte Bettenstation<br />
Die 16-jährige Jugendliche konnte mittlerweile auf die Bettenstation<br />
verlegt werden. Vor der Gründung des OSWZ wäre sie entweder noch<br />
auf der Station der Neurochirurgie oder Orthopädie gelandet, jetzt liegt<br />
sie auf Station 03.06, wo 28 Betten den Patientinnen und Patienten des<br />
Wirbelsäulenzentrums vorbehalten sind. Warum eine spezialisierte<br />
Station Sinn ergibt, erklärt die Stationsleiterin: «Unsere Patientinnen<br />
und Patienten sind äusserst verletzlich und profitieren von unseren<br />
massgeschneiderten Pflegestandards und unserem spezialisierten<br />
Fachwissen.» Beispielsweise benötigen stationär behandelte Personen<br />
des Wirbelsäulenzentrums mehr Mobilisations- und Lagerungshilfen.<br />
Auch das Vorbeugen potenziell gefährlicher postoperativer Komplikationen<br />
– wie ein Darmverschluss – ist wichtig, beispielsweise durch<br />
einen behutsamen Kostaufbau. Die Betreuung der Patientinnen und<br />
Patienten stellen zudem zwei speziell ausgebildete Physician Assistants<br />
sicher.<br />
Besonders stolz ist man im OSWZ auf die kontinuierliche Erfassung<br />
und Überprüfung der Behandlungsqualität, die auch Grundlage für<br />
wissenschaftliche Analysen bietet. Im Gegensatz zu vielen Privatkliniken<br />
ist das OSWZ ein Aus- und Weiterbildungsbetrieb mit eigener<br />
Forschungstätigkeit. Wissen wird hier bereitwillig zum Wohle aller<br />
geteilt.<br />
Acht Tage nach der Operation kann die Jugendliche<br />
von ihren Eltern abgeholt werden. Es war ein<br />
grosser, aber lohnender Eingriff: Die 16-Jährige<br />
sitzt heute wieder aufrecht im Rollstuhl und kann<br />
sich frei bewegen. Und sie hat noch fast ihr ganzes<br />
Leben vor sich.<br />
Das Ostschweizer Wirbelsäulenzentrum<br />
Das Kantonsspital St.Gallen führt diverse interdisziplinäre<br />
Zentren, in denen fachübergreifendes<br />
medizinisches Knowhow thematisch gebündelt<br />
wird. Ein gutes Beispiel ist das OSWZ, das im Juli<br />
2021 eröffnet wurde. Als eines der wenigen Spitäler<br />
der Schweiz bietet es das gesamte Spektrum der<br />
Wirbelsäulenmedizin an – von einfach bis hochkomplex:<br />
Degeneration, Trauma, Tumor, Deformität und<br />
Infektion. Alle Patientinnen und Patienten profitieren<br />
dabei von der gebündelten Expertise aus Orthopädie<br />
und Neurochirurgie. Das OSWZ ist von der Schweizer<br />
Gesellschaft für Neurochirurgie sowie von Swiss<br />
Orthopaedics als Weiterbildungsstätte für den Interdisziplinären<br />
Schwerpunkt Wirbelsäulenchirurgie<br />
zertifiziert und hat bereits die Zertifizierung als AO<br />
Spine Center erhalten. Die Zertifizierung als Eurospine<br />
Surgical Spine Center of Excellence ist bereits weit<br />
fortgeschritten. Mit dem Erhalt der Zertifizierung darf<br />
gegen Anfang des Jahres 2023 gerechnet werden.<br />
i<br />
Erstmeinung? Zweitmeinung? Multimeinung! Im<br />
Ostschweizer Wirbelsäulen zentrum wird jeder Einzelfall<br />
im Plenum diskutiert. Das garantiert eine gründliche<br />
Indikationsstellung und bestmögliche Therapie.<br />
Weitere interdisziplinäre Zentren des <strong>KSSG</strong>:<br />
Comprehensive Cancer Centre<br />
Gynäkologisches Krebszentrum<br />
Interdisziplinäres Beckenbodenzentrum<br />
Interdisziplinäres Wundzentrum<br />
Lungenzentrum<br />
Notfallzentrum (NFZ)<br />
Ostschweizer Adipositaszentrum<br />
Ostschweizer Gefässzentrum<br />
Ostschweizer Perinatalzentrum<br />
Ostschweizer Zentrum für Bewegungsstörungen<br />
Ostschweizer Zentrum für seltene Krankheiten<br />
Schlaganfallzentrum (Stroke Center)<br />
Schmerzzentrum<br />
Sportmedizinisches Zentrum<br />
Varizenzentrum<br />
Zentrum für Schlafmedizin<br />
26<br />
27
Ambi Rorschach<br />
Spital Wil<br />
Kantonsspital St.Gallen<br />
DAS KANTONSSPITAL ST.GALLEN −<br />
EIN STARKER PARTNER<br />
Ambi Flawil<br />
Spital Altstätten<br />
Das Kantonsspital St.Gallen agiert als Zentrumsspital<br />
auf universitärem Niveau und zeigt sich damit als starker<br />
medizinischer Partner in der Ostschweiz.<br />
Zusammen mit den Spitälern Grabs, Linth, Wil und Altstätten<br />
stellt das Kantonsspital St.Gallen die akutsomatische<br />
Grundversorgung der St.Galler Bevölkerung und<br />
der angrenzenden Regionen sicher. Das Ambi Rorschach<br />
und das Ambi Flawil ergänzen das medizinische Angebot<br />
in den Bereichen Diagnostik und Therapie. Die Spitalstandorte<br />
arbeiten gemeinsam und vernetzt, um optimale<br />
medizinische Behandlungen in vertrauter Nähe zu<br />
bieten. Die Koordination integrativer Behandlungskonzepte<br />
ist somit über mehrere Standorte gewährleistet.<br />
Das Kantonsspital St.Gallen nimmt bei schweren und<br />
komplexen Behandlungen seine Rolle als überregionaler<br />
Maximalversorger wahr. Dank Innovation und Forschung<br />
ist das Kantonsspital St.Gallen stets am Puls der Zeit<br />
und zeichnet sich durch ein Leistungsangebot auf universitärem<br />
Niveau aus.<br />
Spital Linth<br />
Spital Grabs<br />
28<br />
29
SEIT 150 JAHREN IM DIENST<br />
DER BEVÖLKERUNG<br />
Das sagen Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsbranche<br />
und der Politik über das Kantonsspital<br />
St.Gallen:<br />
DR. PASCAL MÜLLER<br />
Chefarzt Adoleszentenmedizin und Pädiatrische<br />
Psychosomatik, Ostschweizer Kinderspital (OKS)<br />
«Das Kantonsspital St.Gallen, unser Zentrumsspital<br />
für Erwachsenenmedizin der Ostschweiz,<br />
blickt auf seine 150-jährige Geschichte zurück – vor<br />
114 Jahren wurde der Grundstein des Ostschweizer<br />
Kinderspitals gelegt. Im Lauf der Jahrzehnte sind<br />
diese beiden Zentrumsspitäler zusammengerückt;<br />
einerseits, um die Kontinuität der Behandlung und<br />
Betreuung vom Kindes- ins Erwachsenenalter möglichst<br />
nahtlos zu gestalten, andererseits, um in der<br />
zunehmend spezialisierten Medizin gegenseitig<br />
von Knowhow zu profitieren. Mit dem Umzug des<br />
OKS auf den Campus des <strong>KSSG</strong> ab 2026 wird diese<br />
Zusammenarbeit noch intensiver. Wir gratulieren<br />
dem <strong>KSSG</strong> und all seinen Mitarbeitenden zum<br />
Jubiläum!»<br />
BRUNO DAMANN<br />
Vorsteher des Gesundheitsdepartements Kanton St.Gallen<br />
«Seit 150 Jahren stellt sich das Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) in den Dienst der St.Galler<br />
Bevölkerung. Es hat sich in dieser Zeit zu einem der grössten Spitäler der Schweiz mit einem<br />
umfassenden medizinischen Angebot entwickelt und ist aus der Gesundheitsversorgung<br />
der Ostschweiz nicht mehr wegzudenken. Ein grosser Dank geht in diesem Zusammenhang<br />
an die Spitalmitarbeitenden für ihren Einsatz rund um die Uhr. Ich gratuliere dem Kantonsspital<br />
St.Gallen zu seinem Jubiläum und wünsche ihm weiterhin viel Erfolg!»<br />
MARIA PAPPA<br />
Stadtpräsidentin der Stadt St.Gallen<br />
«Sobald man selbst oder Angehörige krank sind, wird einem bewusst,<br />
wie wichtig ein nahes und gutes Gesundheitsangebot ist. Mit dem Kantonsspital<br />
St.Gallen verfügt die Region seit nunmehr 150 Jahren über<br />
eine umfassende und kompetente Gesundheitsversorgung. Das <strong>KSSG</strong><br />
leistet unverzichtbare Dienste für uns alle, auch in Sachen Ausbildung<br />
und Forschung. Dies soll auch künftig so bleiben. Das Netzwerk St.Gallen<br />
Health, in dem auch das <strong>KSSG</strong> aktiv ist, bringt Wirtschaft, Forschung<br />
und Bildung zusammen und macht Kompetenzen sowie Synergien<br />
sichtbar.»<br />
KATRIN MEIER<br />
Verwaltungsratspräsidentin der Geriatrischen<br />
Klinik St.Gallen AG<br />
«Seit seiner Gründung sind das Kantonsspital<br />
St.Gallen und die Geriatrische Klinik, damals noch<br />
das Bürgerspital, eng miteinander verbunden.<br />
Heute wird angefangen bei der direkten Übernahme<br />
von Patientinnen und Patienten aus der<br />
Notfallaufnahme bis hin zu zahlreichen Fahrten<br />
im Tunnel unter der Rorschacher Strasse hindurch<br />
täglich Hand in Hand gearbeitet. Als preferred<br />
partner schätzen wir auf allen Ebenen die ebenso<br />
professionelle wie konstruktive Zusammenarbeit<br />
zugunsten unserer Patientinnen und Patienten –<br />
und wir wünschen zum Jubiläum weitere erfolgreiche<br />
150 Jahre.»<br />
PROF. DR. ALEX DOMMANN<br />
Departementsleiter «Materials meet Life», Empa<br />
«Die Empa, die in St.Gallen 1885 als Kontrollstelle für Baumwollgarne<br />
gegründet wurde, dankt dem Kantonsspital St.Gallen für die wertvolle<br />
Zusammenarbeit. Im Bereich der Knochenbiopsie reicht diese bis ins<br />
Jahr 2002 zurück, und seit 2015 haben wir rund 40 gemeinsame Projekte<br />
durchgeführt. Das <strong>KSSG</strong> ist einer unserer wichtigsten Partner und zusammen<br />
mit der Universität St.Gallen (HSG) ein Pfeiler des Innovationsparks<br />
in der Ostschweiz. Wir alle freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit<br />
und gratulieren dem Kantonsspital St.Gallen zu seinen Erfolgen und<br />
zum Jubiläum!»<br />
DR. DIEGO DE LORENZI<br />
Chefarzt Chirurgie, Geschäftsleitungsmitglied und Leiter Departement<br />
Allgemein- und Viszeral chirurgie der Spitalregion Rheintal<br />
Werden berg Sarganserland (SR RWS)<br />
«Das Kantonsspital St.Gallen ist ein unverzichtbarer Teil der Gesundheitsversorgung<br />
für die Ostschweizer Bevölkerung. Das breite Angebot<br />
ermöglicht eine umfassende Abklärung, Behandlung und Betreuung<br />
der Patientinnen und Patienten. Die enge Zusammenarbeit, die kurzen<br />
Wege und der fachliche Austausch mit dem Kantonsspital St.Gallen<br />
bieten den Vorteil, gemeinsame Standards und Prozesse zu entwickeln,<br />
was nicht zuletzt die medizinische Qualität in den kantonalen Spitälern<br />
weiter stärkt. Wir freuen uns, mit dem Kantonsspital St.Gallen ein starkes<br />
Zentrumsspital in unseren Reihen zu wissen, und gratulieren herzlich<br />
zum 150-jährigen Jubiläum.»<br />
DR. TILL HORNUNG<br />
CEO der Kliniken Valens<br />
«Das Kantonsspital St.Gallen war bereits an die<br />
100 Jahre alt, als die Rehaklinik Valens 1970 ihre<br />
Pforten öffnete. Inzwischen ist unser Unternehmen<br />
zu einer Rehaklinikgruppe herangewachsen – doch<br />
eines ist gleich geblieben: die enge und partnerschaftliche<br />
Zusammenarbeit mit dem <strong>KSSG</strong>, einem<br />
unserer wichtigsten zuweisenden Spitäler. Wir sind<br />
froh, auf das <strong>KSSG</strong> zählen zu dürfen, das auch nach<br />
150 Jahren eine feste Grösse in der Spitallandschaft<br />
ist und damals wie heute moderne Spitzenmedizin<br />
betreibt.»<br />
30<br />
31
ZEITRAFFER –<br />
150 JAHRE IM SCHNELLDURCHLAUF<br />
Seit 1873 ist das Kantonsspital St.Gallen eine feste Grösse<br />
in der Schweizer Spitallandschaft. Hier sind die wichtigsten<br />
Meilensteine der Unternehmensgeschichte:<br />
33
1873 // Gründervater<br />
Nach langem politischen Ringen und<br />
dank des unermüdlichen Einsatzes<br />
von Pionieren wie Dr. Jakob Laurenz<br />
Sonderegger wird aus dem kleinen<br />
Gemeindespital das stattliche Kantonsspital<br />
St.Gallen (<strong>KSSG</strong>).<br />
1881 // Soziale Pioniertat<br />
«Armengenössige» und «Bedürftige»<br />
müssen nur die Hälfte der normalen<br />
Tagestaxe bezahlen, genauer gesagt:<br />
einen Franken. Für die Ärmsten wird ein<br />
Freibettenfonds aus privaten Spenden<br />
eingerichtet. Dieser Fonds wird erst mit<br />
dem Inkrafttreten des neuen Krankenversicherungsgesetzes<br />
(KVG) 1996 aufgehoben.<br />
1873<br />
1888 // Vorläufer der Frauenklinik<br />
Die St.Galler «Entbindungsanstalt»<br />
kommt auf das Areal des Kantonsspitals.<br />
Darin sind 28 Betten sowie Unterrichtsräume<br />
für Hebammenschülerinnen<br />
untergebracht. Administrativ bleiben<br />
die «Entbindungsanstalt» und das Spital<br />
noch bis 1941 teilweise getrennt.<br />
1890 // Prosektur<br />
Das Kantonsspital erhält als erstes<br />
nichtuniversitäres Spital eine Prosektur,<br />
wo Leichen seziert und auf ihre Todesursache<br />
hin untersucht werden. Damit<br />
werden wichtige Grundlagen für die wissenschaftliche<br />
Forschung geschaffen.<br />
1914 – 1918 // Selbstversorgung<br />
im Krieg<br />
Während des Ersten Weltkriegs leidet<br />
die Schweiz unter Rohstoffmangel. Das<br />
<strong>KSSG</strong> hat gut vorgesorgt und grosse<br />
Reserven an Nahrungsmitteln, Kohle<br />
und Verbandsstoff gebunkert. Zudem<br />
bewirtschaftet das Kantonsspital eigene<br />
Gärten und einen Rebberg im Rheintal.<br />
1918 // «Spanische Grippe»<br />
Die «Spanische Grippe» greift um sich:<br />
Am Kantonsspital werden 1279 Infizierte<br />
behandelt, 130 Patientinnen und Patienten<br />
sterben.<br />
1921 // Pflege für Gotteslohn<br />
Ordensschwestern aus Ingenbohl prägen<br />
die Pflege am Kantonsspital. Ihr<br />
Einsatz gilt als Gottesdienst und wird<br />
nur minimal entschädigt. Deshalb wird<br />
auch ziviles Personal nur spärlich entlöhnt.<br />
Es bilden sich erste hierarchische<br />
Führungsmodelle mit Oberschwestern<br />
heraus.<br />
1939 – 1945 // Männer in den<br />
Aktivdienst<br />
Das <strong>KSSG</strong> bildet während des Zweiten<br />
Weltkriegs Pflegerinnen für Militär- und<br />
Zivilspitäler aus. Zudem lichten sich die<br />
eigenen Reihen, da die meisten männlichen<br />
Angestellten in den Aktivdienst<br />
müssen. Einige absolvieren diesen in<br />
der Luftschutztruppe des <strong>KSSG</strong> (Bild).<br />
Immerhin werden die Chefärzte vom<br />
Militärdienst befreit.<br />
1945 // Die eigene Apotheke<br />
Das Spital eröffnet seine eigene Apotheke,<br />
die ein Jahr später zur Kantonsapotheke<br />
erhoben wird.<br />
1948 // Anästhesie gewinnt an<br />
Bedeutung<br />
Dank neuer Narkoseverfahren aus<br />
England und Skandinavien sowie der<br />
Blutspendenorganisation werden lange,<br />
komplexe Operationen möglich. Chefchirurg<br />
Dr. Josef Oberholzer setzt sich<br />
als Erster in der Schweiz dafür ein, die<br />
Anästhesie als eigenständiges Fachgebiet<br />
anzuerkennen. 1960 wird Dr. Franz<br />
Kern zum ersten Chefarzt für Anästhesiologie<br />
am <strong>KSSG</strong> gewählt.<br />
1958 // Kampf gegen Polio<br />
1958 wütet die Kinderlähmung ein<br />
letztes Mal: Bevor sich Ende der 1950er-<br />
Jahre ein Impfstoff verbreitet, übernehmen<br />
Respiratoren im Notfall die künstliche<br />
Beatmung. Erkrankte Kinder dürfen<br />
die «eisernen Lungen», wie die Kapseln<br />
im Volksmund heissen, oft monatelang<br />
nicht verlassen.<br />
1961 // Pioniertat in der<br />
orthopädischen Chirurgie<br />
(Seiten 4 – 5)<br />
1969 // Erste Nierentransplan<br />
tation<br />
Am <strong>KSSG</strong> wird erstmals eine Niere unter<br />
der Leitung von Dr. Danko Sege transplantiert.<br />
Weltweit erfolgen derartige<br />
Transplantationen erst ab 1980 standardmässig.<br />
1970 // Hygienevorbild für Europa<br />
Die «ultrasterile Operationsbox» geht<br />
in Betrieb. Das Operationsteam ist von<br />
den Anästhesistinnen und Anästhesisten<br />
durch eine Trennwand isoliert, trägt<br />
Visierhelme und die bakterienreiche<br />
Atemluft des Patienten oder der Patientin<br />
wird über ein<br />
Schlauchsystem<br />
ins Freie geleitet.<br />
1978 // Freie Menüwahl<br />
Patientinnen und Patienten<br />
können neuerdings aus mehreren<br />
Menüs auswählen. Die<br />
Reorganisation der Essensverteilung<br />
hat die Prozesse<br />
im Spital wesentlich verändert.<br />
1979 // Interdisziplinäre<br />
Notfallstation<br />
Die «Zentrale Notfallstation» am <strong>KSSG</strong><br />
ist die erste interdisziplinäre Notfallstation<br />
der Schweiz. St.Galler Ärztinnen<br />
und Ärzte haben das Konzept der<br />
Emergency Station bei Weiterbildungen<br />
in den USA kennengelernt.<br />
1984 // Die Schwestern treten ab<br />
Aufgrund von Nachwuchsmangel müssen<br />
die Ingenbohler Schwestern ihren<br />
Pflegedienst am <strong>KSSG</strong> nach über 100<br />
Jahren aufgeben.<br />
1890<br />
1945 1978 1994<br />
1888 1921 1958 1972<br />
1988 1995<br />
1972 // Das neue<br />
Wahrzeichen<br />
Das Wahrzeichen des<br />
Kantonsspitals wächst<br />
in die Höhe und thront<br />
mit seinen rund 78 Metern über der<br />
Stadt: das Haus 04. Das Logo auf der<br />
Nord- und Südseite wird erst 17 Jahre<br />
später montiert.<br />
1973 // Der Hort lockt<br />
Wer im Spital arbeitet, kann seine Kinder<br />
in der neuen, spitaleigenen Kindertagesstätte<br />
betreuen lassen – ein fortschrittliches<br />
Angebot, das sich positiv auf die<br />
Rekrutierung von Frauen auswirkt.<br />
1988 // Nierensteinzertrümmerer<br />
Nierensteine mit Ultraschall zertrümmern<br />
– diese neuartige Methode ist<br />
aus finanziellen Gründen vorerst den<br />
Universitätsspitälern vorbehalten. Auf<br />
Initiative des <strong>KSSG</strong> schafft man zusammen<br />
mit den Spitälern Luzern, Aarau,<br />
Frauenfeld und Feldkirch einen mobilen<br />
Zertrümmerer an. Jeden Dienstag zertrümmert<br />
er in St.Gallen.<br />
1988 // Low-Vision-Abteilung<br />
(Seiten 20 – 21)<br />
1994 // Paradigmenwechsel im<br />
Rettungsdienst<br />
Um lebenswichtige Körperfunktionen<br />
schon am Notfallort und während des<br />
Transports aufrechtzuerhalten, wird<br />
der Rettungsdienst unter der Führung<br />
des <strong>KSSG</strong> professionalisiert und ausgebaut.<br />
Zuvor hatte die Stadtpolizei den<br />
Auftrag, Patientinnen und Patienten<br />
schnellstmöglich ins Spital zu transportieren.<br />
1995 // Globalkreditsystem<br />
Das Globalkreditsystem verwandelt das<br />
<strong>KSSG</strong> von einer kantonalen Dienststelle<br />
in ein selbstständig öffentlich-rechtliches<br />
Unternehmen. Das Parlament<br />
spricht dem Spital einen jährlichen<br />
Kredit zu, mit dem es selber haushalten<br />
muss. Das visionäre System hält später<br />
Einzug in zahlreiche Schweizer Spitäler.<br />
1995 // Nein zur Herzchirurgie<br />
Das St.Galler Stimmvolk lehnt eine Herzchirurgie<br />
im eigenen Kantonsspital ab<br />
– die Kampagne privater Konkurrenzkliniken<br />
war erfolgreich. Für Operationen<br />
am offenen Herzen werden Betroffene<br />
weiterhin in ausserkantonale Spitäler<br />
geschickt – ein herber Rückschlag für<br />
das <strong>KSSG</strong>.<br />
Bild: Staatsarchiv St.Gallen
1995 // Früher Internetauftritt<br />
In einer Zeit, in der nur Universitäten<br />
am Internet hängen und viele Menschen<br />
zweifeln, ob sich diese neuartige Technologie<br />
durchsetzen wird, nimmt das<br />
<strong>KSSG</strong> als erstes Spital in der Schweiz<br />
seine Website in Betrieb.<br />
1996 // Neues Kranken -<br />
v ersicherungsgesetz (KVG)<br />
Das neue KVG hat bedeutsame<br />
Auswirkungen:<br />
• Obligatorische Grundversicherung<br />
für alle<br />
• Keine Privathonorare für ambulante<br />
Patientinnen und Patienten<br />
• Wettbewerb unter den<br />
Krankenversicherern<br />
• Pflicht zur kantonalen<br />
Krankenhausplanung<br />
2002 // Quadriga<br />
Als Fortführung des Globalkreditsystems<br />
wird das System Quadriga eingeführt.<br />
Die neun Akutspitäler werden in<br />
vier selbständige Spitalverbunde mit<br />
Globalkredit zusammengefasst, um<br />
Synergien zu nutzen: St.Gallen-Rorschach,<br />
Altstätten-Grabs-Walenstadt,<br />
Uznach und Wattwil-Flawil-Wil.<br />
2004 // TARMED<br />
Der nationale Tarifplan TARMED listet<br />
die Preise von über 4’500 ambulanten<br />
Leistungen auf, die im ganzen Land<br />
gelten, jedoch mit unterschiedlichen<br />
kantonalen Taxpunkten.<br />
2009 // Siegreiche Logistik<br />
Das Logistikteam des <strong>KSSG</strong> gewinnt den<br />
Swiss Logistics Award – es ist das erste<br />
Mal, dass ein Spital diese Auszeichnung<br />
erhält.<br />
2009 // Ausbau der Forschung<br />
Die Forschungsabteilung wird zu einer<br />
Clinical Trials Unit (CTU) zur Beantwortung<br />
komplexer klinischer Forschungsfragen<br />
ausgebaut. Lediglich sechs<br />
Schweizer Spitäler haben ein CTU – das<br />
<strong>KSSG</strong> ist das einzige nichtuniversitäre.<br />
1996 2002<br />
2000 2006 2009<br />
2010<br />
1990/2000 // Innovative Struktur<br />
Das Departement für Innere Medizin<br />
wird neu strukturiert. Dabei ist insbesondere<br />
das klinikübergreifende Bettenmanagement<br />
überarbeitet worden.<br />
Die auf Interdisziplinarität ausgelegte<br />
Neustrukturierung ist schweizweit innovativ.<br />
In diesem Zusammenhang wird<br />
die Gastroenterologin Prof. Dr. Christa<br />
Meyenberger zur Chefärztin befördert –<br />
zur ersten Chefärztin in der Geschichte<br />
des Kantonsspitals.<br />
2001 // Pflegepersonal fordert<br />
mehr Lohn<br />
Das St.Galler Pflegepersonal fordert<br />
eine Lohnerhöhung um zwei Stufen,<br />
der Kanton bewilligt jedoch nur eine.<br />
Zehn Jahre und einen Bundesgerichtsprozess<br />
später bekommt das Spitalpersonal<br />
Recht – und 24 Millionen Franken<br />
Nachzahlungen.<br />
2006 // Quadriga 2<br />
Das Regionalspital Flawil wechselt in<br />
den Verbund St.Gallen-Rorschach, der<br />
sich nun Kantonsspital St.Gallen nennt.<br />
Die St.Galler Regierung nimmt wieder<br />
Einsitz in den Verwaltungsräten der<br />
Spitalverbunde.<br />
2009 // Gemeinsamer<br />
Notfallbetrieb<br />
Das Spital betreibt den Notfall in den<br />
erweiterten Räumlichkeiten der Zentralen<br />
Notfallstation des <strong>KSSG</strong> gemeinsam<br />
mit freipraktizierenden Ärztinnen und<br />
Ärzten.<br />
2010 // Neuer CEO<br />
Daniel Germann, der seit 2006 Hans<br />
Leuenbergers Stellvertreter war, wird<br />
neuer CEO. Bis zu seiner Pensionierung<br />
2022 fördert Daniel Germann als CEO<br />
die Weiterentwicklung des <strong>KSSG</strong>.<br />
2011 // Operationsroboter<br />
Die computerunterstützte Chirurgie mit<br />
Operationsrobotern wird immer wichtiger,<br />
am <strong>KSSG</strong> kommt der vierarmige<br />
Roboter Da Vinci etwa in der Urologie<br />
zum Einsatz. Er ermöglicht minimalinvasive<br />
Operationen mit höchster<br />
Präzision.<br />
2012 // SwissDRG<br />
Stationäre Leistungsangebote der<br />
Schweizer Spitäler werden neuerdings<br />
über Fallpauschalen entschädigt<br />
(SwissDRG), und es besteht freie Spitalwahl.<br />
Das verstärkt den Wettbewerb<br />
zwischen den Spitälern.<br />
2016 // Die Baumaschinen tanzen<br />
Nachdem das St.Galler Stimmvolk<br />
einen 930-Millionen-Franken-Kredit für<br />
neue Spitalbauten im Kanton bewilligt,<br />
fallen in den folgenden Jahrzehnten<br />
Um- und Neubauten im Umfang<br />
von 400 Millionen Franken an. In den<br />
nächsten elf Jahren wird das <strong>KSSG</strong><br />
eine umfassende bauliche Erweiterung<br />
und Erneuerung erfahren, zudem entsteht<br />
auf dem <strong>KSSG</strong>-Areal der Neubau<br />
des Ostschweizer Kinderspitals.<br />
2020 // Coronapandemie<br />
Eine junge Studentin mit leichtem<br />
Schnupfen steht im Fokus der Medien;<br />
sie ist der erste bestätigte Covid-19-Fall<br />
im Kanton St.Gallen. Das <strong>KSSG</strong> betreut<br />
sie zu Hause. Die Pandemie wird dem<br />
Spitalpersonal viel abverlangen.<br />
2012 2020 2021<br />
2017<br />
2017 // Immobilien übertragen<br />
Die Spitalimmobilien werden vom<br />
Kanton an die Spitalanlagegesellschaft<br />
Kantonsspital St.Gallen übertragen,<br />
die eine hundertprozentige Tochtergesellschaft<br />
des <strong>KSSG</strong> ist.<br />
2018 // Joint Medical Master<br />
Das Stimmvolk spricht sich deutlich für<br />
den Joint Medical Master in St.Gallen<br />
aus: ein Masterstudiengang in Medizin,<br />
um dem Mangel an ärztlichen Fachpersonen<br />
entgegenzuwirken. Dafür<br />
haben das <strong>KSSG</strong>, die Hochschule<br />
St.Gallen (HSG) und die Universität<br />
Zürich zusammengespannt.<br />
2021 // Laser gegen Tumor<br />
(Seiten 56 – 57)<br />
2021 // 4plus5: Schliessung der<br />
Regional spitäler<br />
Der Kanton konzentriert das stationäre<br />
Angebot in den Mehrspartenspitälern Grabs,<br />
St.Gallen, Uznach und Wil. Die Spitäler in<br />
Rorschach, Altstätten, Flawil und Wattwil<br />
werden geschlossen, an diesen Orten sollen<br />
ambulante Gesundheitszentren entstehen<br />
und das Spital Walenstadt an das Kantonsspital<br />
Graubünden verkauft werden. Die<br />
Strategie nennt sich 4plus5. Den Anfang<br />
macht das Spital Rorschach, bei dem die<br />
Türen der Notfallstation sowie der stationäre<br />
Teil des Spitals Rorschach seit Ende<br />
Januar geschlossen bleiben. Bis in einigen<br />
Jahren ein neues Gesundheitszentrum<br />
entstehen wird, führt das Kantonsspital<br />
St.Gallen sein ambulantes Angebot vor Ort<br />
unter dem Namen Ambi Rorschach weiter.<br />
In Flawil sieht es anders aus: Hier wird das<br />
Spital im Juni komplett geschlossen. Im<br />
Stadtzentrum von Flawil werden fortan<br />
ambulante Sprechstunden im Ambi Flawil<br />
angeboten.<br />
2023<br />
2022 // CEO-Wechsel<br />
Daniel Germann geht nach 12 Jahren als<br />
CEO in Pension. An seine Stelle tritt Stefan<br />
Lichtensteiger, der die Funktion per 1. Mai<br />
übernimmt.<br />
2023 // Das Ende einer Ära<br />
Das neue Herzstück des Kantonsspitals,<br />
das Haus 07A mit seinen fünfstöckigen<br />
Sockelbauten und dem Bettenhochhaus,<br />
wird fertiggestellt – das Bauprojekt «come<br />
together» schreitet auch im Jubiläumsjahr<br />
voran. Mit dem Abbruch des ursprünglichen<br />
Spitalgebäudes, des Hauses 01, endet am<br />
<strong>KSSG</strong> eine Ära – und es entsteht Platz für<br />
eine neue.
HERZENSANGELEGENHEIT<br />
Das Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung.<br />
Am Kantonsspital St.Gallen kämpft ein eingespieltes Team<br />
mit hochspezialisierter Software und handwerklicher Finesse<br />
gegen das «elektrische Gewitter» im Herz.<br />
Kurz nach 8:00 Uhr morgens liegt die erste Patientin<br />
narkotisiert im Herzkatheterlabor unter einem<br />
Abdecktuch. Das Team aus einem Anästhesisten,<br />
zwei Pflegefachpersonen und einem Softwaretechniker<br />
ist auch längst da. Eine angenehme Anspannung<br />
hängt in der Luft – wie vor einer Prüfung, auf die<br />
man sich minutiös vorbereitet hat und von der man<br />
weiss, dass man sie bestehen wird. Dann plötzlich<br />
steht Prof. Dr. Ammann in der Tür – schwarzgerahmte<br />
Brille, breites Lächeln, weisser Kittel, blaue<br />
Laufschuhe – und nickt seinen Mitarbeitenden zu.<br />
Es kann losgehen.<br />
In der Schweiz ist ein Prozent der Bevölkerung von<br />
Vorhofflimmern betroffen, der häufigsten aller<br />
Herzrhythmusstörungen. Dabei führen elektrische<br />
Kurzschlüsse in den Vorhöfen des Herzens dazu,<br />
dass sie und die Herzkammern nicht aufeinander<br />
abgestimmt pumpen. Dies hat einen unregelmässigen<br />
Puls und Kurzatmigkeit, manchmal auch<br />
Herzrasen oder einen Druck in der Brust zur Folge.<br />
In ebenso vielen Fällen ist Vorhofflimmern aber<br />
asymptomatisch und wird nur zufällig entdeckt.<br />
Unbehandelt kann es zur Herzinsuffizienz oder gar<br />
zum Hirnschlag führen. Doch es gibt einen effizienten<br />
Weg, das Vorhofflimmern zu behandeln: die<br />
Lungenvenenisolation.<br />
Blick aus dem Kontrollraum ins Herzkatheterlabor.<br />
Alle helfen mit<br />
Im Herzkatheterlabor wird schnell ersichtlich: Eine<br />
Lungenvenenisolation ist Teamwork. Die beiden<br />
Pflegefachpersonen legen dem Arzt die Instrumente<br />
bereit und nehmen sie ihm ab. Sie schälen lange,<br />
stählerne Nadeln und Katheter mit verschiedenen<br />
Aufsätzen aus ihren Plastikverpackungen und bereiten<br />
sie für den Eingriff vor.<br />
Jetzt stösst Prof. Dr. Ammann einen Katheter über<br />
ein venöses Blutgefäss in der Leiste der Patientin<br />
in deren rechten Herzvorhof und von da durch<br />
die Herzscheidewand in den linken Vorhof. Die<br />
Technik, einen Katheter bei pumpendem Herzen<br />
zu navigieren, hat der Professor seit über 20 Jahren<br />
perfektioniert – bei rund 150 Eingriffen im Jahr. Das<br />
sind Fallzahlen und Erfahrungswerte, die nur an<br />
einem spezialisierten Zentrumsspital möglich sind.<br />
Auch Ammanns Kolleginnen und Kollegen aus der<br />
Radiologie tragen zum Gelingen der Operation bei<br />
– Interdisziplinarität und Interprofessionalität sind<br />
wichtige Erfolgsfaktoren am Kantonsspital St.Gallen<br />
(<strong>KSSG</strong>). Die Radiologinnen und Radiologen haben<br />
das Herz der Patientin vorgängig mittels Magnetresonanztherapie<br />
(MRT/MRI) untersucht und detaillierte<br />
3D-Abbildungen beider Herzvorhöfe erstellt.<br />
Ergänzt um die elektrophysiologische Analyse, die<br />
Prof. Dr. Ammann mithilfe eines Diagnostikkatheters<br />
gerade erstellt, leuchten die 3D-Abbildungen<br />
der Herzvorhöfe jetzt neonfarbig auf dem Monitor,<br />
der über der Patientin von der Decke hängt. Knalliges<br />
Violett steht für den elektrisch gesunden Vorhof,<br />
während Flächen mit vernarbtem Vorhofgewebe<br />
und niedriger Spannung in leuchtendem Rot codiert<br />
werden. Dass nur kleine Flächen rot aufleuchten,<br />
zeigt, dass das Flimmern die Vorhöfe noch nicht<br />
allzu stark geschädigt hat. So weit, so gut.<br />
37<br />
39
Höchste Effizienz<br />
«Wir abladieren mit 50 Watt», sagt der Arzt jetzt<br />
– nicht zu sich selbst, sondern zu Omar Natour,<br />
der sich im Kontrollraum zwei Meter zu seiner<br />
Rechten hinter einer Glasscheibe und vor zwölf<br />
Monitoren eingerichtet hat. Der Softwaretechniker<br />
arbeitet für die Firma Biosense Webster, die Entwicklerin<br />
der Herzmapping-Software Carto3, mit<br />
der sich Katheter im Herzen ohne Durchleuchtung<br />
steuern lassen. «50 Watt, verstanden», klingt es aus<br />
dem Lautsprecher zurück. Dann ein dumpfes Rauschen,<br />
das zehn, sogar 20 Sekunden anhält. Der<br />
Arzt hat per Fusspedal die Ablation ausgelöst, also<br />
den Verödungsprozess, bei dem das Gewebe mittels<br />
Hochfrequenzenergie vernarbt und leitungsunfähig<br />
gemacht wird. Auf dem Bildschirm poppt an der<br />
virtuellen Katheterspitze ein Kreis auf, der sich mit<br />
roter Farbe füllt, bis Ammann den Fuss vom Pedal<br />
nimmt. Ein erster Ablationspunkt ist gesetzt, mit<br />
drei bis vier Millimetern Abstand folgt der nächste.<br />
So arbeitet sich der Arzt einmal rund um die Lungenvene<br />
vor, während Natour den visualisierten<br />
Vorhof nach Bedarf vergrössert, dreht oder Hilfslinien<br />
einzeichnet.<br />
«Mit der neusten Kathetertechnologie haben wir<br />
die reine Ablationszeit auf zehn Minuten gesenkt»,<br />
erklärt der Softwaretechniker in einer ruhigen<br />
Minute, «davor dauerte es dreimal so lang.» Möglich<br />
ist das dank immer leistungsstärkerer Katheter wie<br />
etwa dem QDot Micro, der auf einer 3,5 mm langen<br />
Spitze drei Mikroelektroden mit einer Ablationsfläche<br />
von je 0,086 mm 2 , einen Drucksensor, sechs<br />
Wärmesensoren und ein Kühlungssystem vereint.<br />
Bis zu 4’000 Franken kostet ein solcher Hightech-<br />
Katheter. Und dennoch: Dank ihrer hohen Effizienz<br />
lohnt sich die Investition in eine Lungenvenenisolation,<br />
auch weil dadurch lebenslange Behandlungen<br />
von Rhythmusstörungen mit Medikamenten häufig<br />
vermieden werden können.<br />
Prof. Dr. Peter Ammann, Leiter Rhythmologie<br />
Am Puls der Zeit<br />
Die minimalinvasive Methode gibt es seit den späten<br />
1990er-Jahren. Ein Kardiologe in Bordeaux identifizierte<br />
damals die Lungenvenen als Ausgangspunkt<br />
von Vorhofflimmern. Die mehrstündigen Eingriffe<br />
fanden allerdings unter ständiger Röntgenbestrahlung<br />
statt, was eine hohe Belastung für die Ärztinnen<br />
und Ärzte sowie die Patientinnen und Patienten<br />
darstellte.<br />
Als Prof. Dr. Ammann 2004 eine Vollzeitstelle am<br />
<strong>KSSG</strong> antrat, steckte die Rhythmologie, die sich<br />
mit Herzrhythmusstörungen befasst, hier noch<br />
in den Kinderschuhen. Heute gehört das <strong>KSSG</strong> zu<br />
den eifrigsten Nutzern des Carto3-Mapping-Systems<br />
und arbeitet auf dem medizinischen Niveau eines<br />
Universitätsspitals. Und die Zukunft ist vielversprechend:<br />
Gemeinsam mit den Universitätsspitälern<br />
Bern und Basel ist für nächstes Jahr eine Studie<br />
zur Pulsed Field Ablation geplant – einer wiederentdeckten<br />
Energiequelle in der Elektrophysiologie,<br />
mit der die Ablation noch schneller und sicherer<br />
sein soll. Das <strong>KSSG</strong> wird als «early adopter» somit<br />
zu den Erstanwendern gehören.<br />
Waagrecht ist gut<br />
Waagrechte Striche auf schwarzem Hintergrund<br />
– die weissen Graphen auf dem Bildschirm vor<br />
Prof. Dr. Ammann weisen keine Lungenvenensignale<br />
mehr auf. In der Rhythmologie bedeutet dies,<br />
dass die elektrischen Impulse in den Lungenvenen<br />
erfolgreich isoliert wurden und den Herzrhythmus<br />
nicht mehr stören können. Der Diagnostikkatheter<br />
misst bei der Nachkontrolle keine elektrische<br />
Spannung mehr – deshalb die waagrechte Linie<br />
auf dem Elektrogramm. Nach 80 Minuten ist der<br />
Eingriff beendet.<br />
«Bist du zufrieden, Omar?», spricht Prof. Dr.<br />
Ammann ins Mikrofon, die Konzentration ist einem<br />
Lächeln gewichen. «Wenn du zufrieden bist, Peter,<br />
dann bin ich das auch.» Am wichtigsten aber ist,<br />
dass die Patientin zufrieden ist. Nach ein paar Stunden<br />
Bettruhe wird sie das Spital schon am nächsten<br />
Tag gesund verlassen.<br />
Auch Dr. David Altmann ist spezialisiert auf Lungenvenenisolationen.<br />
Wie auch für Prof. Dr. Ammann und zwei<br />
weitere Kollegen im Fachbereich Rhythmologie<br />
sind Navigations-Software, Katheter und Monitor seine<br />
wichtigsten Instrumente dabei.
Für zwei Jahre verlässt Leuenberger die Ostschweiz,<br />
lebt in London und holt im Fernstudium die Maturität<br />
nach, bevor er in die Ostschweiz zurückkehrt,<br />
um an der renommierten Hochschule St.Gallen<br />
(HSG) Betriebswirtschaft zu studieren.<br />
Hier kommt er mit zahlreichen Management-Modellen<br />
in Berührung, doch ihn interessiert vor allem die<br />
Bedeutung der Unternehmenskultur als Faktor für<br />
eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Gegenseitige<br />
Wertschätzung soll ein positives Betriebsklima, die<br />
interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Leistung<br />
der Mitarbeitenden fördern. Dieser Ansatz ist<br />
in den 1970er-Jahren in der Schweizer Wirtschaft<br />
weitgehend unbekannt und bei der St.Galler Stadtverwaltung,<br />
deren erster Organisator Leuenberger<br />
im Jahr 1975 wird, sowieso.<br />
MR. KANTONSSPITAL<br />
Hans Leuenberger, der langjährige Geschäftsführer des Kantonsspitals<br />
St.Gallen, steht für eine Unternehmenskultur, wie man sie<br />
in öffentlichen Institutionen in der Schweiz vor ihm kaum kannte:<br />
mit Eigenverantwortung und Wertschätzung zum Erfolg.<br />
Die fünf gestandenen Chefärzte des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>)<br />
sind dem jungen Mann, der ihnen im Restaurant Sonne in Rotmonten<br />
bei Bratwurst und Rösti gegenübersitzt, nicht gerade wohlgesinnt.<br />
Dieser 35-jährige Betriebswirtschafter aus der Stadtverwaltung mit<br />
null Erfahrung im Gesundheitswesen soll ihr Chef werden? Ein zäher<br />
Abend bahnt sich an.<br />
Theorien aus der Ferne<br />
Als sich Hans Leuenberger in den 1960er-Jahren<br />
bei Adolph Saurer in Arbon zum Kaufmann ausbilden<br />
lässt, ist er begeistert vom Grossunternehmen:<br />
Jede und jeder Mitarbeitende, jedes Zahnrädchen<br />
erfüllt seinen Auftrag, damit das Uhrwerk Saurer<br />
reibungslos läuft.<br />
Praktikum bei Schwester Johanna<br />
Jetzt, am Esstisch mit den Chefärzten im Jahr 1980,<br />
setzt er alles auf die Karte Unternehmenskultur.<br />
Und da werden die Ärzte plötzlich hellhörig. Wie<br />
Leuenberger als Verwaltungsdirektor des Kantonsspitals<br />
dringend benötigtes Personal anlocken<br />
möchte, wollen sie wissen. «Indem wir uns nicht<br />
mit unserer Expertise brüsten, sondern uns als<br />
attraktiven Arbeitgeber präsentieren», argumentiert<br />
Leuenberger. Die Chefs müssten den Umgang<br />
mit ihren Mitarbeitenden verbessern, ihnen auf<br />
Augenhöhe begegnen. Das hat den Ärzten so noch<br />
niemand gesagt. Sie nicken einander bedächtig zu.<br />
Jede und jeder Mitarbeitende, jedes<br />
Zahnrädchen erfüllt seinen Auftrag.<br />
1981 wird Hans Leuenberger zum neuen Verwaltungsdirektor<br />
des Kantonsspitals St.Gallen gewählt<br />
– und lebt sogleich vor, was er mit «Augenhöhe»<br />
meint. Eine seiner ersten Amtshandlungen ist ein<br />
einwöchiges Praktikum bei Schwester Johanna auf<br />
der Pflege im siebten Stock der Chirurgie. Nahbarkeit<br />
und Verständnis für die Arbeit an der Basis werden<br />
zu Pfeilern einer neuen Unternehmenskultur<br />
am <strong>KSSG</strong>. Das Pflegepraktikum macht Leuenberger<br />
zur Pflichtaufgabe aller Kadermitarbeitenden.<br />
Verwaltungsdirektor hoch drei: Hans Leuenberger (links), sein Vorgänger Hans<br />
Adler (rechts) und dessen Vorgänger Theophil Wirth.<br />
Doch nicht nur als Chef, sondern auch als Betriebswirtschafter geht<br />
Leuenberger einen neuen Weg – einen steinigen Weg, der dauert. Mit<br />
der unternehmerischen Freiheit, die er für das <strong>KSSG</strong> fordert, stösst er<br />
in der Politik lange auf taube Ohren. 1995 schliesslich wird das von<br />
Leuenberger initiierte Globalkreditsystem im <strong>KSSG</strong> eingeführt. Es wird<br />
zur Grundlage für die Verwandlung des <strong>KSSG</strong> von einer kantonalen<br />
Dienststelle zum selbstständig öffentlich-rechtlichen Unternehmen,<br />
wie wir es heute kennen. Endlich hat Leuenberger den finanziellen<br />
Handlungsspielraum, um Innovationen zu fördern. «Pilotprojekt statt<br />
Technokratie» lautet seine Devise.<br />
Adieu am Bratwursttag<br />
Leuenberger ist auch deshalb ein beliebter Chef, weil er sich hinter<br />
seine Mitarbeitenden stellt. Anfang der 2000er-Jahre etwa demonstriert<br />
das Pflegepersonal für eine Lohnerhöhung um zwei Stufen, die<br />
St.Galler Regierung hatte zuvor nur eine genehmigt. Vor den Fernsehkameras<br />
sagt Leuenberger, er sei aus Überzeugung für eine Erhöhung<br />
um zwei Lohnklassen – solange es für den Kanton finanziell verkraftbar<br />
sei. Weil im Fernsehen der Nebensatz weggeschnitten wird, muss<br />
sich Leuenberger – eben immer noch Kantonsangestellter – gegen ein<br />
drohendes Disziplinarverfahren wehren.<br />
Im Frühling 2010 verabschiedet sich Hans Leuenberger am traditionellen<br />
Bratwursttag nach fast 30 Jahren in den Ruhestand. Im St.Galler<br />
Tagblatt und in der Öffentlichkeit hat er sich längst den Spitznamen<br />
«Mr. Kantonsspital» verdient. Zum Bratwurstessen kommt der beliebte<br />
Ostschweizer an diesem Tag freilich kaum: Er ist pausenlos am Händeschütteln.<br />
42<br />
43
Linearbeschleuniger<br />
Der erste installierte Linearbeschleuniger<br />
am <strong>KSSG</strong> im Vergleich mit dem heutigen.<br />
Besuch ja, aber nur dreimal die Woche<br />
1890: Mittwoch, Samstag, Sonn- und Feiertage, jeweils zwei Stunden am Nachmittag<br />
2023: Allgemeine, halbprivate und private Abteilung: 10:00 bis 20:00 Uhr täglich<br />
Rückmeldungen ans Spital<br />
In den 1980er-Jahren und heute<br />
Schuhe<br />
Die Schuhe der Pflegefachpersonen<br />
sind heute um einiges bequemer.<br />
SO WAR ES DAMALS, SO IST ES HEUTE<br />
Im Netz<br />
Das Kantonsspital St.Gallen von heute ist mit dem von damals<br />
Anzahl der Zugriffe auf die <strong>KSSG</strong>-Website pro Tag<br />
kaum zu vergleichen. Wer es dennoch tut, gerät ins Staunen.<br />
1995: 26 Zugriffe 2023: 3ʼ700 Zugriffe<br />
Exquisit!<br />
Mittagessen im Spital 1873:<br />
Hafersuppe, gesottenes Ochsenfleisch<br />
oder Kalbskotelett mit Gemüse, Milchreis<br />
Mittagessen im Spital 2023:<br />
Blumenkohlcremesuppe, Pouletschenkelragout<br />
an italienischer Petersiliensauce<br />
mit Teigwaren und glasierten Karotten<br />
oder Nudeln an Zitronengras-Lauch-<br />
Sauce mit rotem Pesto (vegetarisch),<br />
Ananassalat<br />
895 552ʼ233<br />
Rettungssanität<br />
Chauffeure für Wahl- und Verlegungstransporte in den 1980er-<br />
Jahren und eine moderne Rettungssanitäterin<br />
Eindrückliche Dimensionen<br />
1873: Ein Spital mit einer chirurgischen, zwei<br />
medizinischen und einer Augenabteilung<br />
2023: Ein Zentrumsspital mit über 50 Kliniken,<br />
Instituten und medizinischen Kompetenzzentren<br />
Patiententransport<br />
Der Patiententransport im Gründungsjahr<br />
1873 im Vergleich mit dem heutigen.<br />
247 Mio. 540 Mio.<br />
Baukosten<br />
1873 kostete der Bau des Kantonsspitals inklusive<br />
Bodenankauf 809ʼ605 Franken (entspricht heute rund<br />
247 Mio. CHF). Die Kosten für das heutige Neubauprojekt<br />
«come together» betragen rund 540 Millionen Franken.<br />
Kleidung Pflege<br />
Ganz früher, 1974 und heute<br />
Zimmer<br />
Früher<br />
Neue Dimensionen<br />
1873: 895 Patientinnen und Patienten<br />
2021: 552ʼ233 ambulante und stationäre Besuche<br />
Heute<br />
Grösster Arbeitgeber im Kanton<br />
1873: 48 Angestellte (vier Chefärzte, sechs Assistenzärzte, 19 Pflegerinnen<br />
und acht Pfleger, zwei Spitalgeistliche, drei Personen in der<br />
Verwaltung, eine davon mit Ehefrau, eine Waschbesorgerin, ein Spitalknecht,<br />
ein Heizer mit Gehilfe und ein Apotheker). Bettenbestand: 200<br />
Heute: 6ʼ146 Mitarbeitende in 48 Berufen, davon 751 in Ausbildung.<br />
Betten bestand: 684 (Geschäftsjahr 2021)<br />
Lauwarm wegen Glatteis<br />
Bis Ende der 1930er-Jahre werden die Mahlzeiten mit einem Handwagen von der abseitsstehenden<br />
Küche zu den Bettenhäusern transportiert und dort verteilt. Ab dem Zweiten Weltkrieg<br />
erfüllt ein kleiner Lastwagen diese Aufgabe – bei Glatteis im Winter etwas langsamer, sodass<br />
das Essen oft lauwarm ankommt. 1958 wird mit dem Bau der Zentralküche gleichzeitig ein<br />
1,5 Kilometer langes, unterirdisches Kanalsystem gegraben. Bis heute transportieren hier<br />
elektrische Schleppfahrzeuge alles, was es in einem Spital zu transportieren gibt.<br />
44<br />
45
i<br />
Sandro Russi (46) wurde der Kochlöffel in die<br />
Wiege gelegt: Sein Vater war Küchenchef im<br />
Spital Wattwil, sein Grossvater tat bis 1982<br />
dasselbe am <strong>KSSG</strong> und war dafür bekannt,<br />
am Personalfest lauthals Vico Torrianis Schlager<br />
anzustimmen. Russi ist seit 2000 am <strong>KSSG</strong><br />
tätig und hat sich vom Diätkoch zum Leiter<br />
Hospitality Management hochgearbeitet.<br />
«Jedes Spital ist auch ein kleines Gastrounternehmen – oder im<br />
Fall des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) ein grosses. Es gilt, täglich<br />
700 Patientinnen und Patienten sowie 2’000 Mitarbeitende zu verpflegen:<br />
morgens, mittags, abends und zwischendurch. Ohne Planung<br />
und Visionen geht da gar nichts. Deshalb durfte ich 2012 als Nutzervertreter<br />
der Projektgruppe beitreten, die für das neue Haus 07A ein<br />
zukunftsträchtiges Gastrokonzept entwickeln sollte.<br />
So haben wir drei Konzepte erarbeitet, die hoffentlich bis Oktober<br />
2023 Wirklichkeit werden: Erstens kommt auf der neuen Dachterrasse<br />
das Restaurant «Roof Garden» zu stehen. Da gibt es wenig Fleisch<br />
und tierische Produkte, dafür aber viel Rohkost, und alles wird in<br />
praktischen Bowls serviert, wie man es aus den<br />
hippen Restaurants in Zürich kennt. Das Essen<br />
soll gesund und nachhaltig sein, denn ich bin<br />
überzeugt, dass das den Puls der Gesellschaft<br />
trifft. Am <strong>KSSG</strong> bin ich mit dieser Überzeugung<br />
nicht allein: Seit 2014 haben wir das erste vegetarische<br />
Restaurant der Stadt und bieten seit 2017<br />
sogar täglich vegane Mahlzeiten an.<br />
Natürlich wirkt sich das auf den anstehenden<br />
Küchenumbau aus: Die heutigen Ernährungsgewohnheiten<br />
erfordern neue Infrastrukturen,<br />
zum Beispiel mehr Steamer für Gemüse und<br />
weniger Schmormöglichkeiten. Einem Prinzip<br />
aber bleiben wir treu: Es wird auch künftig frisch gekocht und sofort<br />
serviert. Dass wir viele regionale Zutaten verwenden, entspricht unserer<br />
Verpflegungsphilosophie und ist im ISO-Zertifikat festgehalten.<br />
Unsere zweite Idee für den Neubau: Das «Caffè Sette» mit 120 Sitzplätzen<br />
im Eingangsbereich. An einer sechs Meter langen Kaffeebar<br />
werden Baristas den besten Spitalkaffee der Schweiz brühen. Dafür<br />
haben wir mit der ältesten Kaffeerösterei des Landes eine St.Galler<br />
Partnerin gefunden, von der wir 15 Tonnen Kaffeebohnen pro Jahr<br />
beziehen.<br />
WIR SIND<br />
GASTROPIONIERE<br />
Drittens ist gleich neben der Kaffeebar der «Pickup Minimarket»<br />
vorgesehen, der mehrere Funktionen erfüllt: Er bietet ein umfangreiches<br />
Kiosksortiment und Besucherinnen und Besucher können<br />
kleine Geschenke für ihre Angehörigen besorgen – etwa einen Blumenstrauss<br />
aus der hauseigenen Floristik oder selbstgemachte Öle.<br />
Um auf dem Nachhauseweg den Gang zum Supermarkt einzusparen,<br />
gibt es zudem das Wichtigste für den täglichen Bedarf zu kaufen: vom<br />
Brot über Joghurt bis hin zum Trockenfleisch.»<br />
47
EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN<br />
DES KANTONSSPITALS ST.GALLEN<br />
Fast alle waren schon einmal in einem Spital.<br />
Doch die meisten Räume und Orte bleiben<br />
Patientinnen, Patienten und Besuchenden<br />
verborgen. Ein Blick hinter die Kulissen des<br />
Kantonsspitals St.Gallen.<br />
5<br />
2<br />
4<br />
3<br />
1 Lüftungsanlage Haus 24<br />
2 Dampferzeugung Haus 25<br />
3 Notstromgeneratoren Haus 10<br />
4 Gemüselager Küche<br />
5 Bettenreinigung<br />
6 Aussicht von Dach Haus 04<br />
6<br />
1<br />
48<br />
49
2<br />
1 Kälteanlage Dach Haus 04<br />
2 Nasszone Sterilisation<br />
3 Geschirrspülmaschine Küche<br />
4 Reinigung Zentraler Hörsaal<br />
5 Kühlraum Spitalpharmazie<br />
6 Patiententransport im unterirdischen Kanalsystem<br />
7 Apothekerin bei der Herstellung von Zytostatika<br />
3<br />
6<br />
BILD DUNKLER MACHEN<br />
1<br />
5<br />
7<br />
4<br />
50<br />
51
1<br />
1 Helikopterlandeplatz<br />
2 Warmwassererzeugung Frischwasserstationen Haus 03<br />
3 Laufband Küche<br />
4 Rohrpost<br />
5 Operationssaal<br />
6 Operationsgeräte<br />
3<br />
4<br />
2<br />
6<br />
5<br />
52<br />
53
CHEFÄRZTIN<br />
NUMMER EINS<br />
Eine medizinische Methode, die alles verändert, ein visionäres Arbeitsmodell<br />
– die ehemalige Chefärztin Prof. Dr. Christa Meyenberger hat<br />
das Kantonsspital St.Gallen in vielerlei Hinsicht geprägt.<br />
Prof. Dr. Christa Meyenberger deutet es als gutes<br />
Omen, dass der Einladung zum Bewerbungsgespräch<br />
am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) nicht nur<br />
eine Parkkarte, sondern sogar eine handgeschriebene<br />
Notiz des Spitaldirektors beiliegt. Hier scheint<br />
sich der Chef persönlich um die Mitarbeitenden<br />
zu kümmern.<br />
Das Bewerbungsgespräch mit Hans Leuenberger<br />
wird zu einem beidseitigen Vergnügen, und so<br />
wechselt Meyenberger 1996 als Leitende Ärztin<br />
ans <strong>KSSG</strong>. Vier Jahre später wird sie im Rahmen<br />
der Umstrukturierung des Departements Innere<br />
Medizin zur Chefärztin befördert – notabene als<br />
erste Frau in der Geschichte des Kantonsspitals.<br />
Die letzte Sprosse der Karriereleiter erklimmt sie<br />
wiederum vier Jahre später, als sie Mitglied der<br />
Geschäftsleitung wird.<br />
Niemals Zürich oder St.Gallen<br />
Dabei hat sich die Hausarzttochter aus Wil einst<br />
geschworen: «Nach St.Gallen oder – noch schlimmer<br />
– Zürich will ich nie!» Riesig stellte sie sich die<br />
dortigen Spitäler vor, anonym und kalt das Arbeitsklima.<br />
Doch dann kam alles anders: Nachdem sie<br />
von 1971 bis 1978 in Zürich studiert hatte, bewarb sie<br />
Bild: Archiv Robert Willi<br />
Gastroenterologie und Viszeralchirurgie<br />
Die Gastroenterologie ist ein Teilgebiet der Inneren Medizin<br />
und befasst sich mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts<br />
sowie den damit verbundenen Organen Leber, Gallenblase<br />
und Bauchspeicheldrüse.<br />
Die Viszeralchirurgie umfasst Operationen des Magen-Darm-<br />
Trakts und der umgebenden Organe.<br />
sich erfolgreich am drittgrössten Spital der Schweiz,<br />
am Universitätsspital Zürich – nicht zuletzt des hervorragenden<br />
Rufes der Inneren Medizin und der<br />
Forschung wegen. Doch das universitäre Umfeld<br />
war herausfordernd: Den Umgang empfand sie oft<br />
als rau, den Konkurrenzkampf als hart. Auch mit<br />
ihrer Habilitation über die Endosonographie, den<br />
endoskopischen Ultraschall, musste sich Meyenberger<br />
am Universitätsspital Zürich erst einmal<br />
durchsetzen: Ein Radiologe schimpfte, sie würde<br />
ihm durch die Nutzung bildgebender Verfahren<br />
seine Domäne streitig machen.<br />
Die entscheidende Technik<br />
Die Endosonographie ist eine der bahnbrechenden<br />
Innovationen in der Gastroenterologie, die<br />
Meyenberger am <strong>KSSG</strong> etabliert und weiterentwickelt:<br />
Ein Endoskop, also ein Beobachtungsschlauch<br />
mit Kamera, verschafft zusammen mit einem Ultraschallkopf<br />
Einblick in Körper und Organe. Das<br />
ist etwa bei einer schweren Bauchspeicheldrüsenentzündung<br />
nützlich: Mit durch den Mund eingeführten,<br />
endoskopischen Instrumenten und viel<br />
Fingerspitzengefühl wird der Eiterherd von innen<br />
aufgeschnitten, damit der Eiter durch einen zwischen<br />
Bauchhöhle und Magen platzierten Stent<br />
abfliessen kann.<br />
Die von Meyenberger vorangetriebene minimalinvasive<br />
Technik wird die Gastroenterologie und weitere<br />
medizinische Disziplinen grundlegend verändern<br />
und dazu beitragen, die Mortalität zu senken, Traumata<br />
zu minimieren sowie die Aufenthaltsdauer in<br />
Spitälern – und damit die Gesundheitskosten – zu<br />
reduzieren.<br />
i<br />
Arbeitszeiten wählen<br />
Meyenbergers Pioniergeist erschöpft<br />
sich aber nicht im Medizinischen;<br />
auch als Führungsperson<br />
geht sie neue Wege. Anfang der<br />
2000er-Jahre, als Teilzeitarbeit und<br />
Jobsharing in der Schweiz noch<br />
Fremdwörter sind, überlässt sie<br />
ihren Teammitgliedern die Wahl,<br />
welches Pensum sie arbeiten<br />
möchten. Sitzungen werden nie<br />
nach 18:00 Uhr terminiert. Damit<br />
wird Meyenberger zu einer Vorreiterin<br />
für familienfreundliche Arbeitsmodelle, die<br />
das <strong>KSSG</strong> bis heute als fortschrittliches Unternehmen<br />
auf dem Arbeitsmarkt auszeichnen.<br />
Sich selbst hingegen gönnt die Gastroenterologin<br />
kaum eine Verschnaufpause. Wenn sie den Heimweg<br />
antritt, sind die Gänge im <strong>KSSG</strong> meist leer. Stetig<br />
treibt sie Neues um. Anfang der 2000er-Jahre<br />
fährt sie mit dem Kollegen Prof. Dr. Jochen Lange<br />
nach München, um sich ein sogenanntes Tumorboard<br />
zeigen zu lassen. Wenig später lanciert das <strong>KSSG</strong><br />
mit ihrer Unterstützung sein erstes Tumorboard,<br />
an dem die Viszeralchirurgie und die Gastroenterologie<br />
(siehe Box) interdisziplinär nach der besten<br />
Behandlung von Krebserkrankungen im Magen-<br />
Darm-Trakt suchen. 2006 skizziert sie mit einem<br />
befreundeten Hausarzt ein Weiterbildungssystem<br />
für angehende Hausärztinnen und Hausärzte, ein<br />
schweizweites Pilotprojekt, das Direktor Leuenberger<br />
unbürokratisch unterstützt und etabliert.<br />
Meyenbergers Pioniergeist erschöpft<br />
sich nicht im Medizinischen;<br />
auch als Führungsperson geht sie<br />
neue Wege.<br />
Nach 20 Jahren am <strong>KSSG</strong> wird Christa Meyenberger<br />
2016 pensioniert. Seitdem steht sie dem <strong>KSSG</strong> als<br />
Konsiliarärztin zur Verfügung und gibt ihr Wissen<br />
als Senior Teacher an zukünftige Kadermitarbeitende<br />
weiter.<br />
54<br />
55
Laser gegen Tumor<br />
Prof. Dr. Oliver Bozinov behandelt<br />
am <strong>KSSG</strong> erstmals einen Hirntumor<br />
mit dem Laserkatheter – eine neue<br />
Methode, die europaweit nur wenige<br />
beherrschen. Nach fünfstündiger Vorbereitung<br />
des Präzisionseingriffs wird<br />
das Tumorgewebe über einen Zugang<br />
von drei Millimetern mit dem Laser auf<br />
bis zu 70 Grad Celsius erhitzt und zerstört.<br />
Der Eingriff ist ein Beispiel für die<br />
hochmoderne Spitzenmedizin, wie<br />
sie am <strong>KSSG</strong> in interdisziplinärer und<br />
interprofessioneller Zusammenarbeit<br />
praktiziert wird.<br />
56<br />
57
ZWISCHEN MENSCH<br />
UND MEDTECH<br />
Auch in der Pflege sind Digitalisierung und Hightech nicht wegzudenken.<br />
Im Mittelpunkt steht jedoch immer die Beziehung<br />
von Mensch zu Mensch.<br />
Ruth Koster ist schnell. Flugs zieht sie in Zimmer<br />
2 den Vorhang zurück, tritt zum Perfusor, checkt<br />
Dosierung und Laufrate und sagt zum Patienten:<br />
«Es geht aufwärts.» Dann aber drosselt sie das<br />
Tempo, nimmt sich Zeit, setzt sich auf einen Stuhl<br />
und zeigt fragend auf die Kinderzeichnung auf dem<br />
Nachttisch. Der Patient lächelt – und erzählt von<br />
seinen Enkeln in Neuseeland. Fünf Minuten, dann<br />
muss seine Zuhörerin ein Zimmer weiter. Aber die<br />
300 Sekunden Aufmerksamkeit sind für ihn heilsam<br />
– so wie das Medikament, das über den Perfusor und<br />
eine Infusion in seinen Körper gelangt.<br />
Sorge tragen<br />
Ruth Koster ist diplomierte Pflegefachfrau und<br />
arbeitet seit 15 Jahren auf derselben Bettenstation.<br />
Heute ist sie für sieben Patientinnen und Patienten<br />
verantwortlich. Diese sollen sich hier im 8. Stock<br />
von Haus 04 medizinisch bestmöglich betreut fühlen,<br />
menschlich wertgeschätzt und umsorgt. Ruth<br />
Koster und ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiten<br />
nach dem Konzept der zuwendenden empathischen<br />
Pflege, dem sogenannten Caring (englisch für «Fürsorge»).<br />
Dazu gehört das Dasein – vom Ansprechen<br />
bis Zuhören – und auch das Plaudern über Enkelkinder,<br />
Gott und die Welt.<br />
Apropos Gott: Es waren Ordensschwestern, die am<br />
Ursprung der auf Fürsorge basierenden Pflege am<br />
Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) standen. 1878 stellte<br />
das Spital die ersten vier Ingenbohler Schwestern<br />
ein – gegen Kost und Logis und 150 Franken Jahresgehalt.<br />
Der Rest war Gotteslohn. Das war in<br />
der Schweiz nichts Aussergewöhnliches: Ende des<br />
19. Jahrhunderts war die Pflege vielerorts in der<br />
Hand von Ordensschwestern.<br />
Am <strong>KSSG</strong> waren die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz<br />
106 Jahre Teil des Pflegepersonals. Es waren lebensfrohe Frauen,<br />
zuverlässig, diszipliniert und selbstbewusst. Sie pflegten nach einem<br />
christlichen Menschenbild, waren Tag und Nacht für die Patientinnen<br />
und Patienten da – und besassen doch nicht viel mehr als ihre beiden<br />
Trachten: eine für werktags und eine für sonntags.<br />
Doch mit der Loslösung von der Kirche und der Professionalisierung<br />
des Pflegeberufs wurden die Ordensschwestern immer weniger. Weltliche<br />
Pflegefachkräfte traten an ihre Stelle. 1984 verabschiedeten<br />
sich die letzten «Ingenbohlerinnen» aus dem <strong>KSSG</strong> – ihr Geist, ein<br />
auf Nächstenliebe beruhendes Pflegemodell, ist hingegen geblieben.<br />
Die grosse Kunst<br />
In Zimmer 6 bereitet Pflegefachfrau Ruth Koster das digitale Blutzuckermanagement<br />
vor. Die Applikation misst den Blutzucker und<br />
berechnet die nötige Insulindosierung, alles vollautomatisch, schnell<br />
und exakt. Auch der Perfusor beim Patienten in Zimmer 2 läuft immer<br />
noch mit höchster Präzision. Von so viel Hightech hätten die Ingenbohler<br />
Schwestern nur träumen können. Sie mussten die Laufrate,<br />
die Anzahl der Tropfen pro Minute, selbst ausrechnen und manuell<br />
einstellen.<br />
Die Technik ist ein Segen, gewiss. Und im besten Fall spart sie auch<br />
Zeit. Dennoch: Wenn sie nur der zunehmenden Effizienz dient, wo<br />
bleibt da noch Zeit für einen warmen Händedruck oder ein tröstendes<br />
Wort? Findet eine Pflegefachperson noch genug Zeit für das<br />
Caring, wenn Regulation, Technik und Spardruck immer mehr Platz<br />
einnehmen?<br />
Ein Lächeln, eine Berührung: Pflegefachfrau Ruth Koster arbeitet wie ihre<br />
Kolleginnen und Kollegen nach dem Konzept der zuwendenden empathischen<br />
Pflege, dem Caring (englisch für «Fürsorge»).<br />
58
«Die Kunst ist», sagt Barbara Giger-Hauser, Leiterin<br />
Departement Pflege, «achtsam und präsent zu sein.<br />
Das Caring hängt ab von der Dauer, aber eben auch<br />
von der Tiefe.» Gerade in turbulenten Zeiten sei<br />
eine zuwendende Pflege wichtig. Einerseits, weil sie<br />
gemäss Studien Einfluss auf die Genesung hat, zum<br />
Beispiel, indem sie bei Patientinnen und Patienten<br />
die Partizipation, Selbstpflegefähigkeit oder Therapiemotivation<br />
stärkt. Andererseits, weil das Caring<br />
laut Studien nicht nur Patientinnen und Patienten<br />
gesünder macht, sondern das Personal auch glücklicher.<br />
Je mehr Zeit eine Pflegefachperson für das<br />
Caring hat, desto zufriedener ist sie in ihrem Beruf.<br />
Routinetätigkeiten wie die Medikamentausgabe erledigt<br />
Ruth Koster im Eiltempo – bei gebotener Genauigkeit.<br />
Dennoch ist das Caring am <strong>KSSG</strong> heute kein individueller Glaubensakt<br />
mehr, sondern eine im Pflegeleitbild festgeschriebene Norm. Das<br />
aber schmälert seine Bedeutung nicht. Im Gegenteil: Caring wird wie<br />
andere professionelle pflegerische Kompetenzen gezielt gefördert<br />
und geschult – zum Beispiel durch Weiterbildungen und Workshops<br />
zu Themen wie Achtsamkeit, Aromapflege und Basale Stimulation.<br />
Balsam für den Schlaf<br />
Kurz vor 21:00 Uhr: Ruth Koster misst bei der Patientin in Zimmer 11<br />
Temperatur, Blutdruck und Sauerstoffsättigung. Eine Routinetätigkeit,<br />
flink ausgeführt.<br />
Dann wird die Pflegefachfrau nochmals langsam. Sehr langsam. Sie<br />
dimmt das Licht und schlägt das Fussende der Bettdecke zurück. Sie<br />
tropft etwas Lavendelöl auf ihre Hand und reibt damit sanft die Füsse<br />
der Patientin ein. Zuwendung, Duft und Wärme – eine Wohltat für<br />
den Schlaf. Ruth Koster lächelt, als der Patientin die Augen zufallen.<br />
DER INNOVATIONSGEIST<br />
BLEIBT GEFORDERT<br />
Drei leitende Frauen aus dem Departement Pflege des<br />
Kantonsspitals St.Gallen über die Entwicklung und die<br />
Zukunft der Pflege am führenden Ostschweizer Spital.<br />
DENISE EIGENMANN<br />
Leiterin Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
«Die Medizin macht seit einigen Jahren gewaltige Fortschritte. Und mit jedem Schritt vorwärts<br />
müssen wir uns fragen: Welche zusätzlichen Kompetenzen braucht das Personal dafür? Wir<br />
nehmen die Bedürfnisse wahr, beobachten Trends, analysieren den Markt und entwickeln<br />
passende Bildungsangebote – sowohl für die Mitarbeitenden des Kantonsspitals St.Gallen<br />
(<strong>KSSG</strong>) als auch für externes Fachpersonal. Das <strong>KSSG</strong> ist bekannt für seinen Pioniergeist,<br />
gerade in der Bildung. Unsere Expertise im Vermitteln von Wissen ist gross. Darum ist uns<br />
die Vernetzung mit Gesundheitsinstitutionen in der ganzen Schweiz ebenso wichtig wie die<br />
Mitarbeit in Gremien und an Vernehmlassungen. Wir haben Wichtiges zu sagen!»<br />
BARBARA GIGER-HAUSER<br />
Leiterin Departement Pflege<br />
«Seit 2021 – mit der Coronapandemie und dem Ja<br />
zur Pflegeinitiative – sind der Pflegeberuf und seine<br />
Rahmenbedingungen in den Fokus der öffentlichen<br />
Aufmerksamkeit gerückt. Wir wollen diesen Aufschwung<br />
nutzen, um unser Berufsbild weiter zu verfeinern<br />
und attraktiv zu gestalten. Der Pflegeberuf<br />
hat nichts mehr mit dem Bild von früher gemein,<br />
das geprägt war von Aufopferung und Demut. Heute<br />
ist die Pflege eine Wissenschaft und ein Beruf mit<br />
einem Bildungsweg auf Hochschulstufe. Dank<br />
der Akademisierung stehen diplomierten Pflegefachpersonen<br />
zig Aufstiegsmöglichkeiten offen,<br />
sei es auf einem Fachgebiet, in der Bildung oder<br />
im Management. Welche Chance eine Pflegefachperson<br />
auch nutzt: eine abwechslungsreiche, sinnstiftende,<br />
bereichernde und krisensichere Arbeit ist<br />
ihr gewiss – die beste auf der Welt.»<br />
BARBARA SCHOOP<br />
Leiterin Entwicklung & Qualitätsmanagement Pflege<br />
«Zum Selbstverständnis der früheren «Krankenschwestern» gehörte<br />
zusätzlich zur Pflegearbeit auch das ganze «Drumherum», der Zimmerservice<br />
genauso wie die Seelsorge, Reinigungsarbeiten und die Wartung<br />
der Geräte und des Mobiliars. Die heutige professionelle Pflege aber<br />
ist ein perfektes Zusammenspiel im ganzen Versorgungsnetz aus sehr<br />
gut ausgebildeten, hochkompetenten spezialisierten Fachkräften aus<br />
zig Disziplinen. Es gibt längst nicht mehr nur die Krankenschwester –<br />
die heute wohlgemerkt Pflegefachfrau heisst oder in der männlichen<br />
Variante Pflegefachmann –, sondern über 20 verschiedene Pflegeberufe,<br />
von der Expertin Anästhesiepflege über die Stroke Nurse, Palliativpflege<br />
bis zur Wundexpertin. Die Spezialisierung in der Pflege ist mit jener in<br />
der Medizin einhergegangen und noch längst nicht abgeschlossen.<br />
Unser Innovationsgeist bleibt gefordert.»<br />
60<br />
61
ICH BIN DER MANN<br />
FÜR ALLE FÄLLE<br />
«Es macht mich heute noch verrückt, dass mein Chef bei unserem<br />
letzten Jassturnier besser war als ich. Schliesslich habe ich ihm das<br />
Jassen erst beigebracht. Jassen, Brett- und Computerspiele sind meine<br />
grosse Leidenschaft. Das liegt in der Familie. Auch im HELP-Team<br />
klopfen wir über Mittag oft einen Jass.<br />
Meistens gewinne ich. Nur beim Jassturnier eben nicht, weil ich mal<br />
wieder einen Migräneanfall hatte. Mein Körper und mein Kopf wollen<br />
halt nicht immer so, wie ich es will. Das ist schon seit meiner Geburt<br />
so. Deshalb habe ich nur sechs Jahre die Schule besucht und danach<br />
eine Anlehre als Landschaftsgärtner gemacht.<br />
i<br />
Seit 15 Jahren arbeite ich am Kantonsspital St.Gallen (<strong>KSSG</strong>). Manche<br />
sagen, ich sei ein Mädchen für alles. Aber das höre ich nicht gern.<br />
Mädchen! Wenn schon: der Mann für alle Fälle! Denn ich erledige<br />
tatsächlich alles Mögliche. Meistens beginnt mein Arbeitstag um<br />
7:00 Uhr mit dem Morgenappell in der Gärtnerei. Dann werden die<br />
Arbeiten verteilt: hier eine Hecke scheren, dort etwas einpflanzen<br />
oder auf dem Campus Unkraut jäten. Sogar das tägliche Fischefüttern<br />
und die Scheibenreinigung der beiden Aquarien auf der Palliativstation<br />
in Haus 02 liegen in unserer Verantwortung. Und ausserdem<br />
sind wir natürlich ständig mit unseren Putzwagen auf dem Campus<br />
unterwegs, um diesen sauber zu halten.<br />
Was schön ist: Ich bin viel an der frischen Luft. Schon als Kind war<br />
ich am liebsten im Wald, um den Vögeln, den Blättern und Insekten<br />
zu lauschen.<br />
Da ich ständig unterwegs bin im <strong>KSSG</strong>, kenne ich fast jeden und<br />
jeder kennt mich. «Hallo» hier, «Sali» dort. Ein kleiner Schwatz ist<br />
immer drin. Dabei bekomme ich viel Lob für meine Arbeit. Neulich<br />
war ich wieder am «Fötzeln», da kommt ein Besucher auf mich zu<br />
und streckt mir einen 10-Franken-Schein entgegen: Weil wir hier<br />
immer so akkurat für Sauberkeit sorgen würden. Das Geld liegt jetzt<br />
in unserer Kaffeekasse.»<br />
Florian Rohner (34) arbeitet seit 2007 in einem geschützten<br />
Arbeitsumfeld im <strong>KSSG</strong> und seit 2012 in der Gruppe<br />
HELP, in der zehn Mitarbeitende mit körperlicher oder<br />
kognitiver Beeinträchtigung ins Arbeitsleben integriert<br />
werden. Die Arbeit von Florian Rohner ist jeden Tag anders,<br />
so wie die Sonnenuntergänge, die er in seiner Freizeit so<br />
gerne fotografiert.<br />
62<br />
63
«WAS MACHT EIGENTLICH EIN CEO?»<br />
(MIA LEIBUNDGUT, 17)<br />
«KANNST DU DIR VORSTELLEN, EINMAL<br />
ALS ERSTE FRAU CEO DES KANTONSSPITALS<br />
ST.GALLEN ZU WERDEN?»<br />
(STEFAN LICHTENSTEIGER, 55)<br />
Mia Leibundgut ist 17 Jahre jung und absolviert am Kantons spital<br />
St.Gallen ihre Ausbildung zur Kauffrau. Stefan Lichtensteiger ist 55 Jahre<br />
alt und seit Mai 2022 CEO des Kantonsspitals St.Gallen. Ein Gespräch<br />
über Geld und Gesundheit, Frauen in Chefsesseln und die Zukunft des<br />
Kantonsspitals.<br />
Mia Leibundgut (M. L.): Grüezi, Herr Lichtensteiger!<br />
Stefan Lichtensteiger (S. L.): Hallo, Frau Leibundgut.<br />
Darf ich Ihnen gleich das Du anbieten? Ich<br />
bin der Stefan.<br />
M. L.: Gerne, Mia!<br />
S. L.: Wie geht es dir? Hattest du einen guten Arbeitstag?<br />
M. L.: Ja, die Arbeit macht mir viel Spass. Ich war<br />
allerdings etwas nervös. Ich habe noch nie mit<br />
einem CEO gesprochen. Aber meine Chefin hat<br />
behauptet, der Stefan sei ganz ein Netter.<br />
S. L. (lacht): Das ist schön zu hören.<br />
M. L.: Es ist ja auch interessant, den Chef alles fragen<br />
zu können, was einem in den Sinn kommt. Zum<br />
Beispiel: Was macht ein CEO den ganzen Tag?<br />
S. L.: Das klingt jetzt vielleicht langweilig, aber:<br />
Ich sitze viel, und zwar in Sitzungen. Von Montagfrüh<br />
bis Freitagmittag ist mein Terminkalender<br />
voll mit Sitzungen. Und ganz ehrlich: Das ist überhaupt<br />
nicht langweilig. Vielmehr geht es meist um<br />
Weichenstellungen, um Projekte, um Entscheidungen,<br />
welche in ihrer Summe die Zukunft unseres<br />
Zentrumsspitals prägen. Ausserdem bin ich ein<br />
Teamplayer. Ich tausche mich aus, höre zu und<br />
fälle wichtige Entscheidungen nie alleine, sondern<br />
primär zusammen mit meinen Kolleginnen und<br />
Kollegen der Geschäftsleitung.<br />
M. L.: Vor fünf Minuten hattest du ja eine Sitzung.<br />
Worum ging es da?<br />
S. L.: Da hatte ich Besuch aus Rorschach. Wir diskutierten<br />
Möglichkeiten, um die finanzielle Situation<br />
der dortigen Hämodialyse zu verbessern. Das<br />
ist anspruchsvoll, weil ambulante Behandlungen<br />
aufgrund des veralteten Tarifsystems nicht kostendeckend<br />
entschädigt werden. Das Gesundheitswesen<br />
ist stark reguliert und diese Regulierungen und<br />
Tarife hinken vielen Entwicklungen hinterher. Es<br />
gibt viel zu tun.<br />
«Es gibt viel zu tun.» (Stefan Lichtensteiger)<br />
M. L.: Immer geht es nur ums Geld, wenn ich in<br />
der Zeitung etwas über Spitäler lese. Das finde ich<br />
schade.<br />
S. L.: Das kann ich verstehen. Aber die Gesundheitskosten<br />
steigen stetig, das spiegelt sich in immer<br />
höheren Krankenkassenprämien und das spüren<br />
die Leute in ihrem Portemonnaie. Und auch der<br />
Kanton St.Gallen bemerkt das, weil er der Eigentümer<br />
des Kantonsspitals St.Gallen (<strong>KSSG</strong>) ist. Er will<br />
Lösungen von uns sehen, wie wir in Zukunft wieder<br />
kostendeckend arbeiten können. Und ich bin das<br />
Bindeglied zwischen Verwaltungsrat, der politisch<br />
gewählt ist, und unserer Geschäftsleitung, welche<br />
die im Verwaltungsrat beschlossenen Strategien<br />
umsetzen muss.<br />
M. L.: Aber gerät da nicht unsere eigentliche Aufgabe<br />
aus dem Fokus? Wir müssen doch vor allem<br />
für eine bestmögliche medizinische Versorgung<br />
unserer Patientinnen und Patienten sorgen …<br />
S. L.: Diesen Fokus dürfen wir nie verlieren. Wir<br />
tragen eine grosse Verantwortung gegenüber den<br />
Steuerzahlerinnen und -zahlern, aber vor allem<br />
gegenüber unseren Patientinnen und Patienten.<br />
M. L.: Warum steigen die Kosten denn die ganze Zeit?<br />
S. L.: Aus meiner und aus volkswirtschaftlicher<br />
Sicht steigen die Gesundheitskosten nicht, weil die
Ich will später nicht auf Karriere<br />
verzichten, nur weil ich vielleicht<br />
Kinder habe. (Mia Leibundgut)<br />
i<br />
Preise steigen, sondern die Menge der Leistungen.<br />
Man kann immer mehr behandeln und die Gesellschaft<br />
bezieht daher auch immer mehr Gesundheitsleistungen.<br />
Weil wir uns eine immer bessere,<br />
individuellere und teurere Gesundheitsversorgung<br />
leisten, steigen auch die Kosten. Wir können heute<br />
Krebserkrankungen behandeln, die noch vor wenigen<br />
Jahren rasch zum Tod führen konnten. Heute<br />
können wir Patientinnen und Patienten noch viele<br />
Jahre Leben schenken. Ist das nicht ein echter<br />
Gegenwert? Zudem werden wir immer älter, und<br />
da die Gesundheitskosten im Alter steigen, schlägt<br />
sich dies ebenfalls auf die Kosten nieder.<br />
M. L.: Das erinnert mich an meine Grossmutter.<br />
Die hatte auch Krebs und konnte noch über Jahre<br />
gut weiterleben dank medizinischer Unterstützung<br />
durch das <strong>KSSG</strong>. Das war ein Geschenk – für sie<br />
und auch für mich.<br />
S. L.: Wärst du denn bereit, immer mehr für die<br />
Gesundheit zu bezahlen?<br />
M. L.: Na ja, noch bezahlen meine Eltern meine<br />
Prämien. Aber ja, Gesundheit ist mir sehr wichtig,<br />
wichtiger als ein teures Auto zum Beispiel. Und ich<br />
sehe ja täglich, wie aufwändig eine medizinische<br />
Behandlung sein kann, aber auch, was sie leistet. Es<br />
ist beeindruckend, wie schnell manche Menschen<br />
genesen.<br />
S. L.: Das ist ein interessanter Punkt: Es gibt viele<br />
Eingriffe, die haben früher eine tage- oder wochenlange<br />
stationäre Versorgung nach sich gezogen.<br />
Heute ist die stationäre Aufenthaltsdauer viel kürzer.<br />
Und das ist gut für die Patientinnen und Patienten,<br />
aber auch für die Wirtschaft. Denn diese Menschen<br />
können viel früher wieder arbeiten. Wenn<br />
man von Kostenwahrheit spricht, gehören auch<br />
solche Effekte dazu.<br />
M. L.: Das klingt nach einem aufreibenden Job, den<br />
du hast. Bleibt da noch Zeit für Familie und Freizeit?<br />
S. L.: Die Zeit ist knapp. Zumal ich abends oft noch<br />
repräsentative Aufgaben habe. Aber wenn abends<br />
keine Termine anstehen, versuche ich, zu vernünftigen<br />
Zeiten zu Hause zu sein, damit die Familie<br />
noch etwas von mir hat. Dank der Digitalisierung<br />
kann ich bei Bedarf auch noch von zu Hause aus<br />
arbeiten, wenn die Kinder im Bett sind. Und du,<br />
wie erholst du dich?<br />
M. L.: Ich spiele Unihockey beim UHC Appenzell.<br />
Wenn ich Unihockey spiele, vergesse ich alles<br />
andere.<br />
S. L.: Du machst ja neben deiner Ausbildung die<br />
Berufsmatura. Kannst du dir vorstellen, erste CEO<br />
des <strong>KSSG</strong> zu werden?<br />
M. L.: Wenn ich dich so höre, eher nicht. Ich will<br />
nicht nur für den Job leben. Und mal ehrlich: Wie<br />
viele Frauen als CEO von Spitälern kennst du?<br />
S. L.: Ich kenne nicht so viele.<br />
M. L.: Und wie viele Frauen sitzen in der Geschäftsleitung<br />
des <strong>KSSG</strong>?<br />
S. L.: Zwei. Gegenüber neun Männern. Aber das<br />
wird sich in Zukunft hoffentlich ändern.<br />
Während einer Schnupperlehre merkte Mia Leibundgut (17), dass sie kein Blut sehen kann.<br />
Weil sie trotzdem im Gesundheitswesen arbeiten wollte, begann sie 2021 eine Kaufmännische<br />
Lehre im <strong>KSSG</strong>. Daneben besucht sie die Berufsmaturitätsschule. Eine kaufmännische Lehre<br />
ist auch Stefan Lichtensteigers (55) Erstausbildung. Es folgten ein Studium als Betriebsökonom<br />
an der Fachhochschule für Wirtschaft in St.Gallen (vormals HWV) und ein Executive MBA<br />
in General Management an der Universität St.Gallen. 2010 bis 2022 war er Spitaldirektor in<br />
der Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland, seit Mai 2022 ist der Vater von vier<br />
Kindern CEO des <strong>KSSG</strong>.<br />
M. L.: Ich finde, es braucht neue Arbeitsmodelle,<br />
die Karrieren ermöglichen, ohne auf Familie und<br />
Freizeit zu verzichten.<br />
S. L.: Als ich 1994 hier am <strong>KSSG</strong> meine erste Anstellung<br />
hatte, da war es undenkbar, in leitender Position<br />
auch nur 90 Prozent zu arbeiten. Doch beim<br />
heutigen Fachkräftemangel kann man sich das nicht<br />
mehr leisten – weder gegenüber Frauen noch gegenüber<br />
Männern. Heute erwarten auch Mitarbeitende<br />
in Kaderpositionen Teilzeitstellen oder Jobsharing.<br />
Und wenn man ihnen das nicht gewährt, suchen<br />
sie sich eine andere Stelle. Deshalb erarbeiten wir<br />
derzeit eine Personalpolitik für den zukünftigen<br />
Spitalverbund St.Gallen. Darin spielen unter anderem<br />
flexible Arbeitszeitmodelle eine entscheidende<br />
Rolle.<br />
M. L.: Das klingt gut. Denn ich will nicht auf eine<br />
Karriere verzichten, nur weil ich später vielleicht<br />
Kinder habe.<br />
S. L.: Es gibt sicher schon heute einige Möglichkeiten.<br />
Aber klar ist auch, dass eine noch grössere<br />
Bereitschaft aller Beteiligten für Veränderungen<br />
vonnöten ist.<br />
M. L.: Und was wünschst du dir für die Zukunft<br />
des <strong>KSSG</strong>?<br />
S. L.: Ich wünsche mir, dass das <strong>KSSG</strong> weiterhin<br />
in der Lage ist, allen Patientinnen und Patienten<br />
eine medizinische Versorgung und pflegerische<br />
Betreuung auf höchstem Niveau anzubieten. Dafür<br />
müssen wir unsere Fachkräfte und Spezialistinnen<br />
und Spezialisten halten und – trotz Fachkräftemangel<br />
– neue rekrutieren. Neben der fachlichen<br />
Qualifikation verfügen diese Mitarbeitenden auch<br />
über die notwendige Sozialkompetenz, um in der<br />
fachkundigen und konstruktiven Zusammenarbeit<br />
mit anderen Expertinnen und Experten sicherzustellen,<br />
dass unsere Patientinnen und Patienten<br />
trotz zunehmender Spezialisierung ganzheitlich<br />
behandelt werden. Deshalb fördern wir die Bildung<br />
von Zentren, wo unterschiedliche Disziplinen und<br />
Berufsgruppen ihre Expertisen einbringen, um sie<br />
zum Wohle jeder einzelnen Patientin und jedes einzelnen<br />
Patienten zu bündeln. Was wünschst du dir?<br />
M. L.: Ich würde mir wünschen, dass die psychischen<br />
und seelischen Aspekte von Krankheiten<br />
stärker berücksichtigt werden. Auch das gehört<br />
für mich dazu, wenn man Patientinnen und Patienten<br />
ganzheitlich betreut. Deshalb finde ich es toll,<br />
dass beispielsweise im Pflegekonzept des <strong>KSSG</strong> das<br />
Caring, die empathische Betreuung von Patientinnen<br />
und Patienten, festgeschrieben ist.<br />
66<br />
67
UNSERE ZUKUNFT<br />
Wie sieht das Kantonsspital St.Gallen im Jahr<br />
2033 aus? Wie werden sich die Berufsbilder<br />
weiterentwickeln? Sieben junge Mitarbeitende<br />
blicken in die Zukunft.<br />
MICHELA CUTAZZO<br />
Fachfrau Hauswirtschaft<br />
Stv. Gruppenleiterin Reinigung 02<br />
«Im August 2021 begann mein Abenteuer hier am<br />
<strong>KSSG</strong> als Stv. Gruppenleiterin Reinigung 02. Auf<br />
meiner bisherigen Reise durfte ich einige tolle<br />
Momente erleben, wertvolle Erfahrungen sammeln<br />
und viel Dankbarkeit von den Patientinnen und<br />
Patienten spüren. Als Reinigungskraft wird man<br />
oftmals unterschätzt, weshalb ich mir wünsche,<br />
dass wir in den kommenden Jahren mehr Wertschätzung<br />
erfahren. In meinem Beruf gibt es wie<br />
in allen Branchen immer wieder technologische<br />
Fortschritte: Neue Reinigungsmaschinen, einfachere<br />
Bedienung und somit effizientere Reinigung<br />
– betreffen wird uns das bestimmt auch. Ich<br />
denke jedoch, dass die Reinigungstätigkeit auch<br />
in Zukunft ein Handwerk für sich bleibt.»<br />
JAN SCHERRER<br />
Fachspezialist Hardware Support Informatik<br />
«Ich gehe davon aus, dass in zehn Jahren alle<br />
Papierdokumente digitalisiert wurden und am Kantonsspital<br />
St.Gallen vollständig papierlos gearbeitet<br />
wird. Ich wünsche mir für das Jahr 2033, dass<br />
gewisse Vorgänge wie zum Beispiel die Patiententransporte,<br />
Essenstransporte und vieles weitere<br />
durch Roboter automatisiert ist. Mein Wunsch ist<br />
es, dass die älteren Gebäude renoviert oder durch<br />
neue ersetzt werden sowie mehr Grünflächen mit<br />
Sitzmöglichkeiten geschaffen werden. Somit wäre<br />
der ganze Campus modernisiert und noch attraktiver<br />
für das Personal sowie die Patientinnen und<br />
Patienten und die Besuchenden.»<br />
DENISE WOLF<br />
Leiterin Case Management ZPM Neurologie<br />
«Mein Job am <strong>KSSG</strong> im Jahr 2033 sieht so aus, dass die Umsetzung von<br />
neuen Vorgehen bzw. Projekten in den Kliniken schneller und unkomplizierter<br />
realisierbar ist. Durch den Einsatz der neusten Technologie,<br />
welche direkt zur Verfügung steht, kann ein nahtloser Übergang ohne<br />
Zwischenlösungen stattfinden. Ziel soll sein, dass die Menschen (weiterhin)<br />
gerne am <strong>KSSG</strong> arbeiten und die Arbeit im Sozial- und Gesundheitsbereich<br />
in jeglicher Form mehr Wertschätzung erfährt. Mit dem<br />
Ausbau des Areals und den damit entstandenen Grünflächen und<br />
Sitzmöglichkeiten im Freien, ist ein erster Grundstein gelegt, um das<br />
Wohlbefinden der Mitarbeitenden sowie Patientinnen und Patienten<br />
noch zu steigern.»<br />
ANNA LUBINA<br />
Gruppen-Controllerin, Departement Finanzen<br />
«Ich wünsche mir für das Kantonsspital St.Gallen,<br />
für die Region und für die Mitarbeitenden ein weiterhin<br />
attraktives und auf universitärem Niveau<br />
etabliertes Spital. Die Mitarbeitenden der vier Spitalverbunde<br />
des Kantons St.Gallen sollen dafür an<br />
einem Strang ziehen und zu einer grossen Einheit<br />
zusammenwachsen. Die Region soll von einem<br />
funktionierenden und stabilen Gesundheitswesen<br />
profitieren können.»<br />
DANIEL BJOLL ZELL<br />
Assistenzarzt Neurologie<br />
«Der Anspruch auf beste medizinische Versorgung<br />
mit einer familiären Atmosphäre und guter interdisziplinärer<br />
Zusammenarbeit ist ein Grundwert,<br />
der uns am <strong>KSSG</strong> auszeichnet. Ich hoffe, dass wir<br />
in Zukunft die notwendigen Schritte gehen, um<br />
dieses hohe Niveau zu halten. Angefangen mit einer<br />
erfolgreichen Digitalisierung und einem benutzerfreundlichen<br />
Krankenhausinformationssystem, Verbesserungen<br />
in der Vereinbarkeit von Beruf und<br />
Familie sowie einer bewussten, gegenseitigen<br />
Wertschätzung über alle Berufsgruppen hinweg.<br />
Und bei alldem darf der leckere Kaffee im «al terzo»<br />
natürlich nicht fehlen.»<br />
CARMEN CORDIN<br />
In Ausbildung zur Kindheitspädagogin HF<br />
Kita Spieltrückli<br />
«Im Jahr 2033 sehe ich meinen Beruf «Kindheitspädagogik HF» in der<br />
Kita stärker vertreten. Dabei wollen wir den Eltern einerseits die Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Familie ermöglichen und andererseits mit<br />
unserem vertieften Wissen im Bereich Entwicklungs- und Bildungsprozesse<br />
sowie pädagogische Beziehungsgestaltung jedes Kind in<br />
seiner Individualität und den eigenen Ressourcen abholen. Zudem<br />
möchten wir die individuelle Förderung mit altersgerechten und vielfältigen<br />
didaktischen wie auch methodischen Angeboten gestalten.»<br />
MILENA HENRICH<br />
Stv. Stationsleiterin Nephrologie und<br />
Transplantationsmedizin<br />
«Im Jahr 2033 werden wir auf ein sehr modernes<br />
<strong>KSSG</strong> treffen. Durch diverse Optimierungen, wie<br />
die Implementierung der elektronischen Pflegedokumentation<br />
im stationären Setting, doch vor<br />
allem durch die Praxisentwicklung im Rahmen der<br />
Akademisierung der Pflege werden wir eine flachere<br />
Hierarchie realisieren. Somit ermöglichen wir interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit, welche motiviert,<br />
Hand in Hand aktuelle sowie zukünftige Herausforderungen<br />
zu meistern.»<br />
68<br />
69
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Kantonsspital St.Gallen<br />
Unternehmenskommunikation<br />
Rorschacher Strasse 95<br />
CH-9007 St.Gallen<br />
Tel. +41 71 494 11 11<br />
www.kssg.ch<br />
Historische Recherche und Redaktion:<br />
Widmer Kohler AG<br />
Design:<br />
Kantonsspital St.Gallen<br />
Unternehmenskommunikation<br />
Fotos:<br />
Bodo Rüedi , Christoph Kohler,<br />
Bildarchiv Kantonsspital St.Gallen<br />
Karikatur:<br />
Dr. Markus Oberhauser<br />
Druck:<br />
Schmid-Fehr AG, Goldach<br />
Veröffentlicht im Januar 2023<br />
Drucksache<br />
myclimate.org/05-22-134018<br />
Wie wird das Leistungsangebot des Kantonsspitals<br />
St.Gallen wohl in weiteren 150 Jahren aussehen?<br />
70<br />
71
kompetent<br />
umfassend<br />
nah<br />
Wir sind immer für Sie da –<br />
jeden Tag, rund um die Uhr.<br />
www.kssg.ch/150jahre<br />
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