Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
© Heribert Corn<br />
«Der Zufall ist<br />
für mich Inbegriff<br />
dessen, was<br />
unerwartet eintrifft<br />
und das Leben<br />
verändert.»<br />
Herr Geiger, während der Zeit der Lektüre<br />
Ihres aktuellen Buchs «Das glückliche<br />
Geheimnis» passierte es, dass ich<br />
spätabends beim Nachhausegehen bei<br />
einem Bündel Altpapier, das für die Abfuhr<br />
bereit lag, zögerte. Können Sie das<br />
nachempfinden?<br />
Unbedingt. Das Glück liegt auf der Strasse –<br />
man kann ja nicht alle derartigen Weisheiten<br />
unmittelbar wörtlich nehmen. Diese<br />
sehr wohl. Auf der Strasse begegnet uns<br />
das Zufällige. Und Zufall ist für mich Inbegriff<br />
dessen, was unerwartet eintrifft<br />
und das Leben verändert.<br />
Wenn man’s ganz genau nimmt, ist aber, glaube ich, alles – auch die<br />
Beschäftigung mit Abfall – zunächst Schule des Lebens und erst<br />
in zweiter Linie Schule des Schreibens, dort schlägt sich das Erlebte<br />
und Erfahrene nieder.<br />
Sie zitieren als Motto Imre Kertész: «Immer hatte ich ein heimliches<br />
Leben, und immer war das mein wahres Leben.» Sie<br />
schreiben und entfalten dabei Facetten dieses «heimlichen»<br />
Lebens. Eigentlich ein Vorteil gegenüber Nichtschreibenden.<br />
Oder?<br />
Ich möchte hier nicht in den Fehler verfallen, meine Lebensweise,<br />
die sich für mich bewährt hat, anderen einreden zu wollen. Nicht<br />
jede Geschichte passiert jedem und jeder, man bringt Voraussetzungen<br />
mit. Aber für mich ist es, glaube ich, das bestmögliche Leben.<br />
Dinge stossen mir zu, und indem ich darüber nachdenke und schreibe,<br />
verstehe ich das, was mir zugestossen ist, besser und bekomme<br />
mehr Boden unter die Füsse.<br />
«Jetzt habe ich das Geheimnis<br />
nicht mehr, dafür aber<br />
die Freiheit, davon erzählen<br />
zu können.»<br />
Das bestmögliche Leben<br />
Warum glückliche Geheimnisse auch mal offengelegt gehören<br />
und das Schreiben zum Glück gehört. Arno Geiger gibt Einblicke in<br />
sein neues Buch und die Innenwelten zweier Leben.<br />
Text von Urs Heinz Aerni<br />
Also auch in dem, was andere Menschen<br />
der Entsorgung übergeben?<br />
Abfall ist eine ungemein kraftvolle Ressource<br />
in vielerlei Hinsicht. Und er ist<br />
Massstab einer jeden Kultur, eine der Rückseiten<br />
des Lebens im Kontrast zu den oft<br />
geschönten Vorderseiten.<br />
Eine Art Adelung der profanen Alltagssachen,<br />
im Sinn für das Verstehen<br />
unserer Gesellschaft?<br />
Das in Ungnade Gefallene, das Beiläufige<br />
und Unscheinbare im Abfall hat uns<br />
mindestens so viel und oft andere Dinge<br />
zu sagen als das Geplante, Sensationelle<br />
und Elaborierte.<br />
Es ist ein persönliches, ehrliches<br />
Buch, eigentlich wie auch die anderen<br />
Bücher. In diesem bezeichnen Sie<br />
die Jugend als «Zwischenreich», und<br />
nach dem Studium käme die «Herausforderung,<br />
eine Daseinsform zu finden».<br />
Wie würden Sie die Schnittmenge<br />
zwischen dem physischen und<br />
literarischen Leben beschreiben?<br />
Man kann es eigentlich nicht «Schnittmenge»<br />
nennen, eins geht fliessend ins andere<br />
über. Das Leben wirkt auf das<br />
Schreiben, das Schreiben wirkt zurück<br />
auf die Person, und es entsteht eine<br />
Wechselbeziehung, die sehr vielschichtig<br />
ist und bei der alles ineinandergreift.<br />
Die Lektüre schickt den <strong>Lesen</strong>den quasi in einen Kippzustand<br />
zwischen Geniessen und Unfassbarem …<br />
Ein «heimliches Leben» hat Anteil an beidem, Vorteil und Nachteil.<br />
Einerseits schön, einen Rückzugsraum zu besitzen und sich<br />
zwischendurch denken zu können, ich bin mehr als das, was<br />
ich scheine. Andererseits ist es nicht immer ganz leicht, diesen<br />
Rückzugsraum zu beschützen. Meine Wahrheitsliebe kam<br />
oft unter die Räder. Jetzt habe ich das Geheimnis nicht mehr,<br />
dafür aber die Freiheit, davon erzählen zu können.<br />
Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in<br />
Wien und Wolfurt. Sein Werk<br />
erscheint bei Hanser, zuletzt «Alles<br />
über Sally», «Der alte König in<br />
seinem Exil», «Grenzgehen», «Selbstporträt<br />
mit Flusspferd» und «Unter<br />
der Drachenwand». Er hat eine Vielzahl<br />
an Literaturpreisen und Auszeichnungen<br />
erhalten.<br />
<strong>Lesen</strong> Magazin<br />
Interview<br />
9