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Lesen 01/2023

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© Heribert Corn<br />

«Der Zufall ist<br />

für mich Inbegriff<br />

dessen, was<br />

unerwartet eintrifft<br />

und das Leben<br />

verändert.»<br />

Herr Geiger, während der Zeit der Lektüre<br />

Ihres aktuellen Buchs «Das glückliche<br />

Geheimnis» passierte es, dass ich<br />

spätabends beim Nachhausegehen bei<br />

einem Bündel Altpapier, das für die Abfuhr<br />

bereit lag, zögerte. Können Sie das<br />

nachempfinden?<br />

Unbedingt. Das Glück liegt auf der Strasse –<br />

man kann ja nicht alle derartigen Weisheiten<br />

unmittelbar wörtlich nehmen. Diese<br />

sehr wohl. Auf der Strasse begegnet uns<br />

das Zufällige. Und Zufall ist für mich Inbegriff<br />

dessen, was unerwartet eintrifft<br />

und das Leben verändert.<br />

Wenn man’s ganz genau nimmt, ist aber, glaube ich, alles – auch die<br />

Beschäftigung mit Abfall – zunächst Schule des Lebens und erst<br />

in zweiter Linie Schule des Schreibens, dort schlägt sich das Erlebte<br />

und Erfahrene nieder.<br />

Sie zitieren als Motto Imre Kertész: «Immer hatte ich ein heimliches<br />

Leben, und immer war das mein wahres Leben.» Sie<br />

schreiben und entfalten dabei Facetten dieses «heimlichen»<br />

Lebens. Eigentlich ein Vorteil gegenüber Nichtschreibenden.<br />

Oder?<br />

Ich möchte hier nicht in den Fehler verfallen, meine Lebensweise,<br />

die sich für mich bewährt hat, anderen einreden zu wollen. Nicht<br />

jede Geschichte passiert jedem und jeder, man bringt Voraussetzungen<br />

mit. Aber für mich ist es, glaube ich, das bestmögliche Leben.<br />

Dinge stossen mir zu, und indem ich darüber nachdenke und schreibe,<br />

verstehe ich das, was mir zugestossen ist, besser und bekomme<br />

mehr Boden unter die Füsse.<br />

«Jetzt habe ich das Geheimnis<br />

nicht mehr, dafür aber<br />

die Freiheit, davon erzählen<br />

zu können.»<br />

Das bestmögliche Leben<br />

Warum glückliche Geheimnisse auch mal offengelegt gehören<br />

und das Schreiben zum Glück gehört. Arno Geiger gibt Einblicke in<br />

sein neues Buch und die Innenwelten zweier Leben.<br />

Text von Urs Heinz Aerni<br />

Also auch in dem, was andere Menschen<br />

der Entsorgung übergeben?<br />

Abfall ist eine ungemein kraftvolle Ressource<br />

in vielerlei Hinsicht. Und er ist<br />

Massstab einer jeden Kultur, eine der Rückseiten<br />

des Lebens im Kontrast zu den oft<br />

geschönten Vorderseiten.<br />

Eine Art Adelung der profanen Alltagssachen,<br />

im Sinn für das Verstehen<br />

unserer Gesellschaft?<br />

Das in Ungnade Gefallene, das Beiläufige<br />

und Unscheinbare im Abfall hat uns<br />

mindestens so viel und oft andere Dinge<br />

zu sagen als das Geplante, Sensationelle<br />

und Elaborierte.<br />

Es ist ein persönliches, ehrliches<br />

Buch, eigentlich wie auch die anderen<br />

Bücher. In diesem bezeichnen Sie<br />

die Jugend als «Zwischenreich», und<br />

nach dem Studium käme die «Herausforderung,<br />

eine Daseinsform zu finden».<br />

Wie würden Sie die Schnittmenge<br />

zwischen dem physischen und<br />

literarischen Leben beschreiben?<br />

Man kann es eigentlich nicht «Schnittmenge»<br />

nennen, eins geht fliessend ins andere<br />

über. Das Leben wirkt auf das<br />

Schreiben, das Schreiben wirkt zurück<br />

auf die Person, und es entsteht eine<br />

Wechselbeziehung, die sehr vielschichtig<br />

ist und bei der alles ineinandergreift.<br />

Die Lektüre schickt den <strong>Lesen</strong>den quasi in einen Kippzustand<br />

zwischen Geniessen und Unfassbarem …<br />

Ein «heimliches Leben» hat Anteil an beidem, Vorteil und Nachteil.<br />

Einerseits schön, einen Rückzugsraum zu besitzen und sich<br />

zwischendurch denken zu können, ich bin mehr als das, was<br />

ich scheine. Andererseits ist es nicht immer ganz leicht, diesen<br />

Rückzugsraum zu beschützen. Meine Wahrheitsliebe kam<br />

oft unter die Räder. Jetzt habe ich das Geheimnis nicht mehr,<br />

dafür aber die Freiheit, davon erzählen zu können.<br />

Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in<br />

Wien und Wolfurt. Sein Werk<br />

erscheint bei Hanser, zuletzt «Alles<br />

über Sally», «Der alte König in<br />

seinem Exil», «Grenzgehen», «Selbstporträt<br />

mit Flusspferd» und «Unter<br />

der Drachenwand». Er hat eine Vielzahl<br />

an Literaturpreisen und Auszeichnungen<br />

erhalten.<br />

<strong>Lesen</strong> Magazin<br />

Interview<br />

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