Roșia Montană - Stadtgespräche Rostock
Roșia Montană - Stadtgespräche Rostock
Roșia Montană - Stadtgespräche Rostock
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GEDRUCKTE<br />
GEDRUCKTE<br />
KÖRPERHALTUNG<br />
KÖRPERHALTUNG<br />
KLIMAWANDEL IN ROSTOCK<br />
beschrieben durch:<br />
_ Holger Matthäus<br />
_ Christian Blauel<br />
_ Tilman Schubert<br />
_ Teilnehmer am Anti-Atom-Camp<br />
sowie weiteren Beiträgen von :<br />
Olaf Spillner, Marco Voß, Klaus Blaudzun, Wanja Tolko, Andrea Krönert,<br />
Cornelia Mannewitz, Jens Langer und Joachim Cotaru<br />
MAGAZIN<br />
FÜR FÜR BEWEGUNG,<br />
MOTIVATION UND UND<br />
DIE DIE NACHHALTIGE<br />
KULTIVIERUNG<br />
DER DER REGION ROSTOCK<br />
stadtgespraeche- stadtgespraeche- rostock.de rostock.de<br />
ISSN ISSN 0948-8839 0948-8839<br />
ERSCHEINT<br />
ERSCHEINT<br />
QUARTALSWEISE<br />
QUARTALSWEISE<br />
SEIT SEIT 1994 1994<br />
AUSGABE NR.<br />
17. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €
<strong>Rostock</strong> I (47,1%)<br />
ERSTSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
ZWEITSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
<strong>Rostock</strong> III (58,7%)<br />
ERSTSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
ZWEITSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
34,5%<br />
17,6%<br />
26%<br />
2%<br />
5,5%<br />
9,2%<br />
34,9%<br />
15,9%<br />
24,5%<br />
2,3%<br />
5,6%<br />
9,7%<br />
Warnemünde, Markgrafenheide, Hohe Düne, Diedrichshagen, Lichtenhagen,<br />
Groß Klein und Schmarl<br />
41,5%<br />
18,4%<br />
18,2%<br />
2,5%<br />
2,7%<br />
13,8%<br />
32,7%<br />
17,0%<br />
18,0%<br />
2,5%<br />
2,8%<br />
19,1%<br />
Reutershagen (nur ,,Komponistenviertel“), Kröpeliner-Tor-Vorstadt,<br />
Hansaviertel, Gartenstadt, Südstadt und Biestow<br />
<strong>Rostock</strong> II (49,6%)<br />
ERSTSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
ZWEITSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
<strong>Rostock</strong> IV (49,8%)<br />
ERSTSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
ZWEITSTIMME<br />
SPD<br />
CDU<br />
Linke<br />
FDP<br />
NPD<br />
Grüne<br />
Zur Erinnerung: Die <strong>Rostock</strong>er Wahlergebnisse zum Landtag in MV 2011 - das für uns<br />
Überraschende haben wir etwas hervorgehoben ...<br />
38,6%<br />
14,7%<br />
30,3%<br />
1,7%<br />
5,3%<br />
9,4%<br />
38,2%<br />
13,4%<br />
26,8%<br />
1,6%<br />
5,0%<br />
8,6%<br />
Lütten Klein, Evershagen und Reutershagen (ohne ,,Komponistenviertel“)<br />
31,5%<br />
22,8%<br />
22,7%<br />
2,7%<br />
3,9%<br />
16,4%<br />
30,6%<br />
18,1%<br />
19,3%<br />
3,2%<br />
3,9%<br />
16,8%<br />
Stadtmitte, Brinckmansdorf, Dierkow-Ost, Dierkow-West, Dierkow-<br />
Neu, Toitenwinkel, Gehlsdorf, Hinrichsdorf, Krummendorf, Nienhagen,<br />
Peez,Stuthof, Jürgeshof, Hinrichshagen, Wiethagen und Torfbrücke<br />
FOTO: TOM MAERCKER . KEINE ANZEIGE!
00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
ein Schwerpunkt des aktuellen<br />
Hefts ist nach diesem Sommer<br />
wohl naheliegend: „Der Klimawandel<br />
ist in <strong>Rostock</strong> angekommen“,<br />
fasst Umweltsenator Holger<br />
Matthäus in seinem gleichnamigen<br />
Beitrag zusammen, was<br />
vielen von uns durch den Kopf<br />
gehen mag. Sein Resümee erörtert<br />
natürlich, ebenso wie der Beitrag von Christian Blauel, die sich daraus<br />
ergebenden Konsequenzen und nun nötigen Schritte – Appelle<br />
nicht nur an den politischen Raum, sondern auch an Eigenverantwortung<br />
und soziales Miteinander.<br />
Auch kulturell hat sich in den letzten Wochen Einiges ereignet: Das<br />
neue Theaterzelt steht, der Medienwerkstatt wurde der diesjährige <strong>Rostock</strong>er<br />
Kulturpreis verliehen, neue Folgen von „Polizeiruf 110“ entstehen<br />
in <strong>Rostock</strong> – all dies Anlässe, genauer hinzusehen. Der Beitrag von<br />
Cornelia Mannewitz denkt darüber nach was „Theater im Zelt“ für Institution<br />
und Stadt bedeutet, Marco Voß beschreibt Potentiale und Limits<br />
der Medienstadt <strong>Rostock</strong> und die Dankesrede von Klaus Blaudzun<br />
für den o.g. Kulturpreis ist gleichzeitig auch kritische Analyse eines Akteurs,<br />
der nicht in Hamburg, sondern in <strong>Rostock</strong> weiterwirken möchte.<br />
Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen auch die Beiträge über den<br />
Widerstand gegen die Schweinemastanlage in Alt Tellin und die Goldmine<br />
in Rosia Montana und ein Resümee der Teilnehmer am Anti-<br />
Atom-Camp auf dem <strong>Rostock</strong>er Neuen Markt – sämtlichst Plädoyers<br />
dafür, die Dinge nicht einfach so „laufen zu lassen“, seine Stimme zu erheben.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen nicht nur eine interessante<br />
Lektüre sondern auch einen aktiven Herbst<br />
Ihre Kristina Koebe<br />
Inhalt dieses Heftes<br />
Tilman Schubert: Wohnungsmarkt in <strong>Rostock</strong> . . 2<br />
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Interview mit Holger Matthäus: Der<br />
Klimawandel hat <strong>Rostock</strong> erreicht . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Christian Blauel: Bausteine zur 2000-Watt-<br />
Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Olaf Spillner: Rettet das Landleben . . . . . . . . . . . 11<br />
Das Anti-Atom-Camp - Stadtgespräch mit<br />
Teilnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
Marco Voß: Ist <strong>Rostock</strong> eine Filmstadt? . . . . . . . . 17<br />
Cornelia Mannewitz: Keine Orte. Überall . . . . . 19<br />
Klaus Blaudzun: Anstiftung zur fortgesetzten<br />
Unruhestiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Wanja Tolko: Mit Ruhe und Geduld . . . . . . . . . . 22<br />
Joachim Cotaru: <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>: Es geht um<br />
mehr als nur Gold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />
Jens Langer: Riots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
Jens Langer: Die Spur der Ringe . . . . . . . . . . . . . . 28<br />
Andrea Krönert: Herausforderungen und<br />
Stolpersteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
<strong>Rostock</strong>er Friedensbündnis: Rettet den Standort 32<br />
Endlich die Antwort auf viele Fragen ...<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.2 __ //// WOHNEN IN ROSTOCK | IMPRESSUM<br />
Wohnungsmarkt in <strong>Rostock</strong><br />
Ist der Wohnraum sein Geld wert?<br />
TILMAN SCHUBERT<br />
Die Situation auf dem <strong>Rostock</strong>er Wohnungsmarkt hat sich innerhalb des letzten Jahres deutlich verschärft – inzwischen sind<br />
Mieten von bis zu 10 €/m2 keine Seltenheit mehr. Was steckt dahinter und wie geht man mit der Situation um? Der Autor, Betroffener<br />
und Volkswirt, findet interessante Antworten auf diese Fragen.<br />
Vor einem Jahr begannen meine Frau und ich nach einer geeigneten<br />
Wohnung zu suchen, in der wir eine Familie gründen<br />
können. Wir hatten die Erwartung, einfach im Internet und in<br />
den typischen kostenlosen Zeitungen zu suchen und zu finden.<br />
Bis uns klar wurde – das dauert länger! Wir wohnten bisher in<br />
einer 2-Zimmer-Dachgeschosswohnung direkt am Doberaner<br />
Platz. Lange haben wir immer wieder auftretende Mängel an<br />
der Wohnung moniert, bis wir verstanden, dass wir für 6,50 €<br />
Kaltmiete pro Quadratmeter in einer ausgesprochen günstigen<br />
Wohnung leben. Von da an gingen wir lockerer mit den Mängeln<br />
um und öffneten unseren Blick bei Suche auf bisher<br />
scheinbar unerreichbare Objekte. Die Frage war bleibt die altbekannte:<br />
Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?<br />
Gucken wir uns einmal die Fakten an. <strong>Rostock</strong> liegt recht zentral<br />
an der Küste von M-V, hat eine Universität sowie einige –<br />
auf Landesebene bedeutende – kleine und mittelständische<br />
Unternehmen sowie ein paar Großunternehmen als Arbeitgeber<br />
in der Region (Region versteht sich hierbei als <strong>Rostock</strong> und<br />
dem Landkreis Bad Doberan). Viele <strong>Rostock</strong>er sind nach dem<br />
Fall der Mauer in den Landkreis Bad Doberan oder gleich in<br />
den „Westen“ gezogen und die Einwohnerzahl sank von knapp<br />
unter 250.000 (1989) erst auf unter und dann wieder auf etwas<br />
über 200.000 (2010). Was war geschehen? Nach der Schließung<br />
der Werften verloren viele Einwohner ihre Arbeit, die zuvor<br />
oftmals recht einträglich war. Noch heute hört man von<br />
vielen Mittvierzigern bis Mittfünfzigern die Geschichten von<br />
damals, als es einem noch gut ging und man nicht „stempeln<br />
gehen“ musste. Der Begriff „Hartz IV“ wird bewusst vermieden.<br />
Wo lebten diese <strong>Rostock</strong>er? Meist in den Neubauvierteln, die<br />
in den 1980ern den höchsten Wohnungskomfort boten. Die<br />
jüngsten Neubauviertel – auch, mehr oder weniger liebevoll,<br />
„Platte“ genannt – sind dabei Teile Dierkows und Toitenwinkels.<br />
Was war in den anderen Vierteln los? Die östliche und<br />
nördliche Altstadt waren Ende der Achtziger enorm sanierungsbedürftig,<br />
ähnlich sah es in der Kröpeliner-Tor-Vorstadt<br />
(KTV) sowie in Teilen der Steintorvorstadt (STV) aus. In den<br />
Vierteln Biestow, Gartenstadt, Kassebohm und Brinkmansdorf<br />
wurde nach Möglichkeit das Einfamilienhaus gepflegt, in Reutershagen<br />
und der Südstadt lebte man schon seit den 1960ern<br />
in vergleichbar komfortablen Nachkriegswohnungen. Daraus<br />
lässt sich schon ableiten, welche Entwicklungen die jeweiligen<br />
Viertel gehen würden.<br />
Während in den Vierteln die kaum Sanierungsbedarf hatten<br />
im Grunde alles beim Alten blieb und die WIRO und andere<br />
große Wohnungsgenossenschaften heute die meisten Objekte<br />
betreiben, entwickelte sich in der Altstadt, der STV und vor allem<br />
auch der KTV ein reger Immobilienmarkt. Studenten zogen<br />
in die beliebten und oft WG-fähigen 2-3-Zimmerwohnungen<br />
der KTV, deren Häuser meist in Hand von Investoren sind,<br />
die Villen der STV gingen überwiegend in private Hände und<br />
sind beliebtes Viertel für Familien, oftmals mit akademischem<br />
Hintergrund. In der Altstadt ist es ähnlich, wobei die Wohnungen<br />
oft nicht so groß sind wie in der STV.<br />
Dieser Transformationsprozess – verkürzt und unwissenschaftlich<br />
dargestellt – vollzog sich bis vor ca. 10 Jahren. Seit dem ist<br />
eine gewisse Ruhe eingekehrt, wenn es darum geht, noch ein<br />
Schnäppchen zu machen. Seit dieser Zeit war es natürlich weiterhin<br />
möglich ein Objekt zu kaufen, aber dann eben schon<br />
von einem Vorbesitzer aus der Zeit nach der Wiedervereinigung.<br />
Mit anderen Worten, der Markt hat sich „konzentriert“.<br />
Der Wohnungsmarkt soll hier für Mietwohnungen modelliert<br />
werden und stellt sich nun wie folgt dar: Mietwohnungen sind<br />
an sich in <strong>Rostock</strong> keine Mangelware. Nur die Lage ist entscheidend.<br />
Am teuersten ist derzeit nach Aussage verschiedener<br />
Immobilienmakler die KTV. Dort werden für die nächsten<br />
Jahre Preise von über 10 € je Quadratmeter angestrebt. Erste
Objekte überschreiten bereits die 9,50 €. Die qualitativ hochwertige Ausstattung dieser<br />
Wohnung rechtfertigt sicher einen Teil des Preises, die Lage einen anderen, aber<br />
der Rest?<br />
Hier stellt die Frage, was ein angemessener Mietpreis eigentlich ist. Zudem sollte vom<br />
Budget ausgegangen werden. Das durchschnittliche verfügbare Einkommen eines<br />
Zweipersonenhaushalts in M-V betrug im Jahr 2009 rund 30.500 € (zum Vergleich:<br />
1999 waren es 26.174 €). Geht man davon aus, dass ein Drittel des Einkommens für<br />
Wohnen ausgegeben wird, sollten es im Jahr 2009 für den Durchschnittmieter nicht<br />
mehr als 10.167 € gewesen. Es ergeben sich monatlich demnach knapp 850 € für eine<br />
Warmmiete. Das klingt erst einmal nach viel, kalkuliert man die Nebenkosten aber<br />
realistisch mit 2,50 € je Quadratmeter, so kommt man auf eine Wohnungsgröße von<br />
etwas unter 90 Quadratmetern bei angenommenen 7 € Kaltmiete.<br />
Guckt man nun auf die Realität, sieht man, dass die <strong>Rostock</strong>er für gewöhnlich nicht<br />
in solchen Wohnungen leben. Woran liegt das? Einerseits ist die Annahme von 7 €<br />
Kaltmiete problematisch – viele Wohnungen sind teurer – der Mieter muss auf<br />
Wohnraum verzichten. Andererseits wurde die Verteilung des Einkommens nicht berücksichtigt<br />
und somit die Tatsache ausgeblendet, dass viele Menschen sich so eine<br />
Modellwohnung gar nicht leisten können und andere entsprechend größere und/oder<br />
teurere. Eine dritte Tatsache: Viele Mieter und auch Käufer von Wohnobjekten geben<br />
mehr als ein Drittel ihres verfügbaren Budgets für das Wohnen aus. Das ist kritisch zu<br />
betrachten, da eine Abhängigkeit von mehreren in einander greifenden Faktoren entsteht.<br />
Diese ungleiche Verteilung der Einkommen bzw. die Bereitschaft vieler Mieter aufgrund<br />
von Lage und anderen Faktoren einen hohen Mietpreis zu zahlen, eröffnet derzeit<br />
vor allem Maklern eine enorme Geschäftsgrundlage. Die Arbeit dieser Vermittler<br />
ist durchaus sinnvoll und die Bezahlung der Dienste ist gesetzlich geregelt. Ihre Inanspruchnahme<br />
kann sich durchaus lohnen, insbesondere wenn der Zeitdruck groß ist<br />
oder man ein für lange Zeit zu nutzendes Objekt sucht. Allerdings tut sich in auch<br />
immer wieder der Verdacht auf, dass es enge Verstrickungen mit Wohnungsverwaltungsgesellschaften<br />
gibt.<br />
Was ist der Ausweg für Wohnungsinteressenten? Es gibt leider keinen! Entweder ist<br />
man bereit, den hohen Preis zu zahlen, oder man gibt seine Vorstellungen über Lage<br />
und Ausstattung der zukünftigen Wohnung auf. Man kann und muss also selbst entscheiden,<br />
wozu man bereit und in der Lage ist. Solange aber Wohnobjekte in Vierteln<br />
wie der KTV eine so große Nachfrage haben, wird sich an der momentanen Situation<br />
nichts ändern. Die hohe Fluktuation von Mietern und der nicht endende Strom jährlich<br />
neuer hinzukommender Studenten unterstützen eine Preisentwicklung nach<br />
oben. ¬<br />
Impressum<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 64:<br />
„Prima Klima”<br />
Ausgabe September 2011<br />
(Redaktionsschluss: 20. September 2011)<br />
Herausgeber<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />
für eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />
Redaktion und Abonnement<br />
PF 10 40 66<br />
18006 <strong>Rostock</strong><br />
Fax: 03212-1165028<br />
E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />
Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />
Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Tom Maercker<br />
Redaktion:<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Peter Koeppen<br />
Dr. Jens Langer<br />
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />
und werden von den Autorinnen und Autoren<br />
selbst verantwortet.<br />
Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />
Mediadaten:<br />
Gründung: 1994<br />
Erscheinung: 17. Jahrgang<br />
ISSN: 0948-8839<br />
Auflage: 25 0 Exemplare<br />
Erscheinung: quartalsweise<br />
Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />
Herstellung: KDD<br />
Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />
(ermäßigt / gültig für 2011)<br />
3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />
4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />
Details auf unserer Website im Internet<br />
Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />
Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 41/80<br />
die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />
Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />
Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />
Foto-Studio Zimmert, Lange Str. 12<br />
Printzentrum, <strong>Rostock</strong>er Hof, Kröpeliner Str. 26<br />
buch...bar Carmen Hamann, Altschmiedestr. 27<br />
Bankverbindung<br />
(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />
Kto.: 1203967<br />
BLZ: 13090000<br />
bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />
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Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />
Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />
Einen Aboantrag finden Sie auf S. 9 (bzw. als<br />
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unserer Website im Internet).
FOTO: TOM MAERCKER
00.5 __ //// KLIMAWANDEL<br />
Der Klimawandel<br />
hat <strong>Rostock</strong> erreicht<br />
INTERVIEW MIT HOLGER MATTHÄUS, ROSTOCKER SENATOR FÜR BAU UND UMWELT, ZU DEN EXTREMWETTERSITUATIONEN<br />
2011 UND SICH DARAUS ERGEBENDEN KONSEQUENZEN<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Die Extremwetterlagen der letzten Monate haben<br />
gezeigt, dass Stadt und Region <strong>Rostock</strong> nur bedingt auf solche<br />
Situationen vorbereitet sind. Welche Maßnahmen werden getroffen,<br />
um mit zukünftigen ähnlichen Situationen besser umzugehen<br />
(kurzfristig und langfristig-strategisch)?<br />
Holger Matthäus: Zur aktuellen Erinnerung: Wir hatten innerhalb<br />
weniger Monate drei unterschiedliche Wetterextreme.<br />
Wiederum einen Wintermonat Dezember 2010 mit ungewöhnlich<br />
hoher Schneedecke und lang anhaltenden Minusgraden.<br />
Dann die wochenlange extreme Trockenheit im<br />
März/April 2011, die zu dem verheerenden Staubsturm südlich<br />
von <strong>Rostock</strong> führte und den todbringenden Massenunfall<br />
verursachte. Bereits Anfang Juli gab es dann starke Niederschläge.<br />
Der Höhepunkt aber begann am 23.07.2011. Mit 111<br />
l/m2 innerhalb von 24h wurde eine nicht für möglich gehaltene<br />
Niederschlagsmenge in <strong>Rostock</strong> gemessen. Damit nicht genug.<br />
Fast im Wochentakt traten ähnlich Extremereignisse noch<br />
zweimal ein. Im Zeitraum Juli/August 2011 fiel der gesamte<br />
Jahresniederschlag aus den Wolken. Der Klimawandel hat <strong>Rostock</strong><br />
erreicht.<br />
Um es ganz klar zu sagen: Gegen Extremereignisse gibt es keinen<br />
Rundherum-Vollschutz! Wir können und müssen damit<br />
zu leben lernen. Aber wir müssen auch endlich strategisch vorbereitet<br />
daran arbeiten, Schäden an materiellen Werten auf ein<br />
vertretbares Maß zu minimieren und selbstverständlich an<br />
Menschen möglichst vollständig auszuschließen. Bis jetzt haben<br />
wir nur reagiert. Es wird Zeit zu agieren. Die konkreten<br />
Aufgaben zur Anpassung an einen - bis vor Kurzen von vielen<br />
noch abgestrittenen - Klimawandel ist erst seit wenigen Jahren<br />
in der gesellschaftlichen Diskussion. Die Bundesregierung legte<br />
erstmals 2011 ein Handlungspapier vor.<br />
Wir brauchen klare Verantwortlichkeiten und die Organisation<br />
eines schnellen und effektiven Zusammenspiels der Akteure<br />
in Form von Alarm- und Handlungsplänen für solche Ereignisse<br />
– kurz unterhalb des Schwellwertes zur Auslösung eines<br />
wirklichen Katastrophenalarms. Der normale städtische Verwaltungsapparat<br />
gelangt schnell an seine Handlungsgrenzen.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Welche konkreten Entscheidungen/Maßnahmen<br />
wurden bereits getroffen/ergriffen, um mit den Schäden, die diesen<br />
Sommer entstanden sind, umzugehen?<br />
Holger Matthäus: Im Rahmen der Gefahrenabwehr wurden<br />
durch die Kameradinnen und Kameraden der Feuerwehren<br />
und des Technischen Hilfswerks seit den ersten dramatischen<br />
Stunden Sagenhaftes geleistet. Durchgehend waren die Helfer<br />
im Einsatz, bedienten Pumpen und stapelten Sandsäcke. Herzlichen<br />
Dank an alle Einsatzkräfte!<br />
Durch den Wasser- und Bodenverband wurde in enger Abstimmung<br />
mit der Stadtverwaltung eine Reihe von kurzfristigen<br />
Maßnahmen durchgeführt. Es wurden im Bereich des Schmarler<br />
Baches und des Laakkanals Bypässe ausgebaggert, um die<br />
anstehenden Wassermassen schneller in die Warnow fließen zu<br />
lassen. Ein zusätzliches mobiles Schöpfwerk konnte erst nach<br />
Entspannung im Bereich des Stromgrabens in Graal-Müritz<br />
umgesetzt werden und beschleunigte das Ausschöpfen des etwa<br />
1 m unter Ostseewasserpegel liegendes Laakgebiets.<br />
Trotzdem waren diese Aktionen in der Summe nicht ausreichend;<br />
unsere Entwässerungssysteme sind generell nicht für<br />
diese Wassermengen ausgelegt. Die bis heute geltenden technischen<br />
Regeln für Entwässerungssysteme wurden eingehalten.<br />
Diese Regeln basieren jedoch auf Eintrittswahrscheinlichkeiten<br />
von extremen Wetterereignissen. Offensichtlich muss hier<br />
nachgeregelt werden.
00.6 __ //// KLIMAWANDEL | ENERGIEVERBRAUCH<br />
Aktuell sind Finanzierungen von 580.000 € geplant. Diese<br />
wurden durch den Hauptausschuss der Bürgerschaft umgehend<br />
gebilligt. Zusammen mit der inzwischen erfolgten Schadenserhebung<br />
an der öffentlichen Infrastruktur haben wir beim Innenministerium<br />
unseres Landes Anträge auf Sonderzuweisungen<br />
in Höhe von 943.000 € gestellt.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Welche Aktivitäten erhoffen/erwünschen Sie sich<br />
von anderen Gremien/ Institutionen bzw. seitens der <strong>Rostock</strong>er<br />
Bürger? Wo sehen Sie anderen Behörden / Institutionen in der<br />
Verantwortung?<br />
Holger Matthäus: Wir stehen, ähnlich wie beim Klimaschutz<br />
und der eingeleiteten Energiewende, auch bei der Anpassung<br />
an den beginnenden Klimawandel vor riesigen Herausforderungen<br />
an die gesamte Stadtgesellschaft. Alle sind aufgefordert,<br />
sich in diese Prozesse einzubringen. Während wir bei der Energiewende<br />
das Ziel klar formulieren können – die vollständige<br />
Ablösung fossiler Energieträger – tasten wir uns bei Auswirkungen<br />
der Klimaänderungen und nötiger Anpassung erst<br />
langsam voran. Das Ausmaß der Klimaänderungen ist derzeit<br />
nicht genau definierbar.<br />
Die Bürgerschaft hat aktuell beschlossen, dass die Stadtverwaltung<br />
bis Mitte 2012 ein geeignetes erstes Konzept zur Anpassung<br />
vorzulegen hat. Ich orientiere auf die feste Etablierung einer<br />
strategischen Arbeitsgruppe unter breiter Einbeziehung des<br />
in unserer Stadt vorhandenen Fachwissens, einschließlich unserer<br />
<strong>Rostock</strong>er Universität.<br />
Nach den Starkregenereignissen sind mehrere Arbeitsgruppen<br />
in den betroffenen Stadtgebieten etabliert worden. Hier arbeiten<br />
alle auf gleicher Augenhöhe zusammen und beraten, wie<br />
wir Schäden beseitigen, welche Konzepte wir brauchen und<br />
wie die Umsetzungen notwendiger Maßnahmen erfolgen müssen.<br />
Mir geht es um offene und bürgernahe Aufgabenabarbeitung.<br />
Übrigens auch bei der Bewältigung winterlicher Extremlagen<br />
sind wir so aufgestellt, die Maßnahmen mit allen Interessierten<br />
und insbesondere auch den Ortsbeiräten und damit den<br />
Menschen vor Ort abzustimmen. Stichwort „Winterdienstklausur“.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Haben die klimatischen Veränderungen Auswirkungen<br />
auf die weitere Stadtentwicklung/Stadtplanung? Wenn<br />
ja: Inwiefern?<br />
Holger Matthäus: Wir werden den Flächennutzungsplan<br />
(FNP) unserer Stadt dahingehend überprüfen müssen, wie wir<br />
bei der Nutzung von Flächen solchen Extremen begegnen können.<br />
Einzig auf die Abwehr eines Ostseebemessungshochwassers<br />
ist der FNP derzeit hinreichend ausgerichtet. Starkregen<br />
und damit praktisch Binnenhochwasser, Hitze und Trockenheit<br />
oder auch Orkane müssen als Maß unserer Natur mit in<br />
den FNP eingepflegt werden. Auf der FNP-Ebene stehen der<br />
Umgang mit den historischen Entwässerungsachsen zur Warnow,<br />
die Entwicklung der Grünachsen und damit die Verbesse-<br />
rung des Mikroklimas in dicht bebauten Stadtgebieten, und natürlich<br />
die Überprüfung geplanter großer Wohngebiete am<br />
Stadtrand <strong>Rostock</strong>s im Fokus.<br />
Das Amt für Umweltschutz hat bereits 2010 begonnen, hydraulisch-hydrologische<br />
Begutachtungen durch Fachbüros erarbeiten<br />
zu lassen. Für den Bereich des Diedrichshäger Moors<br />
stehen wir, nachdem das Gutachten nun vorliegt, bereits im<br />
konkreten Umsetzungsprozess. Ein hydraulisch-hydrologisches<br />
Gutachten für das gesamte Stadtgebiet steht vor der Beauftragung,<br />
für den Bereich Schmarler Bach ist ein gesondertes Gutachten<br />
ausgelöst worden.<br />
Weiterhin arbeiten wir als Stadt bei zwei umfassenden Projekten<br />
zur Anpassung an den Klimawandel mit: RADOST – Anpassungsstrategien<br />
an der deutschen Ostseeküste sowie in einem<br />
interaktiven Prozess mit der HafencityUniversität Hamburg.<br />
Hierbei wird unter Leitung der Forschungsgruppe plan-<br />
Baltic der HafenCityUniversität Hamburg mit vielen Fachleuten<br />
unterschiedlichster Fachrichtungen unter dem Motto „Zukunft<br />
aktiv gestalten“ über die Auswirkungen des Klimawandels<br />
in <strong>Rostock</strong> beraten. Kernfragen sind: Wie verändert der<br />
Klimawandel <strong>Rostock</strong> und sein Umland? Welche Auswirkungen<br />
hat er auf den Hafen, den Tourismus, die Bevölkerung oder<br />
die Umwelt?<br />
Und es gibt noch viel mehr Fragen, die wir formulieren und auf<br />
die wir gemeinsam Antworten finden müssen. ¬
Bausteine zur 2000-Watt-<br />
Gesellschaft<br />
CHRISTIAN BLAUEL<br />
Wir leben in unserer heutigen Gesellschaft über unsere Verhältnisse.<br />
Die sich seit vielen Jahren ankündigenden Klimaveränderungen<br />
sind von einer abstrakten, „nicht vorstellbaren“<br />
Drohung von Umweltaktivisten zur spürbaren Bedrohung geworden.<br />
Immer häufiger auftretende Klimaextreme – die Rekordregenfälle<br />
des vergangenen Sommers sind noch nicht abgetrocknet<br />
– zeigen uns deutlich, auf was wir uns vorbereiten<br />
müssen, wenn wir den Umgang mit unserer Erde nicht schnell<br />
und drastisch verändern.<br />
Aus der Schweiz kommt die Idee der 2000-Watt-Gesellschaft.<br />
Hierbei wird als Leitbild formuliert, dass wir uns in Zukunft<br />
auf einen Energieverbrauch von 2000 Watt pro Person beschränken<br />
– zurzeit verbraucht jeder Mensch in den westeuropäischen<br />
Industriegesellschaften mehr als 6000 Watt. Dieses<br />
ehrgeizige Ziel kann nur durch eine langfristige Veränderung in<br />
allen Lebensbereichen erreicht werden. Ca. 30% der Energie<br />
verbrauchen wir in den privaten Haushalten, 35% verbrauchen<br />
wir für unsere Mobilität. Somit tragen unsere Städte und die<br />
Organisation ihrer Verbindung miteinander entscheidend zum<br />
Gesamtenergieverbrauch bei. Mit einer vorausschauenden Entwicklung<br />
unserer Städte können wir entscheidend zum Erreichen<br />
der Klimaschutzziele beitragen. Wir werden dies Ziel<br />
nicht allein mit einer immer weiter verschärften Energieein-<br />
FOTO: CHRISTIAN BLAUEL
00.8 __ //// ENERGIEVERBRAUCH<br />
sparverordnung erreichen – es bedarf vielmehr einem übergreifenden<br />
Ansatz an vielen Stellen.<br />
Transparenz und Information<br />
Stadt entsteht durch das Zusammenwirken Vieler. Transparenz<br />
bei allen Entscheidungsstrukturen ist Grundvoraussetzung zur<br />
Teilhabe aller Bewohner und Nutzer einer Stadt an den Prozessen<br />
ihrer Entstehung. Für die Wahrnehmung von Transparenz<br />
ist Information über anstehende Projekte die Grundvoraussetzung<br />
– dies gelingt nur durch gute Kommunikation zwischen<br />
allen Beteiligten. Der Umbau unserer Städte erfordert viele<br />
Veränderungen, die uns alle betreffen werden. Er erfordert<br />
Konsensentscheidungen. Die Veränderungen dürfen nicht als<br />
Einschnitte und Verlust von Lebensqualität empfunden werden.<br />
Sonst werden sie von vielen Bürgern als Bedrohung bekämpft.<br />
Für das Gefühl der Teilhabe bedarf es vielfältiger Formen der<br />
Bürgerbeteiligung unter Anwendung bekannter Werkzeuge<br />
und mit dem Mut, neue Verfahren auszuprobieren.<br />
In die richtige Richtung geht die Entwicklung des Strukturkonzeptes<br />
in Warnemünde mit den vorgeschalteten Bürger-Foren.<br />
Wichtig erscheint mir hierbei, dass diese Veranstaltungen tatsächlich<br />
offen sind für alle Bevölkerungsgruppen. Die Beteiligungsprozesse<br />
sollten durch unabhängige Mediatoren angeleitet<br />
werden und dürfen nicht zur Legitimation einer vorgefertigten<br />
Lösung der Fachverwaltungen verkommen. Die offenen<br />
Foren ersetzen nicht die bewährten Formen der formalisierten<br />
Bürgerbeteiligung innerhalb der Planungsprozesse. Diese sind<br />
weiterhin notwendig, jedoch nicht mehr ausreichend. Der<br />
mündige Bürger der Stadtgesellschaft fordert eine umfassende<br />
und detaillierte Information über anstehende Prozesse und<br />
Projekte in der Stadt. Er möchte eigene Vorstellungen in die<br />
Planungsprozesse einbringen und als Partner der Politik und<br />
der Verwaltung verstanden werden. Um dies zu erreichen, sollten<br />
öffentlichen Verwaltungen auch verstärkt alle Möglichkeiten<br />
moderner Kommunikation ausnutzen – Themenblogs, aktive<br />
Webseiten oder Online-Zugriff auf alle Entscheidungsgrundlagen<br />
verbessern die Akzeptanz von Prozessen.<br />
Innenentwicklung vor Außenentwicklung<br />
Nach langen Jahren des Schrumpfens hat sich die Bevölkerungszahl<br />
von <strong>Rostock</strong> inzwischen bei 200.000 Einwohnern<br />
stabilisiert. Die Flucht aufs Land in die Einfamilienhausgebiete<br />
im Speckgürtel der Stadt konnte gestoppt werden. Dazu beigetragen<br />
hat sicherlich auch, dass <strong>Rostock</strong> in den letzten Jahren<br />
vermehrt stadtnahe Baugebiete ausgewiesen hat. Inzwischen ist<br />
es wieder schick geworden, in der Stadt zu wohnen. Die Nachfrage<br />
nach innerstädtischen Wohnungen ist stark gestiegen.<br />
Um diese Entwicklung zu stützen ist es wichtig, dass die Stadt<br />
verfügbare innerstädtische Flächen entwickelt und verfügbar<br />
macht. Neben der Aktivierung von bereits für das Wohnen erschlossenen<br />
Flächen – Östlich der Stadtmauer, Güterbahnhof,<br />
Holzhalbinsel, aber auch Flächen wie dem Glatten Aal – sollte<br />
die Umwandlung von Flächen, die bisher für andere Nutzung<br />
reserviert sind, Ziel der zukünftigen Entwicklung sein. Hier<br />
kommen aus meiner Sicht vor allem Flächen am Hafen in Frage.<br />
Die ehemalige Deponie in Dierkow und das Gewerbegebiet<br />
Osthafen sind Flächen, die sich für die Nachverdichtung eignen.<br />
Aber auch im Bereich des Fischereihafens gibt es noch Flächenreserven.<br />
Bestehende B-Pläne oder Ausweisungen von<br />
Wohngebieten in Randbereichen der Stadt und im Umland<br />
sollten kritisch geprüft und nach Möglichkeit beschnitten werden.<br />
Durch Kooperationen bis hin zu Eingemeindungen von<br />
Umlandgemeinden im Speckgürtel der Stadt sollten die Planungsziele<br />
harmonisiert werden.<br />
Mobilität<br />
Mobilität ist einerseits Voraussetzung unserer globalisierten<br />
Welt – andererseits erlauben uns die heutigen Kommunikationstechnologien,<br />
dass wir in Echtzeit an vielen Dingen weltweit<br />
teilnehmen können, ohne uns physisch von der Stelle zu<br />
bewegen. Vorrangiges Ziel nachhaltiger Stadtentwicklung muss<br />
die Vermeidung von (unnötiger) Mobilität sein. Wir müssen<br />
uns wieder darauf besinnen, welche Wege tatsächlich notwendig<br />
sind. Wichtigster Ansatz hierbei ist die Konzentration der<br />
Entwicklung auf die gut erschlossenen Kerngebiete und die<br />
Stärkung der dezentralen Infrastruktur im ländlichen Raum.<br />
Hinzu kommt der Ausbau eines leistungsstarken öffentlichen<br />
Personen-Nahverkehr (ÖPNV) in einem Umweltverbund zwischen<br />
Land und Stadt. Wer in der Stadt wohnt und arbeitet,<br />
benötigt keinen PKW. Es muss daher Ziel einer Stadtentwicklung<br />
sein, ausreichend attraktive Wohnstandorte für jeden<br />
Geldbeutel in den erschlossenen Kernbereichen der Stadt anzubieten.<br />
Weiterhin ist es wichtig, die Arbeitsplätze möglichst<br />
nah an den Wohnstandorten anzusiedeln. In unserer Dienstleistungsgesellschaft<br />
verschwimmt an vielen Stellen die Grenze<br />
zwischen Arbeit und Freizeit – viele Beschäftigungen werden<br />
in Zukunft von zu Hause möglich sein.<br />
Haushalte im ländlichen Raum unterhalten in der Regel mehrere<br />
Fahrzeuge. Durch eine Verbesserung der ÖPNV-Anbindung<br />
(z.B. Stadtbahn oder Bus) können unnötige Fahrten mit<br />
dem privaten PKW vermieden werden. Entwicklungsschwerpunkt<br />
sollte die Verknüpfung der Mobilitätskette sein. Die Zukunft<br />
gehört den elektrisch angetriebenen Kleinstfahrzeugen –<br />
der momentane Boom der E-Bikes ist der Einstieg hierzu.<br />
Großzügig Park and Ride Parkplätze und Radstationen an allen<br />
wichtigen Umsteigepunkten können Pendlern die Nutzung der<br />
ÖPNV-Verbindungen erleichtern. Unbedingt auszuweiten sind<br />
die Verbindungen ins Umland.<br />
Ein weiterer wichtiger Baustein ist der Ausbau der Car-Sharing-Idee.<br />
Für das subjektive Gefühl der Mobilität ist die Verfügbarkeit<br />
eines Fahrzeugs entscheidend. Dies wird möglich<br />
durch ein dichtes Netz an Stationen, die an allen öffentlichen<br />
Punkten in der Stadt angeboten werden. Durch eine Reduzierung<br />
der Anzahl der privaten Fahrzeuge in der Stadt kann auch<br />
ein entscheidender Beitrag zur Aufwertung unserer Innenstäd-
te erfolgen. Der ruhende Verkehr erdrosselt unsere Städte. Alle<br />
Straßenräume sind heute dominiert von parkenden Autos. Wir<br />
sollten das Ziel haben, dass wir unsere Städte wieder für Fußgänger<br />
und Radfahrer zurückgewinnen. Parkende Autos gehören<br />
nicht in den Straßenraum.<br />
Kreislaufdenken<br />
Die Errichtung und Instandhaltung von Verkehrswegen und<br />
Gebäuden unserer Stadt erfordern hohe Aufwendungen an<br />
Material und Energie. Hierbei ist aber nicht immer die Errichtung<br />
des Bauwerks die größte Investition. Für die Minimierung<br />
des Energieeinsatzes ist es wichtig, in Lebenszyklen zu denken.<br />
Eine lange Lebenszeit durch hohe Qualität ist oft entscheidend<br />
für die Gesamtbilanz. Der Neubau eines Gebäudes erfordert<br />
immer einen höheren Energieaufwand als der Erhalt eines Gebäudes.<br />
Daher kommt auch der Konversion von industriellen<br />
Strukturen eine immer höhere Bedeutung zu.<br />
Dezentrale Energienetze<br />
Neben der Reduzierung des Verbrauchs müssen wir unsere<br />
Energieerzeugung auf erneuerbare Energien umstellen. Aus<br />
meiner Überzeugung liegt die Zukunft in einer sehr guten Vernetzung<br />
aller Medien und einer dezentralen Erzeugung. <strong>Rostock</strong><br />
hat mit seinem gut ausgebauten Wärmenetz hervorragende<br />
infrastrukturelle Voraussetzungen dafür. Die Fernwärme<br />
wird jedoch zur Zeit mit dem vorhandenen Kraftwerk in Marienehe<br />
zentral und fast ausschließlich aus fossilen Energieträgern<br />
erzeugt. Die Zukunft sollte in der dezentralen Energieer-<br />
Abonnement<br />
Rechnungsanschrift (=Abonnent):<br />
Firma/Organisation: ....................................................................<br />
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Land, PLZ, Ort: ....................................................................<br />
für Rückfragen:<br />
Vorwahl - Telefon: .............................................<br />
E-Mail: ....................................................................<br />
zeugung liegen. Die intelligente Verknüpfung unterschiedlichster<br />
Energieerzeuger mittels leistungsfähigem Netz ermöglicht<br />
die Nutzung verschiedenster Energieträger – Ziel muss hierbei<br />
der vollkommene Verzicht auf fossile Energien sein. Kohle und<br />
Öl sind zu kostbar zum Verfeuern. Neben der Nutzung von<br />
Erdwärme und Wind können dabei vor allem moderne Biomasse-<br />
oder Biogas-Blockheizkraftwerke mit Kraftwärme-<br />
Kopplung zum Einsatz kommen.<br />
Energiesparen in der Bauleitplanung<br />
Energiesparendes Bauen fängt in der Bauleitplanung an. Nur<br />
wenn die Baufelder so orientiert sind, dass eine Südausrichtung<br />
der Gebäude möglich ist, können wirklich effektive Wohngebäude<br />
errichtet werden. Ein Bürostandort hingegen, der nach<br />
Süden hin orientiert ist, verursacht später hohe Kühllasten des<br />
Gebäudes. Für die Erstellung von B-Plänen sollte die Erstellung<br />
eines Energiekonzeptes in Zukunft verpflichtend sein.<br />
Planungsqualität<br />
Die anstehenden Veränderungen unserer Städte erfordern interdisziplinäres<br />
Zusammenwirken vieler Akteure. Eine hohe<br />
Planungsqualität ist die Voraussetzung für ein Gelingen. Hierbei<br />
können erprobte Verfahren helfen, für jede Aufgabe die<br />
bestmögliche Lösung zu generieren. Bei öffentlichen Bauvorhaben<br />
sollte hier der offene Planungswettbewerb die Regel sein.<br />
Die beschriebenen Bausteine können helfen, unsere Städte auf<br />
ein Leitbild der 2000-Watt-Gesellschaft hin umzubauen. ¬<br />
AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />
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FOTOS: OLAF SPILLNER
0.11 __ //// MASSENTIERHALTUNG<br />
Rettet das Landleben<br />
OLAF SPILLNER<br />
Sie haben lange gekämpft und am Ende trotzdem verloren: Die Schweinemastanlage in Alt Tellin kommt – und mit ihr ein berüchtigter<br />
Investor. Olaf Spillner fasst die Ereignisse der letzten Jahre zusammen und zeichnet dabei ein sehr kritisches Bild<br />
vom Agieren der verantwortlichen Behörden und gewählten Vertreter.<br />
Überleben außerhalb städtischer Ballungszentren wird schwieriger.<br />
Nach 1989 baute die Agrarindustrie in Nordostdeutschland<br />
9 von 10 landwirtschaftlichen Arbeitsplätzen ab. Die Aufgabe<br />
der Tierproduktion und Investitionen in neue Landmaschinen<br />
für riesige Ländereien sparten Personalkosten. Abwandernde<br />
Arbeitssuchende hinterließen blühende Landschaften<br />
im Freiraum Ost. Das Gelb der Rapsblüte fand seinen Platz neben<br />
dem Blau der See und dem Grün der wenigen Wälder im<br />
Landeslogo von MV.<br />
Etwas weiter westwärts stiegen zeitgleich die Nitratwerte im<br />
holländischen Trinkwasser ins Unerträgliche. Der Schweineproduzent<br />
Adriaanus Straathof konnte im gülle-überdüngten<br />
Gelderland seine „Mistrechte“ verkaufen und seinen Gewinn<br />
in Vorpommern investieren. Er startete ohne Kadaverhaus in<br />
Medow bei Anklam und ließ Berge von Schweinen in der Sonne<br />
verwesen. Der wiederholt verurteilte Unternehmer tauchte<br />
2006 gemeinsam mit einem Vertreter der LMS Landwirtschaftsberatung<br />
Mecklenburg-Vorpommern/ Schleswig-Holstein<br />
GmbH und dem Geschäftsführer der Daberkower Landhof<br />
AG im Alt Telliner Gemeinderat auf. Mitgebracht hatte<br />
diese illustre Runde dessen stellvertretende Bürgermeisterin Silvia<br />
Ey, einer Referentin für Tierproduktion des Landesbauernverbandes<br />
MV, inzwischen auch Geschäftsführerin des Geflügelwirtschaftsverbandes<br />
MV.<br />
Straathofs Plan, hier am Tollensetal die größte Ferkelfabrik<br />
Europas zu errichten, wurde begrüßt. Der ausgesuchte Platz in<br />
der Gemeinde sei der beste im ganzen Lande, verkündete der<br />
Herr von der LMS. Die Daberkower Landhof AG könne auf<br />
10.000 Hektar Gülle abnehmen, erklärte deren Geschäftsführer<br />
Kossalla. Die amtierende rotschwarze Landesregierung hatte<br />
im gleichen Jahr die Veredlung ihres Tourismus- und Gesundheitslandes<br />
durch bodenungebundene Tierproduktion beschlossen.<br />
Genehmigungsverfahren im Bereich der Errichtung<br />
von Tierhaltungsanlagen sollten gestrafft und durch eine intensive<br />
Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden. Draußen vor<br />
der Tür aber demonstrierte bereits die Bürgerinitiative „Leben<br />
am Tollensetal“ gegen den Beschluss der Gemeindevertreter für<br />
die Ferkelfabrik, der später von der zuständigen Rechtsaufsicht<br />
kassiert wurde, da ein beteiligter Gemeindevertreter vom geplanten<br />
Verkauf des erforderlichen Grundstücks profitiert hätte.<br />
Denn seit der Wende 89 hatten auch ganz andere Menschen<br />
die Potentiale der Region erkannt und den Wunsch, unabhängig<br />
von diffusen Seilschaften hier eine neue Perspektive zu finden.<br />
Neben vielen Selbstständigen kamen junge Mütter, die für<br />
das Heranwachsen ihrer Kinder im Grünen der Stadt den Rükken<br />
gekehrt hatten und auch Ältere die ihren Lebensabend hier<br />
verbringen wollten. Außerdem Touristiker, denen die Attraktivität<br />
der Landschaft nicht entgangen war. Unter dem Motto<br />
„Rettet das Landleben“ fanden 2008 und 2009 Sternmärsche<br />
statt. Die Zugezogenen schafften es, von der Mehrheit der Einwohner<br />
Unterschriften gegen die Ferkelfabrik zu bekommen.<br />
Der Bürgermeister, der Wirt Frank Karstädt, versprach bei der<br />
Übergabe der Unterschriftenliste, alles dafür zu tun, dass die<br />
Anlage nicht gebaut würde.<br />
Stattdessen kam die damalige Vizelandtagspräsidentin Renate<br />
Holznagel (CDU) zu ihm in die Telliner Storchenbar und behauptete,<br />
dass die Gemeindevertretung zustimmen müssen,<br />
wenn ein Investor so einen Antrag stelle. 2009 wurde ihr vom<br />
Verteidigungsminister der Dienstgrad Oberstabsveterinär verliehen.<br />
Der Veredlungswunsch der Landesregierung wurde<br />
durchgesetzt. Die knappe Mehrheit für den Bauantrag der Ferkelfabrik<br />
kam aber nur durch Beteiligung des inzwischen unbefangenen<br />
Gemeindevertreters Olaf Juhnke zustande, dessen<br />
Frau dem Investor das Bauland schon verkauft hatte und deren<br />
Firma dort erst später Bauaufträge bekam.
Zur Anhörung der über 700 Einwände gegen die Anlage, die<br />
pro Jahr 250.000 Ferkel produzieren soll, saßen die ehrenamtlichen<br />
Einwender drei Tage dem gutbezahlten Anwalt des Investors<br />
gegenüber und mussten nach der abschließenden „Würdigung“<br />
ihrer Arbeit erfahren, das Widersprüche keine auf-schiebende<br />
Wirkung hätten, da ein öffentliches Interesse an der sofortigen<br />
Vollziehbarkeit dieses Verwaltungsaktes bestünde.<br />
„Die Landwirtschaft habe sich zu einer tragenden Säule der<br />
Wirtschaft des Landes entwickelt. Diese soll mit zügigen, konzentrierten<br />
Genehmigungsverfahren und der Weiterführung<br />
der Standortinitiative „MV tut gut“ in Zusammenarbeit mit<br />
dem Agrarmarketing ausgebaut werden.“<br />
Auch die LMS Landwirtschaftsberatung bekam ihr Geld von<br />
Herrn Straathof. Sie reichte den Antrag bei der staatlichen Genehmigungsbehörde<br />
ein und beförderte so seine Genehmigung.<br />
Das Land MV, welches mit 64,8% größter Gesellschafter<br />
neben dem Bauernverband mit 25,2% Anteilen an der LMS ist,<br />
war somit gleichzeitig Antragsteller und Genehmigungsbehörde<br />
(damals StAUN heute StALU). Das anfängliche Staunen<br />
über dieses Prozedere ist inzwischen einer anderen Betroffenheit<br />
gewichen, die an stalinistische Zeiten erinnern könnte,<br />
wenn die Angelegenheit nicht so kurios wäre. Und so wurde<br />
pünktlich am 7. Oktober, am Tag der gescheiterten Republik,<br />
verkündet, dass der Bau von Europas größte Ferkelfabrik nun<br />
beginnen könne. Bau auf, bau auf... und immer wieder taucht<br />
das schöne Wort „Ferkelzucht“ auf. In der Vorweihnachtszeit<br />
2010 formierte sich eine neue Bürgerinitiative „Rettet das<br />
Landleben am Tollensetal“, die in lückenloser Folge seitdem<br />
Montagsinspektionen am geplanten Anlagenstandort durchführt.<br />
Aber nach fünfjähriger Wartezeit startete Straathof in diesem<br />
Frühjahr kräftig durch: Zuerst ließ er geschützte Fledermausquartiere<br />
auf seinem Baugelände abreißen, dann expandierte<br />
seine Baufeldfreimachung vor offiziellem Baubeginn zur Großbaustelle.<br />
Im Vorfeld dazu hatte er Widerspruch gegen die Einhaltung<br />
der mit der sofortigen Vollziehbarkeit des Baubeginns<br />
verbundenen Nebenbestimmungen eingelegt. Das StALU gab<br />
grünes Licht für den Investor. Die Empörung dagegen schlug<br />
große Wellen. Die Auflagen wurden wieder in Kraft gesetzt.<br />
Statt des geplanten Baubeginns wurden die Bagger abgezogen<br />
und ca. 60 Demonstranten spazierten vom geplanten Anlagenstandort<br />
in das ruinöse Nachbardorf Neu Plötz und zurück,<br />
begleitet von einem großen Aufgebot der Landespolizei. In<br />
MV hatte der Wahlkampf begonnen. Die amtierende Regierung<br />
versprach penibel auf die Einhaltung der Nebenbestimmung<br />
zu achten. Ein verbindliches Brandschutzgutachten legt<br />
fest, 10.500 Muttersauen und 35.000 Ferkel sollen im Brandfall<br />
mit 55 km/h in 10 Minuten aus der Anlage fliehen können.<br />
Unter anderem gegen diesen Unsinn zogen am Wochenende<br />
vor der Landtagswahl ca. 300 Demonstranten vor die Baustelle.<br />
Dort sind freilaufende scharfe Hunde die ersten Nutztiere<br />
auf dem von Stacheldraht umzäunten Gelände.<br />
Und während am Tollensetal eine 10.000-Sauen-Anlage mit aller<br />
Gewalt durchgedrückt wird, will die belgisch-flämische Ver-<br />
einigung der Schweinehalter 100.000 Sauen abstocken.<br />
Schweinehaltern soll eine Abfindung in Höhe von 650 € pro<br />
Sau gezahlt werden. Die Gülle soll weiter nach Osten wandern<br />
und immer mehr Landbewohner werden das Grün der Städte<br />
wieder lieben lernen. Inzwischen leben weltweit weniger Menschen<br />
in ländlichen Räumen als in städtischen Ballungszentren.<br />
¬<br />
--<br />
Mehr regionale Machenschaften und überregionale Folgen der geplanten<br />
Ferkelfabrik sind, unter Bezugnahme auf die vergangene<br />
Schweriner Bundesgartenschau, zu finden unter:<br />
http://www.buga2009.blogsport.de
0.13 __ //// ATOMMÜLLTRANSPORTE DURCH ROSTOCK<br />
Das Anti-Atom-Camp<br />
auf dem Neuen Markt – ein Stadtgespräch<br />
TEILNEHMER: AUS DEM ANTI-ATOM-BÜNDNIS NORDOST<br />
Im Juli 2011 haben Mitglieder des Anti-Atom-Bündnisses NordOst als Protest gegen die regelmäßigen Atomtransporte über den<br />
<strong>Rostock</strong>er Überseehafen, von denen die Öffentlichkeit erst kurz zuvor erfahren hatte, ein Camp auf dem Neuen Markt in <strong>Rostock</strong><br />
abgehalten. Die Teilnehmer sprechen über 11 aufregende Tage.<br />
Felix: Am 8. Juli 2011 wollten wir mit einer Fahrraddemo vom<br />
Neuen Markt zum Seehafen fahren. Grund war, dass einige<br />
Wochen zuvor bekannt geworden ist, dass über den <strong>Rostock</strong>er<br />
Überseehafen radioaktive Brennelemente und Kernbrennstoffe<br />
verschifft werden. Diese brauchen die Kernkraftwerksbetreiber<br />
für den Betrieb der Atomkraftwerke. Wütend gemacht hat uns<br />
vor allem, dass durchschnittlich zweimal pro Woche so ein<br />
Transport läuft. Außerdem wird das radioaktive Material nicht<br />
mit Frachtern, sondern mit LKWs auf den Fähren der Reederei<br />
Scandlines transportiert. Da steht dann der Atomtransport also<br />
neben dem LKW mit Lebensmitteln oder dem Campingbus eines<br />
Familienurlaubs!<br />
Olli: Unser Ziel ist ein Beschluss der Bürgerschaft, analog zu<br />
den Verfügungen in anderen Hafenstädten (z.B. Emden), dafür<br />
zu sorgen, dass solche Transporte via <strong>Rostock</strong> nicht mehr möglich<br />
sind.<br />
Felix: Die Fahrraddemo sollte auch über einen Teil der A19<br />
zum Hafen führen. Mit der Stadt wurde das im Vorfeld so abgesprochen.<br />
Am Neuen Markt, schon lange nach Veranstaltungsbeginn<br />
- wir wollten gerade losfahren - kam dann die Einsatzleitung<br />
zu uns und meinte, wir sollten eine andere Route<br />
fahren, weil die Polizei die Autobahn nicht absichern kann.<br />
Wir legten Widerspruch beim Verwaltungsgericht ein, entschieden<br />
uns aber auch für politischen Druck und begannen<br />
noch am selben Abend das Camp aufzubauen und kündigten<br />
an, solange zu bleiben bis wir über die Autobahn fahren dürfen.<br />
Olli: Am ersten Abend waren Polizeibusse in zweistelliger Anzahl<br />
vor Ort, ursprünglich zur Demo waren es maximal 3-4<br />
Busse, es wurden dann immer mehr. Dafür schienen dann doch<br />
noch genug Beamte verfügbar zu sein. Das Ordnungsamt verfügte<br />
nach 21 Uhr, dass die Musik leiser zu stellen sei, anderenfalls<br />
würden die Boxen beschlagnahmt. Im Ordnungsamt<br />
mussten sie wegen des Camps Überstunden machen. Die Musik<br />
wurde abgestellt, stattdessen wurde Gitarre gespielt. Nach<br />
22 Uhr verschwanden die meisten Polizisten wieder, bloß drei<br />
Wagen blieben, danach waren nur Patrouillen zu sehen.<br />
Daniel 1: Bemerkenswert finde ich, dass hier nicht nur das Anti-Atom-Bündnis<br />
aktiv war, sondern auch eine Gruppe meist<br />
junger Menschen dazukam, die für mehr Freiraum in der Stadt<br />
kämpfen, für Möglichkeiten repressionsfreier Lebensgestaltung....<br />
Olli: Ja, für die Leute aus dem Anti-Repressions-Spektrum war<br />
das Camp ein Statement des Widerstands.<br />
Daniel 1: ... Die sind mit dazu gekommen und weil jede und<br />
jeder etwas beigetragen und mitgebracht hat, sei es ein Solarmodul,<br />
ein großes Zelt, eine Thermoskanne, sei es jede Menge<br />
Zeit: für Nachtwachen, fürs Gemüseschnippeln, fürs Malen<br />
von Transpis ... hat es funktioniert!<br />
Olli: Alle Aktionen wurden basisdemokratisch in Plena beschlossen.<br />
Felix: Schon in den ersten Stunden des Camps kamen die ersten<br />
Zelte, eine Feuertonne, Holz, Decken, Isomatten, Campingstühle<br />
und Essenspenden, so dass wir gleich am ersten Tag<br />
Essen kochen konnten, für die CampbewohnerInnen. Herzstück<br />
des Camps war immer der Lauti, der die ganze Zeit blieb.<br />
Auch waren dann am Abend viele Menschen da, um das Camp<br />
zu unterstützen. Es war natürlich so, dass vormittags und am<br />
frühen Nachmittag wenig Menschen vor Ort waren, viele<br />
mussten arbeiten, es war Prüfungszeit. Trotzdem hat das Camp<br />
in seiner Struktur gut funktioniert und gibt Mut für weitere<br />
ähnliche Aktionen. - Von den Marktleuten bekamen wir am<br />
Abend immer Essenspenden für die tägliche VoKü (Volksküche).<br />
PassantInnen diskutierten mit uns, schimpften über die<br />
„GammlerInnen“, spendeten für uns, bedankten sich für unsere<br />
Arbeit. Spannend war es auch, mit TouristInnen aus anderen<br />
Ländern zu reden.<br />
Olli: ... vor allem vom Biofrisch-Stand gab es immer „Grünzeug“.<br />
Und JAZ, Ökohaus und Peter-Weiss-Haus unterstützen<br />
unsere Aktionen immer wieder mit diversen Leihgaben.
0.14 __ //// ATOMMÜLLTRANSPORTE DURCH ROSTOCK<br />
Felix: Ich denke, dass viele Menschen es gut fanden, was im<br />
Camp passiert ist. Viele haben den Dauer-GAU in Fukushima<br />
im Kopf und sind unzufrieden mit dem Atomausstieg, den uns<br />
Regierung und die sogenannte Opposition im Bundestag präsentieren.<br />
Jana: Fukushima und der daraus folgende sogenannte Atomausstieg<br />
lassen eben oft vergessen, dass die Nutzung der<br />
Atomenergie beispielsweise auch die Wiederaufbereitung des<br />
Materials umfasst. Von einem Ausstieg aus dieser Technologie<br />
sind wir leider weit entfernt!<br />
Daniel 1: Ein älterer Atomkraftbefürworter meinte, Risiken<br />
gebe es schließlich immer, dann dürfe ja auch kein Haus mehr<br />
gebaut werden. Letztlich ginge es bei diesem Protest bloß um<br />
Randale. Zwei nächtliche Partygänger mokierten sich über den<br />
Dieselgenerator im Camp, der eine warf aber doch eine Münze<br />
in die Spendenbüchse und sie ließen sich auch auf ein längeres<br />
Gespräch mit den Nachtwachenden ein. Eine Anwohnerin<br />
kam und fragte, was wir denn da in der Feuertonne verbrennen,<br />
tatsächlich war es wohl ein lackiertes Stuhlbein, was sie<br />
nicht passend fand für Menschen, die sich „für die Umwelt“<br />
einsetzen. Sie bot an, unbehandeltes Brennholz vorbeizubringen.<br />
Eine junge Frau sagte, „ihr habt ja richtig Geschichte geschrieben!“<br />
So ein Camp mitten auf dem Neuen Markt habe es<br />
in <strong>Rostock</strong> noch nicht gegeben. Sie komme auf jeden Fall zu<br />
der Fahrraddemo, erzähle auch anderen davon.<br />
Felix: Wir konnten auf jeden Fall mit einer geplatzten und einer<br />
gelungenen Fahrraddemo (am 17. Juli) auf das Thema aufmerksam<br />
machen. Auch haben wir der Stadt gezeigt, dass wir<br />
uns nicht ohne weiteres einschüchtern lassen und unsere Rechte<br />
wahrzunehmen wissen. Das Ordnungsamt und andere Repressionsorgane<br />
haben sich mit ihrem Handeln jedenfalls keinen<br />
Gefallen getan. Statt das Thema unter den Tisch zu kehren,<br />
waren wir eine Woche lang jeden Tag in lokalen, regionalen<br />
und bundesweiten Medien und bei den <strong>Rostock</strong>erInnen<br />
präsent.<br />
Mara: Was mir vom Camp in Erinnerung bleibt, ist in erster<br />
Linie ein gewisses Erstaunen darüber, was da so spontan auf die<br />
Beine gestellt wurde, nachdem die Idee, einfach am Neuen<br />
Markt zu bleiben, zuerst eher scherzhaft aufgekommen war.<br />
Ansonsten natürlich noch immer Verärgerung über den Anlass<br />
an sich, aber irgendwie auch faszinierend, dass sie uns dann so<br />
lange haben gewähren lassen und uns so viel mehr Raum geboten<br />
haben als auf einer einfachen Demo. Und: Die Erfahrung,<br />
dass man sich natürlich erst mal einspielen muss und das eine<br />
Weile dauert, auch dass so schon mal ein Tag mit Ausschlafen,<br />
Essen beschaffen und verwerten und Nachtwacheplanen vorbeigehen<br />
kann. Je besser diese Abläufe getaktet sind, desto<br />
mehr Zeit und Energie bleiben um Menschen anzusprechen,<br />
Flyer und Transpis malen, Workshops machen usw.<br />
Daniel 1: Es sollte auch nicht vergessen werden, dass das Camp<br />
auch als Mahnwache begriffen werden konnte. Es hielt das<br />
Thema Atomkraft, Atomtransporte im Gedächtnis der Öffent-<br />
lichkeit. - Anscheinend reißt das Thema die Bürger_innen <strong>Rostock</strong>s<br />
aber nicht so sehr vom Hocker, dass etwa eine große<br />
Protestbewegung entstünde, in der vom Hafenarbeiter bis zur<br />
Elektromeisterin so viele dabei wären, dass sich von einem breiten<br />
Spektrum sprechen ließe. Das Gruppengefühl derer, die<br />
„sowieso schon“ immer dabei sind, wurde allerdings gestärkt.<br />
Es bleibt das Erfolgserlebnis, die geplante Demo doch durchgesetzt<br />
zu haben und somit Grundrechte verteidigt zu haben.<br />
Olli: Ein gutes Gefühl - mit dem Fahrrad mal die Autobahn<br />
für sich zu haben. Es gab gemischte Reaktionen der Autofahrer,<br />
manche haben aus Sympathie gehupt, andere guckten gleichgültig,<br />
manche waren bloß sauer wegen der „Störung“. Wir haben<br />
im Seehafen die Ankunft der nächsten Fähre erwartet, wir<br />
wussten nicht, ob da „was drauf “ ist, ersichtlich war nichts (es<br />
müsste ein oranges Schild mit bestimmter Zahlenkombi sein,<br />
oder das Radioaktiv-Zeichen auf den LKW's.). Beschäftigte<br />
von Scandlines waren am Protest nicht erkennbar beteiligt.<br />
Felix: Das Camp war auf jeden Fall eine tolle Erfahrung und<br />
hat sich auch politisch gelohnt.<br />
Mara: Eins muss ich unbedingt noch loswerden, dass ich eine<br />
SMS von einem Kumpel aus Magdeburg bekommen habe, mit<br />
der Aussage: Es passieren momentan so viele coole Dinge in<br />
<strong>Rostock</strong>. :))<br />
Paula: Aber das Problem der Gefahrguttransporte durch<br />
Scandlines ist geblieben – wie soll es weitergehn?<br />
Felix: Für die Bürgerschaftssitzung am 7. September hatten einige<br />
Fraktionen einen Antrag zur Umwidmung des Hafens gestellt.<br />
Aufgrund der Weigerung des OBs, diesen dann auch umzusetzen,<br />
wurde der Antrag zurückgezogen, wird noch einmal<br />
juristisch geprüft und dann am 5.Oktober erneut gestellt.<br />
Daniel 2: Wir werden dies begleiten, indem wir zeitgleich eine<br />
Kundgebung auf dem Neuen Markt veranstalten, zu der hiermit<br />
jede_r herzlich eingeladen sei. Wir sehen gute Chancen,<br />
dass eine Umwidmung des Hafens beschlossen werden wird.<br />
Felix: Und wir werden auf jeden Fall auch außerparlamentarisch<br />
Druck ausüben, denn auch wenn ke ine Atomtransporte<br />
mehr über den <strong>Rostock</strong>er Hafen laufen, es gibt immer noch<br />
Atomkraftwerke und die nächsten Castortransporte stehen<br />
auch schon an. ¬<br />
--<br />
Wer bei uns mitmachen will kann immer montags 19:00 Uhr ins<br />
Ökohaus kommen.
FOTOS: ANTIATOMCAMP
FOTO: MARCO VOSS
0.17 __ //// FILMSTANDORT ROSTOCK<br />
Ist <strong>Rostock</strong> eine<br />
Filmstadt?<br />
MARCO VOß<br />
„Achtung RUHE bitte –Wir wollen drehen!“ – Dieser Satz<br />
schallt seit 2010 häufiger durch die Straßen von <strong>Rostock</strong>. Passanten<br />
bleiben neugierig stehen und wollen wissen, was da vor<br />
sich geht. Vermutlich ist es der neue Polizeiruf 110, der nun regelmäßig<br />
im Auftrag des NDR in <strong>Rostock</strong> gedreht wird. Wenn<br />
man Glück hat, ist das bekannte Ermittler-Team zu sehen, die<br />
Schauspieler Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner. So ein<br />
Film-Set hat für Außenstehende reizvollen Schauwert. Man<br />
versucht zu verstehen, was da gerade vor sich geht. Schließlich<br />
besteht A) die Chance einen Star zu entdecken, B) zu sehen,<br />
wie es gemacht wird und C) kann man später am Fernseher<br />
aufschreien, wenn die Szene kommt, die man live miterlebt hat.<br />
Oft passiert am Set scheinbar gar nichts, viele Crewmitglieder<br />
sind nur an der praktischen Wetterkleidung und an den Kopfhörern<br />
erkennbar. Manche versammeln sich mit Drehbuch unterm<br />
Arm hinter der Kamera, es werden Bewegungsabläufe geübt,<br />
an der Beleuchtung gearbeitet, Requisiten aufgestellt, Frisuren<br />
gerichtet und irgendwo ist auch immer eine Kaffeeversorgung<br />
in der Nähe. Wer glaubt, an den Autokennzeichen zu<br />
erkennen, woher das Team kommt, liegt meist falsch. Die<br />
Nummernschilder HH / Wi / M nutzen einfach die großen<br />
Autovermieter. Im Falle des Polizeirufes kommt das Team häufig<br />
aus Köln, mit Personal aus Hamburg und Berlin. Da stellt<br />
sich Mancher die Frage, wieso die Filmleute nicht von hier<br />
sind.<br />
Für viele insbesondere junge Menschen ist ein Job bei Film und<br />
Fernsehen der große Traum. Nicht wenige versuchen es bei Castingshows<br />
vor der Kamera, egal mit welchem Talent, andere<br />
gehen es mit einer Ausbildung als Schauspieler oder in einem<br />
der Medienberufe an. Kameraerfahrung ist in Zeiten von<br />
HandyCams reichlich vorhanden, auch wenn das nichts mit<br />
dem zu tun hat, was ein Spielfilmkameramann drauf hat. Dieser<br />
Beruf ist einer der attraktivsten überhaupt: kreative Bildgestaltung,<br />
Umgang mit Technik, Teamarbeit, Wissen um opti-<br />
sche Gesetze, Reisen, gutes Gehalt und schöne Menschen vor<br />
der Linse. Allerdings braucht es einen langen Weg, um dorthin<br />
zu gelangen.<br />
Wer in <strong>Rostock</strong> lebt, befindet sich nicht gerade in einer Oase<br />
des Medienbusiness und hat es extra schwer. Die Zentren sind<br />
Berlin, München, Hamburg und Köln. Da darf ein Filmteam in<br />
manchen Gegenden kaum noch drehen, so angenervt sind die<br />
Anwohner von den ständigen Parkplatzabsperrungen für die<br />
riesigen Filmtrosse. Hier ist das noch lange nicht so weit: Die<br />
Stadt <strong>Rostock</strong> wird jedem Produzenten den roten Teppich ausrollen,<br />
der drehen möchte. Unkomplizierte Drehgenehmigungen,<br />
Sperrungen bei Straßenszenen, genügend Parkflächen für<br />
den Fuhrpark und Beratung bei der Suche nach geeigneten Locations<br />
dürfen schon geboten werden, wenn man bedenkt, dass<br />
allein bei einer Ausstrahlung des Polizeirufs aus <strong>Rostock</strong> bis zu<br />
8 Millionen Zuschauer am Sonntagabend vor dem Fernseher<br />
sitzen und die Stadt sehen. Das schafft keine Tourismuszentrale.<br />
Manche Stadtpolitiker schauen kritisch auf das was gezeigt<br />
wird. Plattenbauten, Sozialelend und Industriebrachen sollen<br />
es in Ihren Augen nicht sein, genauso wenig Schießereien am<br />
Brunnen der Lebensfreude und erst Recht nicht, was SAT 1 in<br />
dem Politthriller „Die Grenze“ zeigte: Einen Bürgerkrieg radikaler<br />
Parteien in den Straßen von <strong>Rostock</strong>.<br />
Aus medienpolitischer Sicht stellt sich das anders da: Gewalt<br />
und Kriminalität sind im Fernsehen täglicher Standard. Die<br />
Herstellung dieser Sendungen ist eine Industrie wie andere<br />
auch. Spannung und Konflikte auf Leben und Tod sehen die<br />
Zuschauer offenbar besonders gern. Damit kann man Quote<br />
machen, Geld verdienen und Arbeitsplätze schaffen. Es entstehen<br />
aber auch Filme mit anderen Inhalten. Im Winter wurde<br />
der Spielfilm EISWIND mit Christine Neubauer abgedreht,<br />
die hier in <strong>Rostock</strong> die Konzernchefin einer großen Kreuzfahrt-Reederei<br />
spielt. Solche TV Filme sind natürlich ein<br />
Glücksfall und intendieren die erwünschte Message an den
0.18 __ //// FILMSTANDORT ROSTOCK | VOLKSTHEATER<br />
Fernsehzuschauer aus Süddeutschland: Seht was für eine tolle<br />
Stadt mit Meerblick wir haben, kommt mal vorbei!<br />
Für die <strong>Rostock</strong>er Medienbranche geht es sicher nicht um den<br />
touristischen Aspekt, sondern vielmehr darum, Anschluss an<br />
andere Medienstandorte zu finden und vor Ort zu produzieren.<br />
Nur so besteht eine winzige Chance, aus beruflichen<br />
Gründen nicht auswandern zu müssen. Insbesondere die Absolventen<br />
des Institutes für Neue Medien haben es schwer.<br />
Arbeitgeber vor Ort sind momentan der NDR und TV <strong>Rostock</strong><br />
sowie etwa 10 -15 unabhängige Produzenten, die Aufträge<br />
für das Fernsehen, aber auch für Internetplattformen und<br />
Industrie realisieren. Die meisten Player kennen sich, seit kurzem<br />
gibt es auch einen ersten Drehort-Branchenführer mit Ansprechpartnern,<br />
Firmen und Kontakten, der helfen soll, ein<br />
Netzwerk zu etablieren. Produzenten von außerhalb können<br />
sich so besser informieren, welche Kapazitäten vor Ort sind<br />
und hier engagiert werden können. Diese Daten werden auch<br />
mit dem Locationservice der Filmland MV gGmbH verlinkt,<br />
wo Produzenten für Dreharbeiten in ganz Mecklenburg-Vorpommern<br />
beraten werden. Unterstützung für die Filmbranche<br />
kommt auch aus dem Wirtschaftsministerium: Dort werden<br />
Dreharbeiten im Land mit bis zu 50% gefördert, wenn der Inhalt<br />
stimmt und die Ausgaben tatsächlich als Regionaleffekt an<br />
Unternehmen aus Mecklenburg-Vorpommern geflossen sind.<br />
Diese Maßnahme zieht zum einen Produktionen ins Land, die<br />
allein durch Ihr ca.40 köpfiges Team großen Umsatz für Hotels<br />
bescheren. Zum anderen schafft die Förderung einen wirkli-<br />
chen Anreiz für Produzenten, Mitarbeiter vor Ort zu suchen -<br />
vielleicht nicht gleich als Kameramann, aber möglicherweise<br />
erst einmal als Fahrer mit Ortskenntnis, Aufnahmeleiter, Beleuchtungsassistent,<br />
Requisitenhelfer, Maskenbildner, Garderobiere,<br />
Casting-Assistent, Caterer, Regiepraktikant oder - warum<br />
nicht - als Komparse. Man kommt rein in die Szene, lernt<br />
den Job und die Leute kennen, bekommt Informationen und<br />
eine Film-Vita. Dieser Weg, die sogenannte Ochsentour, ist für<br />
die Medienbranche nicht ungewöhnlich. Insbesondere bei<br />
kreativen Berufen geht vieles über Learning by doing und<br />
„Connections“.<br />
Was in absehbarer Zeit nicht erwartet werden kann, ist der<br />
Mut des NDR, auch mal einen Produzenten aus Mecklenburg-<br />
Vorpommern mit der Herstellung eines Polizeirufes zu beauftragen.<br />
Dazu reichen die vorhandene Qualifikation, Erfahrung<br />
und das finanzielle Polster nicht aus. Es sind meist die Tochtergesellschaften<br />
der Sender, die das Rennen machen. Einen ersten<br />
hier produzierten Spielfilm sollte man sich deshalb eher<br />
von der jungen <strong>Rostock</strong>er Filmszene erhoffen, die zwar kaum<br />
Geld hat, aber schon lange mit guten Ideen, Mut zum Risiko<br />
und einem großen Freundeskreis arbeitet. Ganz sicher wird dabei<br />
auf Medienschaffende und Schauspieler vor Ort gesetzt.<br />
Außerdem braucht es natürlich noch eine gute Story sowie einen<br />
langen Atem mit dem berühmten Quentchen Glück. Hoffen<br />
wir auf einen Außenseiter-Erfolg und belohnen das mit einem<br />
Gang ins Kino! ¬<br />
FOTO: MARCO VOSS
Keine Orte. Überall<br />
CORNELIA MANNEWITZ<br />
Eigentlich kann man nicht klagen. Theater wird demnächst sogar<br />
auf der internationalen Raumstation ISS gespielt. Zehn<br />
Episoden (kommt einem als Titel doch bekannt vor …) sollen<br />
im Sitcom-Format das erste Jahr der ISS nachzeichnen. Na gut,<br />
zugegeben, der Ort der Performance ist das „Ballhaus Ost“ in<br />
Berlin. Wer will, kann sich die Videos aber auch im Internet<br />
ansehen: www.monochrom.at/iss/. Theaterland ist überall!<br />
Aber sonst? Großes Haus weg, Kleines Haus weg, Intimes<br />
Theater weg (dort residiert seit Jahren bezeichnenderweise eine<br />
Bank), von früheren temporären Spielorten gar nicht zu reden.<br />
Aber es gibt das Theaterzelt. Erbaut auf der grünen Wiese, wo<br />
doch jeder Kreative bauen will. Sollte man künftige Diskussionsveranstaltungen<br />
über das Theater, die manchmal originalisierend<br />
„Was für ein Theater?!“ hießen, nun also „Was für ein<br />
Zirkus?!“ nennen? Nein, lieber nicht. Alle feinen Zelte heißen<br />
heute Theaterzelt, Zirkuszelte sind nur eine Unterart von ihnen.<br />
Weitere Vorteile: gute Akustik, behindertengerechter Zugang,<br />
großzügiger Backstagebereich.<br />
Man kann auch Firmenfeste darin veranstalten (Bari-Fruchtsäfte-Mitarbeiterevent<br />
Speyer, Hugo-Boss-Weihnachtsfeier Metzingen,<br />
Roland-Berger-Day München, … sind Beispielgeber),<br />
Produktpräsentationen organisieren (DaimlerChrysler S Klasse,<br />
Ergoline Solarien, Smirnoff Ice, …), Festivals veranstalten<br />
(St. Gallen Open Air, Schweiz, Sziget Festival Budapest, Ungarn,<br />
Treffen der Sterneköche Thionville, Frankreich, … - auch<br />
die Kirchen sind dabei: Christival Baunatal, …) und natürlich<br />
Theater spielen: „Cats“ hat natürlich sein eigenes Zelt, aber in<br />
Heidelberg soll seit 2009 das Musiktheater eine Sanierung im<br />
Zelt überbrücken, in Esch in Luxemburg das ganze Theater<br />
schon eine ganze Zeit, gut, da spielt man „Caveman“, aber es ist<br />
Theater … Und wahrscheinlich ist außerdem die Sicht wegen<br />
der amphitheatralischen Sitzanordnung und bei nur zwei Masten<br />
von allen Plätzen, egalitär, sehr gut – auch das wird, wenn<br />
dieses Heft erscheint, schon ausprobiert worden sein.<br />
Wo sind wir da hingeraten? Die richtige Antwort auf diese<br />
Frage ist sicher keine, die die Nachteile aufmacht: das Geld.<br />
Denn mit dem Geld sind alle unsäglichen Diskussionen über<br />
das Theater verbunden. „Für die Geldgeber (die <strong>Rostock</strong>er)<br />
wird es immer schwerer nachvollziehbar, dass sie zwar doppelt<br />
so viel Arbeitsstunden pro Woche leisten müssen (rund 40<br />
Stunden), jedoch nur die Hälfte oder weniger verdienen (bezogen<br />
auf Orchestermusiker, das Orchester verschlingt den Großteil<br />
der Personalkosten) und auch noch erheblich weniger Urlaub<br />
haben. Trotzdem soll jedoch regelmäßig nachgelegt wer-<br />
den für ein Haus, das die Geldgeber kaum aufsuchen“ – so ein<br />
<strong>Rostock</strong>er Anzeigenblatt in bester populistischer künstlicher<br />
Aufregung Mitte Juli 2011.<br />
Kein Gedanke daran, dass wenige <strong>Rostock</strong>er den Arbeitsalltag<br />
der Theaterleute wirklich kennen, kein Gedanke daran, dass<br />
lange nicht alle rund 40 Stunden arbeiten und wenig verdienen<br />
– es wird eine homogene Front gegen das Theater suggeriert,<br />
hinter der „die“ <strong>Rostock</strong>er, denen die Sozialgesetzgebung täglich<br />
das Geld nimmt, sich einmal „Geldgeber“ nennen dürfen,<br />
möglichst noch stolz darauf sein sollen, wie sehr sie auf dem<br />
Arbeitsmarkt ausgebeutet werden, und sich in der vermeintlichen<br />
gemeinsamen Tugend sonnen könnten, sich nicht um das<br />
Theater zu kümmern, bei deren Infragestellung ihnen das Blättchen<br />
(und manche andere) ja auch sonst nicht hilft.<br />
Nebenbei profilieren sich Aspiranten auf politische Posten mit<br />
Forderungen nach Haustarif („schon seit dem Jahr X von der<br />
Fraktion Y gefordert, warum macht Z es nicht“) und damit,<br />
nach der Aufkündigung letzter gewerkschaftlicher Errungenschaften<br />
im Kulturbereich oder mit dem Schrei nach Konzepten<br />
und damit dem Eingeständnis, dass man selbst, seit Jahr<br />
und Tag im politischen Geschäft, diesbezüglich ebenso lange<br />
noch nichts hinbekommen hat. Und, ach je, das Zelt kostet<br />
Miete. Ja, und wie viel kosten die Einnahmeausfälle des Theaters<br />
durch die Hals-über-Kopf-Schließung des Großen Hauses<br />
und wie viel die ewig verschleppte Sanierung?<br />
Ein Nachteil ist auf jeden Fall, dass in solchen Zelten normalerweise<br />
Shows veranstaltet werden. Aber das ist ja eher ein Argument,<br />
das der Stadtpolitik in die Hände spielt. Ausgefeilte Ensuite-Produktionen<br />
sind doch für viele Finanzstrategen das<br />
Non-plus-ultra (und leider auch für manche, die - unverständlicherweise,<br />
zu wessen wirklichem, langfristigen, Nutzen - in<br />
gleicher Weise neben ihrer eigenen Intelligenz diskutieren) –<br />
dann sollen sie auch zu einem Theaterzelt stehen!<br />
Für den Theaterfan gilt wie immer: Überall reingehen, wo<br />
Theater draufsteht! Und für alle, die es werden wollen: Ebenso.<br />
Irgendeine Art von Theater ist immer drin. Mögen sich die<br />
Blogs füllen, mögen die Kulturausschussmitglieder Weiterbildung<br />
in Sachen künstlerische Experimente fordern, möge irgendjemand<br />
irgendwo den ersten Pflock für den Theaterneubau<br />
einschlagen. Viel Spaß! ¬<br />
--<br />
Diskutieren Sie mit und weiter: www.vtr-blog.de
FOTO: TOM MAERCKER
0.21 __ //// KULTURPREIS 2011<br />
Am 1. Juli diesen Jahres wurde im Festsaal des <strong>Rostock</strong>er Rathauses der Kulturpreis verliehen – dieses Mal an die medienwerkstatt,<br />
in Würdigung ihres Wirkens für das Geistes- und Kulturleben der Stadt. Aus Anlass des Festaktes hielt Dr. Klaus<br />
Blaudzun, der Geschäftsführer der Medienwerkstatt <strong>Rostock</strong>, eine viel beachtete Rede, die wir hier in voller Länge wiedergeben<br />
möchten.<br />
Anstiftung zur fortgesetzten<br />
Unruhestiftung<br />
KLAUS BLAUDZUN<br />
Frau Bürgerschaftspräsidentin Karina Jens,<br />
Herr Oberbürgermeister Roland Methling,<br />
Frau Senatorin Liane Melzer,<br />
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,<br />
es ist für mich eine unglaubliche Freude, heute hier stehen zu<br />
dürfen. Gern entgegne ich hier für die Preisträger. Diesem <strong>Rostock</strong>er<br />
Rathaus angemessen ist eine Entgegnung in sieben<br />
Hauptsätzen, mit lakonischen Anmerkungen jeweils, versteht<br />
sich.<br />
Satz 1: Dieser Preis ist uns Preisträgern ein besonders wichtiger.<br />
Warum? Dieser Preis sagt uns, ungeachtet unserer landes- oder<br />
bundesweiten Preise in 20 Jahren Medienwerkstatt, die uns alle<br />
etwas bedeuten, dieser Preis sagt etwas, was kein anderer Preis<br />
sagen kann: Was wir tun, kommt in unserer Kulturstadt nicht<br />
nur einfach an, es ist ihr sehr bedeutsam! Kann es ein deutlicheres<br />
Echo geben aus dem Rathaus der Heimatstadt? Kulturmachern<br />
ist eine solche Anerkennung keineswegs gewiss. Auch<br />
nicht hier in <strong>Rostock</strong>. Schon gar nicht eine solche Lobpreisung.<br />
Danke, Frau Senatorin.<br />
Satz 2: Ein Preisträger schuldet Dank.<br />
Selbstverständlich, aber: Wem (alles)? Dank nicht allein dem<br />
Preisgeber. Statt Verlesung einer mehrseitigen Liste von Unterstützern<br />
aus acht Jahren FiSH & zwei Jahrzehnten Medienwerkstatt<br />
hier stellvertretend der Dank an die drei langjährigsten<br />
unter diesen: Das Land Mecklenburg-Vorpommern –<br />
Herr Kurt Laukat vom Landesjugendamt hat es sich nicht nehmen<br />
lassen, heute hier zu sein –; die Medienanstalt MV – auch<br />
Herr Uwe Hornauer, der Direktor, ist zu diesem freudigen An-<br />
lass hier nach <strong>Rostock</strong> gekommen; und die Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />
selbst. Die nachhaltige Unterstützung der Medienwerkstatt<br />
und des FiSH durch diese drei Förderer und Partner ist<br />
keineswegs selbstverständlich. Mehr noch, ohne diese Nachhaltigkeit<br />
gäbe es hier nicht diesen Preis 2011. Und auch nicht<br />
diese Danksagung.<br />
Satz 3: Die Plastic Wings tragen hier heute eine zweite Laudatio<br />
vor.<br />
Die Band ist Teil eines Kunstprojektes von jungen Musikern<br />
dieser Stadt mit jungen Filmemachern und jungen Theatermachern<br />
und jungen HMT-Schauspielern und mit dem Volkstheater...<br />
Das multimediale Theaterstück mit dem wunderbar<br />
anmaßenden Titel „Lange Straße – Abbey Road“ von Mark<br />
Auerbach erzählt etwas auch für unsere Arbeit mit jungen Leuten<br />
im FiSH & in der Frieda 23 so Wichtiges: Suche Deine<br />
Abbey Road nicht in London, Dein Babelsberg nicht in Potsdam,<br />
Dein Cannes nicht an der französischen Mittelmeerküste…<br />
Sieht auch so die Zukunft der Kulturstadt <strong>Rostock</strong> aus, hört sie<br />
sich so an? Dann gern, dann her damit, mehr davon. Dank<br />
Euch Musikern Anna, Christian, Jan & Ronny, Dank für diesen<br />
frischen, heutigen und hiesigen Zugriff auf die Musik der<br />
Beatles, der Götter der Pop-Moderne. In Eurer Haltung, zu<br />
musizieren, liebe Wings, erkennten wir uns gern wieder. Das<br />
führt zum nächsten, zum<br />
Satz 4: Der Preis geht an die junge Kunst- und Medienstadt.<br />
Meint das Größenwahn? Nein. Die Medienwerkstatt verwechselt<br />
sich nicht mit der Medienstadt <strong>Rostock</strong>. Sie ist nur, aber sie<br />
ist eben Teil dieser jungen Kultur- oder Medienstadt. Sie be-
0.22 __ //// KULTURPREIS 2011 | KUNSTSCHULE ROSTOCK<br />
gleitet junge Leute bei deren Hineinwachsen in die Mediengesellschaft,<br />
in der Rolle des Produzenten von Bildern und Tönen<br />
und Multimedien. Die kreativsten Talente unter diesen<br />
jungen Leuten werden dabei zu Gestaltern ihrer eigenen Botschaften,<br />
ihrer eigenen und auch neuen Weltbilder/Landbilder/Stadtbilder,<br />
in ihren eigenen Geschichten, und auch immer<br />
in neuen Kulturtechniken, in anderen Zeichenwelten, in neuen<br />
Ton- und Bildgrammatiken. Diese jungen Leute sind mit ihren<br />
Kreativpotenzialen Teil unserer Zukunft, nicht nur der Kulturstadt,<br />
auch des Lebens- und des Arbeitsraums <strong>Rostock</strong> in der<br />
Zukunft.<br />
Dieser Kulturpreis ermutigt daher keineswegs nur uns, auch<br />
nicht nur diese jungen Leute, sondern: Sie ermutigt sich auch<br />
selbst, unsere in (modernen) Kulturdingen mitunter sehr zaghafte<br />
Hansestadt. Dank, Frau Bürgerschaftspräsidentin, Herr<br />
OB, Frau Senatorin, ausdrücklich Dank auch für diese Selbstermutigung!<br />
Dank aber auch an unsere vielen Partner und Mitstreiter<br />
in der jungen Kultur-, Kunst- und Medienstadt. Auch<br />
hier: Keine Aufzählung. Es muss wieder genügen das herausragende<br />
Beispiel, der Dank an unsere Partner für das Kunst- und<br />
Medienhaus in der Friedrichstraße 23. Darin, in diesen Dank,<br />
sind nicht nur eingeschlossen die beteiligten Projekte Kunstschule,<br />
Kino LiWu und Radio Lohro. Es sind insbesondere eingeschlossen<br />
die vielen bürgerschaftlichen, uneigennützigen Unterstützer<br />
dieses Zukunftsvorhabens.<br />
Aber auch die Bürgerschaft dieser Hansestadt, Frau Präsidentin,<br />
auch die Senatoren und die Fachämter der Hansestadt und<br />
Stadtgesellschaften wie die RGS. Hier fanden wir stets offene<br />
Türen vor, und wir fanden mehr noch, Rat und Tat. Dank für<br />
diese bürgerschaftliche Partnerschaft.<br />
Satz 5: Dieser Preis ist eine Anstiftung zur fortgesetzten<br />
Unruhestiftung.<br />
Frau Bürgerschaftspräsidentin, Herr Oberbürgermeister, Frau<br />
Senatorin, verstehen Sie das bitte nicht falsch. Wir müssen das<br />
aber so verstehen. Sie kannten die Preisträger lang genug, sie<br />
waren gewarnt spätestens mit den öffentlichen Kontroversen<br />
um die Frieda 23: Wir sind, so hoffe ich, nicht nur eine der in<br />
20 Jahren ‚etablierten’ freien Kultureinrichtungen, nicht nur<br />
sozusagen wie im Kulturstrandsand/Kultursubventionssand<br />
der Stadt in zwei Jahrzehnten handlich abgeschliffene Strandkiesel.<br />
Wir sind nach wie vor, so hoffe ich, so verlange ich von uns, wir<br />
sind auch immer noch gut für Ecken und Kanten, für Nonkonformes,<br />
Neues, Abweichendes, Kontorverses, mitunter auch<br />
Provozierendes. Das hat maßgeblich mit einem zu tun, mit unserer<br />
Bindung an unsere wichtigsten Partner, an junge, kreative<br />
Leute. Die brauchen uns nur dann wirklich, wenn wir mit ihnen<br />
nicht nur den vorgezeichneten Weg der Tradition gehen,<br />
sondern auch den Weg, der ins Neue führt, ins irritierend Unbekannte,<br />
ins Abweichende. In Freiräume eben. Haben wir an<br />
diesen Freiräumen genug? Nein, sagen wir, gewiss nicht. Und<br />
Sie wissen darum. Sie haben uns dennoch für diesen Preis der<br />
Hansestadt ausgewählt. Dank für diese Ihre Ermutigung zur<br />
partnerschaftlichen Unruhestiftung auch in Zukunft!<br />
In diesem Lichte gilt umso mehr: Danksagung auch persönlich<br />
an Sie, Herr Oberbürgermeister, Dank für Ihre Entscheidungen,<br />
nicht nur diesen Preis und seine Vergabe 2011 betreffend.<br />
Dank eben auch für Ihre sehr deutliche und klare Unterstützung<br />
in den letzten Wochen und Tagen, Unterstützung dabei,<br />
das Frieda-23-Projekt finanzieren und praktisch beginnen zu<br />
können.<br />
Satz 6: Aber die am Anfang hatten die dicksten Bretter zu<br />
bohren.<br />
Im Jahr 1991 startete im Verein ‚Kulturnetzwerk’ eine kleine<br />
Gruppe mit der Idee einer Medienwerkstatt in <strong>Rostock</strong>. Nein,<br />
keine Geschichtsvorlesung kommt jetzt. Wieder soll/muss das<br />
Beispiel genügen: Die da starteten, die gingen auch hier ins<br />
Rathaus, fragten nach Unterstützung für Zeitungs- und Videoprojekte<br />
von und mit jungen Leuten. Sie landeten zunächst, im<br />
ersten Versuch, im Jugendamt. Genauer (und von mir schlicht<br />
zusammengefasst), im Referat ‚Drogen, Medien, Sekten’. Muss<br />
ich mehr sagen zur Dicke der Kulturbretter, die damals anzubohren<br />
waren?<br />
Erlauben Sie mir, stellvertretend zwei der Mit-Initiatoren zu<br />
nennen, diesen zwei der damaligen Mit-Gründer namentlich<br />
zu danken, denn sie sind heute Mit-Preisträger: Kerstin Gustke,<br />
die heute am Institut als Ausbildungsleiterin die höhere Berufsfachschule<br />
für Medienberufe am Institut führt, das Medien<br />
Colleg <strong>Rostock</strong>. Ralph Kirsten, der zuletzt das Kulturradio<br />
LOHRO in die Kulturlandschaft unserer Hansestadt stellte,<br />
sein vorerst letztes Kulturprojekt, nach Mitgründung von u.a.<br />
Medienwerkstatt <strong>Rostock</strong>, Kunstschule <strong>Rostock</strong>, Kino LiWu…<br />
Welch einen unglaublichen Anreger und Innovator haben wir<br />
da in unserer Kulturstadt! Dank Euch, Kerstin und Ralph,<br />
Dank für Euren Mut zu Neuem, und Dank für Euren Enthusiasmus,<br />
der andere mitnahm. Das führt zum letzten, zum<br />
7. Satz: Der Preisträger 2011 ist ein Team.<br />
Ein Team, das Sie, sehr geehrte Damen und Herren, noch gar<br />
nicht kennen gelernt haben in diesem Festakt. Das lässt sich<br />
aber ändern. Mit einer kleinen Störung des geplanten Ablaufs<br />
der Festveranstaltung. Der Festakt soll jetzt ausklingen mit<br />
weiteren Songs der Plastic Wings und der Beatles. Erlauben Sie<br />
mir, Ihnen zuvor die anwesenden Preisträger des Kulturpreises<br />
2011 der Hansestadt <strong>Rostock</strong> vorzustellen. Kommt bitte alle<br />
hier nach vorn, alle, die Ihr heute dabei sein konntet, die ehemaligen<br />
wie die heutigen Mitmacher von Medienwerkstatt &<br />
FiSH. Es ist Euer/unser Preis, es ist Eure/unsere Stunde. In den<br />
(abgewandelten) Textzeilen der Popgötter John & Paul, den<br />
Soundtrack werden die Plastic Wings gleich nachliefern: Come<br />
together, right now, right here! ¬
Mit Ruhe und Geduld.<br />
Wanja Tolko über Wanja Tolko, Kunst im Norden und<br />
die Kunst der Kunstvermittlung.<br />
WANJA TOLKO IST SEIT 1.7.2011 NEUER CHEF DER ROSTOCKER KUNSTSCHULE. AUS DIESEM ANLASS UND REINER NEU-<br />
GIERDE HABEN WIR IHN GEBETEN, SICH UND SEINE VISIONEN FÜR DIE KUNSTSCHULE UND FÜR ROSTOCK VORZUSTELLEN<br />
Nichts in der Kunst entsteht aus sich heraus. Wie – und diese<br />
Frage bewegt die Mehrheit aller Kunstschaffenden – kann es<br />
möglich werden, zwischen den großen Bild-Schmelztiegeln im<br />
Inneren eines Kreativen und seiner Umwelt zu vermitteln? Erklärungsversuche<br />
hat es in der Kunstgeschichte unzählige gegeben.<br />
Eine große Hilfe können dabei Übersetzer sein, wie etwa<br />
Kunsthistoriker oder Kuratoren. Es gibt aber auch Kunstwerke<br />
deren vermittelnde Qualität so außerordentlich ist, dass es der<br />
Übersetzung kaum bedarf. Die soziometrischen Diagramme<br />
Mark Lombardis (1951-2000), die er selbst „narrative structures“<br />
nannte, vermochten enorm viel zu vermitteln. Das sperrige<br />
Format des Diagramms gestaltete Lombardi zu ästhetisch<br />
FOTO: TIM KELLNER, 2010
0.24 __ //// KUNSTSCHULE ROSTOCK | GOLDBERGBAU RUMÄNIEN<br />
höchst ausgewogenen, intensiv recherchierten Beziehungsgeflechten<br />
– von sozialen Abhängigkeiten über finanzielle bis hin<br />
zu kriminellen Verbindungen der verschiedensten Art. Lombardi,<br />
ein Vorbild, ein Aufklärer, ein Vermittler und ein absolut<br />
stringent arbeitender Künstler.<br />
Wissen um Zusammenhänge lässt sich natürlich nach wie vor<br />
auch durch die klassische Art des Unterrichtens vermitteln. Im<br />
bildenden künstlerischen Bereich bearbeitet die kunstschule<br />
rostock e.V. eben dieses Gebiet. Seit genau zwanzig Jahren existiert<br />
diese Einrichtung, geschaffen von <strong>Rostock</strong>er Kulturaktivisten<br />
mit dem Anspruch, den Leerraum nach dem Fall der<br />
Grenzen in Ostdeutschland mit neuen Kunstangeboten zu füllen.<br />
In den zwanzig Jahren sind mehr als fünfzig Kunstschaffende<br />
in längeren oder kürzeren Intervallen an der Kunstschule,<br />
die der Volksmund beharrlich „Frieda“ nennt, tätig gewesen.<br />
In Bezug auf die Kunstvermittlung hat die Schule immer wieder<br />
versucht, neue und andere Wege zu beschreiten.<br />
Als ich selbst 2007 in die Stadt kam, ahnte ich noch nicht, welche<br />
Rolle die Kunstschule für mich einmal spielen würde. Im<br />
Gepäck hatte ich die Erfahrung von über zehn Jahren künstlerischer<br />
Praxis in Leipzig und den Willen, künstlerische Erfahrungen<br />
und Erkenntnisse weiterzugeben. Mein erstes Atelier in<br />
dieser Stadt in eben jener Kunstschule wurde zum Ausgangspunkt<br />
zahlreicher Unternehmungen wie die Mitbegründung<br />
der Künstlergruppe SCHAUM.<br />
Auf einer Ausstellungseröffnung erntete ich ein undefinierbares<br />
Lächeln, als ich verkündete, wie viel künstlerisches Potential<br />
die Stadt noch zu bieten hätte und wie groß die Gestaltungsspielräume<br />
wären, innerhalb einer eher grobmaschigen, kulturellen<br />
Infrastruktur. Dazu gehört die Arbeit an der Basis, die<br />
Entwicklung künstlerisch-handwerklicher, ästhetischer Kompetenzen.<br />
Künstlerische Bildung, so begriffen, kann in diesem<br />
Zusammenhang als eine Art Breitensport wirken. Die Herausforderung<br />
besteht dabei meines Erachten darin, trotzdem einen<br />
Spitzenanspruch an künstlerische Aktivitäten zu stellen, der<br />
den Vergleich zu anderen Ballungszentren der Hochkultur<br />
nicht zu scheuen braucht. Seit 2008 hatte ich die Gelegenheit,<br />
mich diesen Ansprüchen als Dozent der Kunstschule anzunähern.<br />
Gesteigert wurden meine Handlungsspielräume durch<br />
meinen Wechsel in die Geschäftsführung seit Juli dieses Jahres.<br />
Die Antwort auf eine mir häufig gestellte Frage nach meinen<br />
Visionen zur Zukunft der kunstschule rostock lautet: Die<br />
Kunstschule <strong>Rostock</strong> ist auf einem sehr guten Weg, die aktuellen<br />
gesellschaftlichen Umformungsprozesse selbst aktiv mit zu<br />
begleiten. Mit ihrer Förderung und der Vermittlung künstlerischen<br />
Basiswissens schafft sie ein solides Fundament für eine<br />
kreative und ästhetische Bildung der Teilnehmenden. Die<br />
Kunstschule wird zunehmend eine wichtige Plattform für den<br />
interkulturellen Austausch auf künstlerischer Basis. Eingebettet<br />
bleibt dieses Engagement in dem bereits in der letzten Ausgabe<br />
der <strong>Stadtgespräche</strong> besprochenen Großprojekt, der Frieda23.<br />
Ich persönlich verbinde damit die Hoffnung, kreative Fähigkeiten<br />
in einer sich radikal wandelnden Umwelt weiter fördern<br />
zu können.<br />
Von entscheidender Bedeutung sind und bleiben künstlerische<br />
Ausdrucksstärke und Urteilsvermögen. Mit dem Umbau der<br />
Plattenbauschule in der Friedrichstraße zur Frieda23 werden<br />
wir diesem Anliegen ein großes Stück näher kommen. ¬
<strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>:<br />
Es geht um mehr als nur Gold<br />
JOACHIM COTARU<br />
Die vergangenen Wochen waren geprägt von einer verschärften<br />
Auseinandersetzung um Europas größten geplanten Goldtagebau.<br />
Die Befürworter geben sich grün und wollen eine Kulturlandschaft<br />
opfern. Die Bedingungen für das Goldprojekt waren<br />
nie so günstig wie jetzt. Aber auch der Widerstand für die<br />
Rettung des Ortes ist reifer geworden.<br />
„Cu minerii rezolvăm problema mediului, culturii, socială”<br />
(„Mit den Bergleuten lösen wir das Umwelt-, Kultur- und Sozialproblem”):<br />
Dieser Gruß im Stil der berüchtigten Mineriaden<br />
empfing Mitte August die zum Fân-Fest der Kampagne<br />
„Salvaţi <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>!” („Rettet <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>!”) angereisten<br />
Teilnehmer. Zu der dreitägigen Veranstaltung kamen die<br />
Gegner des von der <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong> Gold Corporation<br />
(RMGC) betriebenen Projekts. Die gut zweitausend Jahre alte<br />
Ortschaft im Herzen der Westkarpaten/ Munţii Apuseni soll,<br />
geht es nach der RMGC, 300 Tonnen Gold geopfert werden.<br />
Auch wenn die RMGC dem Vorhaben mit enormer Medienpräsenz<br />
und aufwändigen Restaurierungsprojekten ein grünes<br />
Gesicht geben möchte – am Ende bliebe ein musealer Ortsrest<br />
unterhalb eines 185m hohen Damms, der 300 Millionen Kubikmeter<br />
zyanidhaltige Abfälle zurückhalten und in dem der<br />
Ortsteil Corna verschwinden soll.<br />
Über die Argumente für das Projekt wird in den rumänischen<br />
Medien ausgiebig berichtet. Die Nachteile werden dabei oft<br />
ausgeblendet. Kein Wunder: Die RMGC verfügt über einen<br />
fantastischen Werbe-Etat und das nötige Fachpersonal. Die<br />
wirtschaftlich desaströse Lage der Medien lässt die Pflicht zu<br />
unabhängiger Berichterstattung dabei schnell in den Hintergrund<br />
geraten. Die RMGC zahlt. So berichtete beispielsweise<br />
das Lokalblatt „Ziarul de Apuseni” aus Abrud/ Großschlatten<br />
nach dem FânFest ausschließlich von Besuchern, die nach ihrem<br />
Besuch des Ortes von der Notwendigkeit des Projekts<br />
überzeugt seien. Recherchen des Klausenburger Journalisten<br />
Mihai Goţiu ergaben, dass die Zeitung Namen von TeilnehmerInnen<br />
ohne deren Wissen und mit erfundenen Aussagen veröffentlicht<br />
hatte.<br />
Doch die tendenziöse Berichterstattung macht auch vor dem<br />
öffentlichen Fernsehen TVR nicht halt. Die rumänische Partnerorganisation<br />
von „Reporter Ohne Grenzen”, Active Watch,<br />
reklamierte am Dienstag beim rumänischen Medienrat CNA<br />
verdeckte Werbung des Senders für die Gold Corporation.<br />
Dieser habe in einem – im Zusammenhang mit Băsescus Vor-<br />
Ort-Besuch ausgestrahlten – Beitrag von gut drei Minuten<br />
Länge nur die Projekt-Befürworter dargestellt. Active Watch<br />
zählt in seiner Eingabe eine Reihe von falschen Darstellungen<br />
im reklamierten Beitrag auf. Überdies sei die Gattin des verantwortlichen<br />
Journalisten Teilhaberin einer Werbefirma, zu deren<br />
Kunden die RMGC zähle.<br />
Die etwa 60 Mitglieder der Initiative „Alburnus Maior” (so der<br />
lateinische Name von <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>), Trägerin von „Salvaţi<br />
<strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong>!”, wollen ihre Häuser und Grundstücke nicht<br />
der RMGC verkaufen. Sie sind in der Minderheit, pochen aber<br />
auf ihr Eigentumsrecht. Das soll nun per Gesetz untergraben<br />
werden. Nachdem eine Gesetzesvorlage in aller Stille bereits<br />
den rumänischen Senat passiert hat und von den relevanten<br />
Kommissionen für gut geheißen wurde, soll sie im September<br />
dem Abgeordnetenhaus zur Abstimmung vorgelegt werden.<br />
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, Inhabern von<br />
Schürfrechten auch gleich das Recht auf Enteignung mitzuliefern.<br />
Die RMGC könnte dann einen selbst bestimmten Schätzpreis<br />
für ein Grundstück oder Haus auf ein Sperrkonto überweisen.<br />
Die so bereits enteignete Person würde vor Gericht nur<br />
noch über die Höhe der Entschädigung streiten – ohne Zugriff<br />
auf das Geld. Damit wäre den meisten der unwilligen Ortsansässigen<br />
jedoch auch diese Chance verbaut, da sich nur wenige<br />
einen Prozess leisten können.<br />
Die Gefahr ist groß, dass das Gesetz die Abstimmung übersteht,<br />
ungeachtet des Widerspruchs zur EU-Grundrechtecharta.<br />
Stefania Simion, Rechtsberaterin der Kampagne: „Das Gesetz<br />
ist eine brutale Verletzung unserer Verfassung, die das<br />
Recht auf Eigentum und die Gleichheit der Menschen vor dem<br />
Recht garantiert.” Daher soll versucht werden, die Verfassungsmäßigkeit<br />
des Gesetzentwurfes vor Gericht prüfen zu lassen.<br />
Auch auf europäischer Ebene soll dringend für Öffentlichkeit<br />
gesorgt werden – schließlich ist Rumänien wegen seiner fragwürdigen<br />
Rechtsstaatlichkeit noch immer einem EU-Monitoring<br />
unterworfen.<br />
Bereits über 12.000 Menschen haben in den vergangenen zwei<br />
Wochen eine Petition gegen die Gesetzesänderung unterzeichnet.<br />
Jetzt ruft die Kampagne auf, sich direkt oder telefonisch an<br />
die Parlamentsabgeordneten zu wenden, um sie von einer Zustimmung<br />
zum Gesetz abzubringen. Von dem staatsbürgerlichen<br />
Bewusstsein Kampagne war auch Mona Nicoară, Regisseurin<br />
des beim FânFest gezeigten Films „Şcoala noastră/ Unsere<br />
Schule”, begeistert. Das Publikum in <strong>Roșia</strong> <strong>Montană</strong> zeige<br />
ein neues Gesicht des Landes: „Dies ist ein Publikum mit Interesse<br />
an sozialem Wandel, verantwortlichem Umgang mit<br />
Rumäniens Menschen und Reichtümern und daran, die richtigen<br />
Entscheidungen für künftige Generationen zu treffen.” ¬
0.26 __ //// REZENSION<br />
JENS LANGER<br />
RIOTS<br />
Riot: 1.der Tumult,der Krawall 2, die Orgie 3. (ugs.) der Bombenerfolg<br />
1989 funktionierte es: Keine Gewalt! Aus Olof Palmes politischem<br />
Handbuch übernahmen wir als Handlungsanleitung<br />
das Stichwort „Sicherheitspartnerschaft“ und weil es solche<br />
Partner gab, ging es friedlich zu. Beim G8-Gipfel funktionierte<br />
es schon nicht mehr. Einerseits war es mit der Geduld vieler<br />
Aktivisten unter den Demonstranten vorbei, andrerseits war<br />
die Polizei deutlich überfordert, und ihr hochgelobter Chef im<br />
Hintergrund, Knut Abramowski, desinformierte alle Seiten,<br />
wenn es ihm taktisch geboten schien. „Der demonstrierende<br />
Staatsbürger als Staatsfeind“ war das heimliche Motto. Mit dieser<br />
Einstellung samt Praxis wurde zeitweise destruktive Gereiztheit<br />
bewirkt.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
Das ist lange her. Auch die Arabellion und „Britannia rules the<br />
districts“ sind nicht mehr ganz jung. Was alle diese Ereignisse<br />
verbindet, ist eine grassierende gesellschaftliche Schwerhörigkeit<br />
pandemischen Charakters, wie dieser sich im globalen<br />
Zeitalter ziemlich rasch ausbreitet. Ein funktionierendes gesellschaftliches<br />
System zeichnet sich dadurch aus, dass es als Supersystem<br />
seine Ideen in die einzelnen Subsysteme und Subsubsysteme<br />
einspeist, diese also erreicht und bereichert. Umgekehrt<br />
funktioniert es genauso, aber bunter und z.T. natürlich ebenso<br />
gruppenspezifisch wie individualistisch, also auch divergent.<br />
Durch diesen Austausch können sich blühende Landschaften,<br />
renaturierte soziale Biotope oder regelmäßig gemähte Wiesen<br />
herausbilden. So habe ich mir die Zeiten zum Ende der achtziger<br />
Jahre mit Hilfe von Niklas Luhmanns Systemtheorie zu erklären<br />
gesucht, einem digitalisierten Marxismus ohne Marx.<br />
Ein Teil der Regierten kann z.B. feststellen, dass er vom Staat<br />
vernachlässigt wird. Das Supersystem speist in diese gesellschaftlichen<br />
Regionen weder Geist noch Materie ein. Die Leute<br />
werden nicht angehört. Eines unerwarteten Tages schreien<br />
und schlagen sie. So werden sie akustisch und visuell wahrgenommen.<br />
Ihr Grundanliegen wird weiter überhört, weil sie zu<br />
laut und brutal sind, um authentisch wahrgenommen werden<br />
zu können. Nehmen wir England, wo es auf den ersten Blick<br />
und auch nach weiterem Augenschein so zugeht. Die Agenten<br />
des Supersystems und seiner Unterabteilungen reagieren nicht<br />
anders. Für sie liegen die Ursachen des Konflikts allein im Prekariat,<br />
seiner Faulheit, seiner Raffgier, Hemmungslosigkeit und<br />
Unmoral. Schichtenspezifische Wurzeln der Gewalt also bei<br />
den underdogs.<br />
Diesem Urteil geht eine lange kulturgeschichtliche Aversion<br />
voraus. In „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1856) hat Gottfried<br />
Keller das wohlsortierte Bürgertum nach dem Freitod des<br />
Liebespaares die „Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften“<br />
beklagen lassen. Otto F. Walter, wieder ein<br />
Schweizer, hat beschrieben, wie das im 20.Jahrhundert weiter<br />
gegangen ist: In seinem Roman „Die Verwilderung“ (1977)<br />
zeigt er, wie ordentliche Bürger eine alternative Kommune lynchen.<br />
So politisch und europäisch lässt sich Literatur lesen, und<br />
es war nicht in England, sondern in einer - oberflächlich gesehen<br />
- ruhigen Eidgenossenschaft von fast lauter soliden Leuten.<br />
Was ich hier zu beschreiben versuchte, sind keine Analysen,<br />
sondern Einseitigkeiten. Sie sind auf beiden Seiten dumm, aber<br />
geradezu katastrophal für beide Seiten durch diejenigen, die<br />
über das Knowhow und die Logistik, die Organisationsstrukturen<br />
und hinreichend Macht für die Analyse verfügen. Wer<br />
von Kind auf teure Privatschulen und später Universitäten<br />
ganz oben im Ranking besucht, um sodann beruflich in die<br />
Fußstapfen der Vorväter zu treten, der gehört noch lange nicht<br />
zu einer realen Elite, aber auf jeden Fall zur hochdotierten Prominenz<br />
des Landes und lebt in einem noblen Getto ohne Fühler<br />
in die fatalen Gettos.<br />
So wachsen Unkenntnis, Entfremdung, Snobismus und Missachtung,<br />
was zur Dämonisierung und Kriminalisierung der an-<br />
deren führt. Diese agieren auch nicht als Unschuldslämmer<br />
und reagieren eines Tages nicht mehr wie Kinder von Traurigkeit.<br />
Das etwa könnte der Lauf der Dinge sein, wenn Luhmann<br />
total Recht hätte und die Abschottung der sozialen Provinzen<br />
absolut wäre. Die Tendenz dazu entwickelt sich allerdings massiv.<br />
Seit Jahrzehnten erlebe ich, wie Menschen dämonisiert und<br />
kriminalisiert werden, die sich in öffentlichen Räumen für<br />
Menschenrechte und Menschenwürde einsetzen, gegen die<br />
Verblendung der Gesellschaft durch Rassismus und Fremdenverachtung<br />
(siehe Dresden, Jena Greifswald, <strong>Rostock</strong>). Anstatt<br />
diese zumeist jungen Menschen als Hoffnung lebende und stiftende<br />
Alternative zu feiern, sollen sie ins politische und gesellschaftliche<br />
Abseits gedrängt werden, damit sie verstummen.<br />
In einer Zeit der Ungleichheit brauchen wir Respekt voreinander.<br />
Von jemandem, der kostspielige Psychoseminare erfolgreich<br />
absolviert hat, um sich respektvoll in sich und andere einfühlen<br />
zu können, sollte diese Kompetenz auch sozial einsetzen.<br />
Es tun auch andere. In Birmingham stoppte Tarik Jahan,<br />
Einwanderer aus Südasien, nach der Ermordung seines Sohnes<br />
durch Plünderer den Beginn eines Rachefeldzuges mit dem lauten<br />
Satz: „Wer auch einen Sohn verlieren will, soll jetzt vortreten.“<br />
Was für eine antike Wucht, was für eine akute Kompetenz!<br />
Hier geht`s lang.<br />
Nun bedeutet riot laut Wörterbuch umgangssprachlich auch<br />
‚Bombenerfolg‘. Den erstreben jenseits des Slangs buchstäblich<br />
ganze Staaten. Krawalle, Unruhen, Gewaltausbrüche und Kriege<br />
spiegeln sich ineinander. Da verschwindet er, der Respekt,<br />
den wir Verschiedenen voreinander brauchen. Was sollen denn<br />
schöne Fassaden, wenn das Land Kriege führt? Das Schlimme<br />
ist: Alles hängt zusammen und wirkt aufeinander - Innen und<br />
Außen, nah und fern, Eigenes und Fremdes. Ein Land, das<br />
Krieg führt, sei er militärisch oder sozial, muss mit Unruhen<br />
im Innern rechnen. Es dauert, zieht sich hin und ist unerwartet<br />
überraschend da. Daraufhin erschallen Zeter und Mordio als<br />
Resultat einer grassierenden gesellschaftlichen Schwerhörigkeit<br />
pandemischen Charakters. Aber das hatten wir ja schon.<br />
¬<br />
--<br />
Mehr:<br />
Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin<br />
2004<br />
Eddi Hartmann, Strategien des Gegenhandelns - Zur Sozialdynamik<br />
symbolischer Kämpfe um Zugehörigkeit, Konstanz 2010
0.28 __ //// STADTGESPRÄCH | TUE GUTES UND REDE DARÜBER<br />
Die Spur der Ringe<br />
JENS LANGER<br />
Eines schönen Sommersonntags setzte ich mich auf eine Bank<br />
am <strong>Rostock</strong>er Kempowski-Ufer, einen Steinwurf von der Warnow<br />
entfernt. Heimat. Ich räkelte mich entspannt in der Mittagssonne.<br />
Noch bevor ich in stiller Übereinstimmung mit dem<br />
Schriftsteller fühlen konnte „Uns geht`s ja noch gold“, trat aus<br />
dem Hintergrund ein junger Mann hervor, stutzte an meiner<br />
Bank, sprach „Oh!“ und bückte sich. Er überreichte mir einen<br />
goldenen Fingerreif: „Lag an ihrer Bank.“ Ich bin ein schmuckloser<br />
Typ und gab ihm den Ring zurück. „Innen ist aber ein<br />
Stempel“, informierte er mich nach Betrachtung des guten<br />
Stücks. „Ja, aber der ist unleserlich“, informierte ich ihn über<br />
meine nach Überprüfung des Gegenstandes gewonnenen Erkenntnisse.<br />
Ich riet ihm, das Fundstück dem nächsten Polizisten<br />
auszuliefern. Er stimmte zu.<br />
Weil er wohl mein Interesse spürte, erzählte er von sich. Vielleicht<br />
hatte er auch gar nichts gespürt, aber anschaulich zu erzählen<br />
begann er jedenfalls. Er kam nach seinen Worten aus<br />
Kroatien, schilderte sein Mutterland aber nicht so EU-konformistisch<br />
wie die Beamten aus Brüssel, sondern mehr so, wie<br />
schon James Krüss vor vielen Jahrzehnten seine abenteuerlichen<br />
Geschichten vom Balkan grundierte. Arbeitslosigkeit und<br />
Korruption grassierten und hätten ihn aus seiner Heimat vertrieben.<br />
Er sei illegal eingereist und arbeite auch so. Sein Kollege,<br />
ein Russe, söffe fürchterlich. Ich dachte bei mir, der Russe<br />
und seine Landsleute kommen ja zu Glück garantiert nicht in<br />
die EU. Mein Entdecker weiter: Auch in der Firma fände sich<br />
kein gutes Klima und wenig Geld. „Ich will zurück.“ Er hieß<br />
Daniel, und als ich ihm den Namen unseres jüngsten Enkels<br />
nannte, stellte sich überraschend heraus, dass sein Vater ebenso<br />
hieß. Wie ich da so saß, und Daniel da so stand, veranschaulichten<br />
wir den oft leider nur abstrakt beschriebenen Prozess,<br />
wie sich aus wechselseitiger Einfühlung Sympathie entwickelt.<br />
Eine EU im Kleinen.<br />
Sein illegaler Status forderte allerdings eine logische Konsequenz.<br />
Er gab mir den Ring zurück. „Ich kriege Probleme,<br />
wenn ich den Ring einem Polizisten gebe und der nach meinen<br />
Papieren fragt.“ Sein Deutsch schien besser geworden zu sein,<br />
seit Beginn unseres Dialogs. Als er sich verabschiedet und ich<br />
ihm alles Gute gewünscht hatte, kehrte er nach wenigen Schritten<br />
noch einmal zurück. Er hatte Hunger und wollte zu Mittag<br />
essen. Er brauchte Geld. Ich gab ihm eine Summe, die mir<br />
selbst zu gering vorkam. Er sprach das auch offen an. So war<br />
unser Verhältnis inzwischen. Ich regulierte diese an sich unnötige<br />
Irritation zwischen uns sofort. Er machte sich auf seinen<br />
Weg, nur ein Stück von der Straße entfernt, in der Kempowskis<br />
Vater sein Reederei-Büro geführt hatte. Ich freute mich noch<br />
einmal über den Zuwachs an sprachlicher Kompetenz bei meinem<br />
Bekannten durch diese ideale Kommunikation zwischen<br />
Fremden und ging ebenfalls zum Mittag (am Familientisch).<br />
Im Laufe der Woche stellte sich heraus, dass auch meine älteste<br />
Kusine mit einem solchen Glücksfund konfrontiert wurde. Ja,<br />
in der Gymnastikstunde einer städtischen Seniorenresidenz<br />
konnten sich mehrere Damen eines solch entdeckten Ringes<br />
rühmen. Wie nicht anders zu erwarten, kam bei einem internen<br />
Vergleich heraus, dass mein Daniel Croaticus der Charmanteste<br />
aller Entdecker war. Bei aufkeimender Griesgrämigkeit<br />
in der Sache bleibt für mich immer noch überzeugend, wie<br />
sich in dieser Geschichte lokales Sein und globale Existenz teilweise<br />
gewinnbringend ineinander verschränken. ¬<br />
--<br />
Eine heimische Wochenzeitung meldet:<br />
„ (...) In Lütten Klein überraschte eine Frau einen älteren<br />
Herrn, indem sie ihm einen scheinbar zufällig gefundenen angeblichen<br />
Goldring für 50 Euro anbot. (...) Da erfahrungsgemäß<br />
derlei Betrüger gruppenweise, oft in ganzen Aktionswochen und<br />
häufig recht aufdringlich, durch die Wohngebiete ziehen, warnt<br />
die Verbraucherzentrale davor, auf der Straße von unbekannten<br />
Personen angeblich goldene Ringe (...) zu kaufen.“ NNN<br />
13.7.2011
Herausforderungen<br />
und Stolpersteine<br />
migra e.V. begleitet MigrantInnen bei der beruflichen<br />
Integration<br />
ANDREA KRÖNERT<br />
Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund leben in <strong>Rostock</strong>?<br />
Und wer ist eigentlich ein Migrant? Allein die letzte<br />
Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Klar ist nur, dass<br />
die Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit zu kurz greift.<br />
Migranten sind Menschen, die im Ausland geboren, also zugewandert<br />
sind, egal welche Staatsangehörigkeit sie haben. Außerdem<br />
zählen diejenigen Menschen mit Migrationshintergrund,<br />
die in Deutschland geboren wurden und bei denen<br />
mindestens ein Elternteil zugewandert ist.<br />
Und wie viele MigrantInnen leben nun in unserer Stadt? In<br />
<strong>Rostock</strong> leben gegenwärtig 7.175 Personen mit ausländischem<br />
Pass, das entspricht einem Anteil von 3,5 %. Dazu kommen<br />
273 Personen, die in den letzten beiden Jahren eingebürgert<br />
wurden. Für <strong>Rostock</strong> relevant ist außerdem die Gruppe der<br />
SpätaussiedlerInnen. Die meisten dieser Menschen aus der ehemaligen<br />
Sowjetunion haben unmittelbar nach ihrer Einreise<br />
die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Statistisch wird diese<br />
Gruppe nicht gesondert erfasst, Schätzungen gehen von 6.000<br />
Personen aus. Insgesamt kann der Anteil der Menschen mit<br />
Migrationshintergrund für <strong>Rostock</strong> damit auf etwa 6,5 %<br />
hochgerechnet werden.<br />
Zwei entscheidende Säulen für eine gelingende Integration von<br />
MigrantInnen sind die sprachliche Verständigung und die berufliche<br />
Eingliederung. Der Verein migra e.V. unterstützt zugewanderte<br />
Menschen bei diesen beiden Herausforderungen. Die<br />
Hürden sind hoch: Wie schwer es ist, eine andere Sprache zu<br />
lernen, haben wir alle schon erfahren. Und trotzdem führt am<br />
Erlernen der deutschen Sprache kein Weg vorbei. Und auch die<br />
berufliche Eingliederung ist für viele MigrantInnen ein Hindernislauf<br />
mit herben Rückschlägen, wenn ausländische Schulund<br />
Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden und berufliche<br />
Erfahrungen nicht zählen. Dazu kommen vielfältige Diskriminierungserfahrungen.<br />
Herr A. aus dem Irak meint: „Ich habe so<br />
viele Bewerbungen geschrieben. Aber wenn deutsche Arbeitgeber<br />
Namen wie Ali oder Hassan lesen, dann schicken sie nicht<br />
mal eine Antwort.“ Einer Schwarzafrikanerin, die Altenpflegerin<br />
werden will, wurde im Vorstellungsgespräch geraten, nach<br />
Hamburg oder Berlin umzuziehen. Die Menschen in M-V wären<br />
noch nicht so weit …<br />
Wie genau sieht nun das Beratungs- und Unterstützungsangebot<br />
von migra aus? Seit 2009 arbeitet migra nach dem Programm<br />
IBQ - Integration durch individuelle berufliche Qualifizierung.<br />
Dieses Programm vereint erstmals alle staatlichen<br />
Akteure und Projekte im Bereich der beruflichen Integrationsförderung<br />
in der Region <strong>Rostock</strong>. Das IBQ-Programm gliedert<br />
sich in drei Phasen: berufliche Erstanamnese, Kompetenzfeststellung<br />
und berufliches Coaching. Selbstredend ist IBQ<br />
kein starres Programm. Alle Teilschritte beachten die individuellen<br />
Besonderheiten der TeilnehmerInnen. Übrigens: Fünf der<br />
13 MitarbeiterInnen von Migra haben selbst einen Migrationshintergrund.
0.30 __ //// TUE GUTES UND REDE DARÜBER<br />
Wie funktioniert IBQ? Arbeitssuchende MigrantInnen müssen<br />
sich genau wie Deutsche bei der Agentur für Arbeit oder<br />
dem Jobcenter melden. Von dort werden sie in das IBQ-Programm<br />
vermittelt, das migra zusammen mit dem BILSE-Institut<br />
und weiteren Bildungsträgern durchführt.<br />
In der ersten Phase erfassen die BeraterInnen von migra alle<br />
wichtigen Daten wie Aufenthaltsstatus, Berufsabschlüsse, beruflichen<br />
Werdegang, relevante persönliche Fähigkeiten,<br />
Sprachkenntnisse, Integrationskurse, Weiterbildungen und den<br />
Berufswunsch. Gemeinsam mit den TN wird das berufliche<br />
Profil erarbeitet. In einer Dokumappe werden Nachweise über<br />
Qualifikationen, Fähigkeiten und Kompetenzen der TeilnehmerInnen<br />
systematisch zusammengetragen. Spätestens beim<br />
Bewerben ist diese Mappe dann eine echte Hilfe. In der ersten<br />
Phase, die bis zu 10 Einzeltermine umfassen kann, werden die<br />
TeilnehmerInnen aber auch über Berufsbilder und das Ausbildungssystem<br />
in Deutschland informiert.<br />
Manche TeilnehmerInnen kommen auch mit einer ganz bestimmten<br />
Frage in die Erstberatung: Eine Apothekerin mit<br />
mehrjähriger Berufserfahrung aus dem russischsprachigen<br />
Raum wollte wissen, ob ihr Abschluss Chancen auf eine Anerkennung<br />
hat. Die Recherche beim Landesprüfungsamt für<br />
Heilberufe ergab, dass leider keine Möglichkeiten der kompletten<br />
Anerkennung vorliegen.<br />
Um ihre beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu überprüfen,<br />
können die TeilnehmerInnen in der zweiten Phase an einer<br />
vierwöchigen Kompetenzfeststellung teilnehmen. In der ersten<br />
Woche erfolgt ein individuelles Profiling. Über gruppendynamische<br />
Prozesse werden personelle Kompetenzen wie Teamfähigkeit<br />
und Kommunikationsverhalten ermittelt. Außerdem<br />
werden Medienkompetenzen und Sprachkenntnisse abgeprüft.<br />
Die TeilnehmerInnen recherchieren zu möglichen Berufen und<br />
vergleichen ihre individuellen Stärken und Kompetenzen mit<br />
den Anforderungen ihres angestrebten Berufsbildes. Die fachliche<br />
Kompetenzfeststellung erfolgt dann im Rahmen eines dreiwöchigen<br />
Praktikums in einem Betrieb. BILSE und migra können<br />
dafür auf ein Netzwerk an Partnern aus dem Handwerk,<br />
sozialen Einrichtungen und dem öffentlichen Dienst zurückgreifen.<br />
Wenn jemand als Automechaniker arbeiten möchte,<br />
erfolgt das Praktikum in einer Autowerkstatt. Dabei wird ermittelt,<br />
ob derjenige grundsätzlich kann, was in einer Autowerkstatt<br />
notwendig ist und wo noch Defizite liegen. Am Ende<br />
der Phase II wird gemeinsam mit den TeilnehmerInnen ein Berufswegeplan<br />
erarbeitet. Es werden weitere Schritte zum Beispiel<br />
für Aus- oder Weiterbildungen abgesteckt.<br />
Der Übergang in Phase III erfolgt sehr individuell. Wenn die<br />
fachliche Einschätzung gut ist, aber die Sprachkompetenz fehlt,<br />
dann werden den TeilnehmerInnen Kurse für berufsbezogenes<br />
Deutsch empfohlen. Vermittelungsfähige TeilnehmerInnen erhalten<br />
ein Jobcoaching: Sie werden aktiv bei der Arbeitsplatzsuche<br />
unterstützt und können an Bewerbungstrainings teilnehmen.<br />
Wieder andere TeilnehmerInnen werden in berufliche<br />
Weiterbildungen, Umschulungen oder in eine Ausbildung vermittelt.<br />
Hier zahlt sich die enge Zusammenarbeit mit der Ar-<br />
beitsagentur und dem Jobcenter aus, die die Qualifizierungsmaßnahmen<br />
finanzieren. Wie vielfältig und individuell die Unterstützung<br />
und Begleitung sein kann, zeigt folgendes Beispiel:<br />
Frau M. aus Russland ist Bibliothekarin mit 20jähiger Berufserfahrung.<br />
Ihr Abschluss wurde durch das Kulturministerium<br />
anerkannt. Sie hat einen berufsbezogenen Fachsprachkurs – gefördert<br />
von der Otto-Benecke-Stiftung – absolviert. Ein Praktikum<br />
in der Uni-Bibliothek bescheinigt ihr eine hohe fachliche<br />
Kompetenz. Frau M. bemüht sich nun zusammen mit migra<br />
darum, ein weiteres Praktikum zum Erlernen eines EDV-gestützten<br />
Bibliothekssystems zu absolvieren. Kenntnisse dieses<br />
Programms würden die Chancen von Frau M. auf dem Arbeitsmarkt<br />
enorm erhöhen, da das Beherrschen dieses Programms<br />
Bestandteil der Ausbildung in Deutschland ist.<br />
Seit 2009 haben 556 MigrantInnen das IBQ-Programm vollständig<br />
durchlaufen. Insgesamt 336 Personen (60%) konnten<br />
auf den Arbeits- und Ausbildungsmarkt geführt werden, davon<br />
160 in versicherungspflichtige Tätigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt<br />
sowie 8 Personen in die Existenzgründung. Auch<br />
wenn das Durchlaufen des Programms nicht sofort in den ersten<br />
Arbeitsmarkt mündet, wird ein Fundament gelegt, das den<br />
Teilnehmenden Berufswege und Perspektiven aufzeigt.<br />
Uta Wehebrink von migra e.V. arbeitet seit 15 Jahren im Bereich<br />
der beruflichen Beratung für MigrantInnen in <strong>Rostock</strong>.<br />
Sie findet, dass sich das Klima in <strong>Rostock</strong> insgesamt sehr gewandelt<br />
hat: „Früher war es oft schwierig, einen Praktikumsplatz<br />
zu finden. Jetzt sind Praktikumsplätze kein Problem mehr<br />
und ich spüre insgesamt eine viel größere Offenheit.“<br />
Im Fall der Afrikanerin, die Altenpflegerin werden will, bemüht<br />
sich Uta Wehebrink übrigens gerade um einen Praktikumsplatz<br />
in einer anderen Einrichtung. Ihr geht es in erster<br />
Linie um die Feststellung der Eignung der jungen Frau für diesen<br />
Beruf, aber auch darum, das genannte Argument zu entkräften<br />
und diskriminierende Denkmuster aufzubrechen. ¬<br />
--<br />
Weitere Informationen unter www.migra-mv.de
FOTOS: ANDREA KRÖNERT
0.32 __ //// HANSESAIL NACHBETRACHTUNG<br />
Flyer des <strong>Rostock</strong>er Friedensbündnisses zur HanseSail 2011<br />
Rettet den Standort<br />
Liebe Besucherinnen und Besucher der Hanse Sail,<br />
wenn Ihnen in diesen Tagen das verwirrende Bunt des friedlichen<br />
Seglerfestes zu viel wird, könnten Ihre Augen ausgiebig<br />
auf dem edlen, einfachen Grau eleganter Militärschiffe ausruhen,<br />
wenn … ja, wenn …<br />
… die Bundeswehr nicht umgebaut würde. Und unser Standort<br />
gleich mit! Es ist schlimm genug, dass unsere Eurofighter in<br />
Laage als Flugschulmühlen verrotten müssen und nicht beim<br />
großen Test über Libyen dabei sein dürfen. Unsere Korvetten,<br />
die am höchsten technisierten und aggressivsten Schiffe der<br />
NATO, die alle fünf hier in Hohe Düne stehen sollten – wo<br />
sind sie nach ihren Getriebeschäden? Sie werden inzwischen<br />
unter extremen Wassertemperaturbedingungen getestet. Das<br />
wurde auch Zeit! Vor Somalia wartet man schon lange auf sie.<br />
Korvetten ans Horn von Afrika! Seeweg frei für die deutschen<br />
Handelsgewinne! Geld für die Enteignung der Piraten statt für<br />
die Bekämpfung der Hungersnot in der Region! Aber werden<br />
die tollen Kriegsschiffe zu uns zurückkommen? Noch ist nichts<br />
entschieden. Man munkelt, seelenlose Bürokraten wollen sie<br />
uns nehmen und uns dafür mit noch mehr staubtrockener Marineverwaltung<br />
abspeisen. Wir protestieren!<br />
Unser Standort ist schon schwer gebeutelt. Er sollte der modernste<br />
Marinestützpunkt Deutschlands werden. Allein von<br />
2000 bis 2007 wurden in Hohe Düne 40 Millionen Euro investiert.<br />
Brückenbauten, Ausbaggerungen .. . alles für die Korvetten.<br />
Und diese Kanonenboote selbst – 300 Millionen Euro pro<br />
Stück! Forderungen, das Geld für etwas anderes auszugeben,<br />
mussten abgewehrt werden. Das war gar nicht so leicht! Eine<br />
Korvette, das sind immerhin rund 100 Grundschulen. Aber<br />
Schüler gibt es ja bald keine mehr in MV. Die Lehrerausbildung<br />
an den Universitäten des Landes wird gerade gekürzt. Ein<br />
Altersdurchschnitt von 45,5 Jahren, eine offizielle Arbeitslosenquote<br />
von 11,7%, die zweithöchste Militärdichte der BRD<br />
und demnächst vielleicht ein Atom-Endlager - da reichen Seiteneinsteiger<br />
in den Lehrerberuf und Jugendoffiziere der Bundeswehr<br />
für die Bildung aus. Überhaupt, für Schulen ist das<br />
Marineamt in <strong>Rostock</strong> zuständig: für die Marineschulen der<br />
BRD!<br />
Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Und wenn sie uns schließen,<br />
machen wir vorher das Beste draus: Raus aus MV, rein in die<br />
Kriegsgebiete der Welt – dafür wird die Bundeswehr doch umgebaut!<br />
Unsere Passagierfähren transportieren Kernbrennstäbe<br />
über die Ostsee, unsere Militärschiffe transportieren neuen<br />
deutschen Stolz über den Erdball. Wer <strong>Rostock</strong> noch nicht<br />
kennt, der soll es kennenlernen!<br />
Die wenigen Schiffe, die zur Hanse Sail noch da sind, sind natürlich<br />
für Sie. Erfreuen Sie sich an dem schnittigen Schnellboot<br />
>Hermelin< und seinen Werbeflyern für die Bundeswehr<br />
und an der Fregatte >Mecklenburg-VorpommernGorch Fock