06.11.2023 Aufrufe

Lesen Magazin 04/2023

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Frau Wood, wir führen dieses Gespräch<br />

über verschiedene Kontinente hinweg,<br />

von Zürich nach Sydney, in zwei völlig<br />

unterschiedlichen Zeitzonen. Wie fühlt<br />

es sich an, zu wissen, dass Ihre Romane<br />

und Ihre Worte Leser*innen erreichen<br />

und berühren, die – im wahrsten Sinn<br />

des Wortes – am anderen Ende der Welt<br />

leben?<br />

Das ist für mich immer noch sehr erstaunlich.<br />

Ich bin glücklich, dass die deutsche<br />

Ausgabe von «Ein Wochenende» so gut<br />

angekommen ist. Was mich sehr überrascht,<br />

denn in Australien fühlen wir uns<br />

manchmal sehr weit weg von allem, was<br />

auf der nördlichen Hemisphäre passiert.<br />

In gewisser Weise gibt einem das die Freiheit,<br />

ein wenig in Vergessenheit zu geraten<br />

– sodass wir immer ziemlich schockiert<br />

sind, wenn jemand überhaupt weiss, dass<br />

wir Australier*innen sind, geschweige<br />

denn, dass man unsere Bücher geniesst! Ich<br />

bin absolut begeistert – und überrascht.<br />

Das liegt wahrscheinlich auch daran,<br />

dass sich Ihre Romane mit sehr menschlichen<br />

Themen befassen, mit denen<br />

wir alle etwas anfangen können.<br />

Das hoffe ich auch. Ich glaube, die meisten<br />

Autor*innen hoffen, etwas Universelles<br />

zu erreichen und die Menschen zu erreichen,<br />

egal, wo sie leben. Es ist also schön,<br />

zu wissen, dass das der Fall ist.<br />

Kommen wir zu Ihrem neuesten Roman<br />

«Tage mit mir». Eine Frau beschliesst,<br />

ihr Leben, ihren Job und ihren Mann<br />

zurückzulassen, um sich einem Kloster<br />

für Frauen anzuschliessen – obwohl<br />

sie selbst nicht religiös ist, nicht betet<br />

und nicht einmal sicher ist, ob Gott<br />

existiert. Woher kam die Idee?<br />

Das ist eine sehr gute Frage, und ich finde<br />

sie schwierig zu beantworten. Der Ort und<br />

die Landschaft, in denen der Roman spielt,<br />

sind der Ort, an dem ich aufgewachsen<br />

bin. Der Gedanke des Nach-Hause-Kommens<br />

wurde also wichtig für mich. Die<br />

Landschaft dort ist sehr streng, rau, kahl<br />

– manchmal wird sie als Mondlandschaft<br />

bezeichnet –, und das passte sehr gut zum<br />

Ton des Buchs und zu den Themen, mit<br />

denen ich mich schliesslich befasste. Mich<br />

hat auch die Frage interessiert, warum<br />

Frauen in der heutigen Zeit Nonnen werden.<br />

Das ist sehr verwirrend für mich. Aber<br />

ich sehe gleichzeitig den Reiz, sich einer<br />

Gemeinschaft anzuschliessen, die vom Rest<br />

der Welt getrennt ist. Insbesondere für<br />

Frauen, auch wenn viele von uns denken,<br />

dass zum Beispiel katholische Nonnen ein<br />

sehr eingeschränktes Leben führen – sie<br />

dürfen nicht die Kleider tragen, die sie möchten, sie dürfen nicht<br />

heiraten und so weiter – und doch glaube ich, dass dieses Leben für<br />

manche Frauen eine enorme Freiheit bedeuten kann. Frei vom alltäglichen<br />

Sexismus des normalen Lebens und frei davon, von einer<br />

männlichen Gesellschaft kontrolliert zu werden. Ich kann die Anziehungskraft<br />

verstehen. Zudem hat mich immer sehr beeindruckt,<br />

dass es auf der ganzen Welt politisch radikale christliche Nonnen<br />

gibt, die teilweise sehr gefährliche und mutige Arbeit leisten,<br />

sich beispielsweise gegen diktatorische Regierungen stellen und<br />

gegen die Untätigkeit beim Klimawandel kämpfen – also eine sehr<br />

politische, aktive Arbeit. Als ich die Idee hatte, meine Geschichte in<br />

einem Frauenkloster anzusiedeln, wollte ich unbedingt dieses Aufeinandertreffen<br />

verschiedener Arten von Ordensfrauen haben.<br />

Sie erwähnen das Schreiben über Gemeinschaften von<br />

Frauen. Auch ihr Roman «Ein Wochenende» dreht sich<br />

um eine Gruppe von Frauen. Ihre Charaktere gehören häufig<br />

einer Bevölkerungsgruppe an, die in vielen Medien weitgehend<br />

ausgeklammert wird – Frauen, die älter als 60 Jahre<br />

alt sind. Sind Ihre Bücher ein wichtiger Versuch, sie wieder<br />

sichtbarer zu machen?<br />

Das war bei «Ein Wochenende» definitiv der Fall. Ich wollte nicht<br />

über eine ältere Frauenfigur schreiben, wie sie häufig im Fernsehen<br />

und in Büchern auftaucht: definiert durch familiäre Beziehungen,<br />

als die Grossmutter oder Mutter. Ich wollte von drei älteren Frauen<br />

erzählen, die so sind wie die Frauen, die ich selbst kenne – die sehr<br />

unabhängig sind, die noch arbeiten oder gerne arbeiten würden,<br />

die sehr energisch sind und ihr Leben in der Gegenwart leben, ohne<br />

sich gross für die Vergangenheit zu interessieren. Wenn wir in der<br />

Popkultur ältere Menschen zeigen, sind diese oft von der Vergangenheit<br />

besessen und sehnen sich nach ihrer verlorenen Jugend. Die<br />

70- und 80-jährigen Menschen, die ich kenne, sind überhaupt nicht<br />

so. Bei «Tage mit mir» geht es mir nicht so sehr um den Altersaspekt,<br />

aber ich habe mich zum dritten Mal in Folge dabei ertappt, dass ich<br />

über eine Gemeinschaft von Frauen schreibe. Ich weiss nicht, was<br />

das über mich aussagt. Ein Freund von mir meinte: «Das liegt daran,<br />

Charlotte Wood wurde 1962<br />

geboren und stammt aus New<br />

South Wales, Australien. Heute<br />

lebt sie in Sydney. Sie ist Journalistin<br />

und Autorin von mehreren<br />

Romanen und Sachbüchern und<br />

wurde unter anderem mit dem<br />

Stella Prize ausgezeichnet.<br />

2020 erschien ihr internationaler<br />

Erfolgsroman «Ein Wochenende»<br />

erstmals auf Deutsch.<br />

dass du in einer grossen Familie aufgewachsen bist», denn in all<br />

meinen Büchern geht es darum, das Zusammenleben mit anderen<br />

Menschen zu verhandeln, und genau das tut auch die Erzählerin in<br />

«Tage mit mir». Es ist schwer, mit anderen Menschen zusammenzuleben.<br />

Und genau dieser Aspekt interessiert mich: Wie kommen<br />

wir miteinander aus? Meine Bücher sind Mikrokosmen dieser grösseren<br />

Frage: Wie kommen wir in der Gesellschaft miteinander aus?<br />

«Ich wollte nicht über eine ältere<br />

Frauenfigur schreiben, wie sie<br />

häufig im Fernsehen und in<br />

Büchern auftaucht: definiert<br />

durch familiäre Beziehungen, als<br />

die Grossmutter oder Mutter.»<br />

Die Natur ist in Ihren Büchern sehr präsent, und auch Tiere<br />

spielen in den Geschichten eine wichtige Rolle. Wie sieht<br />

Ihre eigene Beziehung zur Natur aus?<br />

Ich bin auf dem Land gross geworden, meine Mutter hatte einen<br />

Garten, wir haben häufig im australischen Busch gezeltet. Ich bin<br />

sehr eng mit der Natur aufgewachsen und hatte eine naturverbundene<br />

Familie. Und obwohl ich jetzt in der Stadt lebe, verbringe<br />

ich viel Zeit in einer kleinen Küstenstadt. Die Natur ist für mich<br />

sehr wichtig. Und die Tiere – jemand hat mich einmal darauf hingewiesen,<br />

dass in meinen Büchern immer Tiere vorkommen, ohne<br />

dass ich das bewusst registriert hatte. Tiere wissen Dinge, die wir<br />

nicht wissen, Tiere existieren in einem anderen Reich. Hin und<br />

wieder gibt es einen Hauch von Verständnis zwischen Mensch und<br />

Tier, aber meistens schauen wir gar nicht hin. In meinen Romanen<br />

tragen die Tiere immer ein Geheimnis oder eine Bedeutung mit<br />

sich, die die menschlichen Figuren noch nicht verstehen oder nie<br />

verstehen werden.<br />

Charlotte Wood © Carly Earl<br />

Ein<br />

Wochenende<br />

Charlotte Wood,<br />

Kein & Aber, CHF 19.90<br />

Wie lange der Aufenthalt<br />

im Kloster dauern würde,<br />

war ihr nicht klar, aber er<br />

dauert länger, als es die<br />

Städterin mittleren Alters<br />

aus Sydney erwartet hätte.<br />

Müde von Arbeit und<br />

Stadtleben hat sie sich eher<br />

zufällig für diese Form<br />

von Rückzug entschieden<br />

und ist vorerst einfach<br />

mal geblieben. Das ermöglicht<br />

ihr, auf überraschende<br />

Weise zu sich selbst<br />

zu finden und sich mit den<br />

verschiedensten Fragen<br />

auseinanderzusetzen.<br />

Wie wird und wie bleibt<br />

man die Hauptfigur des<br />

eigenen Lebens, und zwar<br />

als Frau? Was braucht es,<br />

um diese Rolle nicht nur<br />

auszufüllen, sondern<br />

darin auch ein erfülltes<br />

Leben zu führen? Was<br />

sollten wir «besitzen,<br />

worauf Anspruch erheben,<br />

was wegwerfen,<br />

was weitergeben»?<br />

Unterschiedlicher hätten<br />

die Leben der vier Freundinnen<br />

kaum verlaufen<br />

können, und doch bleiben<br />

sie sich über die Jahrzehnte<br />

hinweg treu: Jude,<br />

Adele, Wendy und Sylvie.<br />

Als Letztere stirbt, wird<br />

den drei anderen klar, dass<br />

sie ohne ihre Freundin neu<br />

definieren müssen, was sie<br />

zusammenhält.<br />

Tage mit mir<br />

Charlotte Wood,<br />

Kein & Aber,<br />

CHF 29.90<br />

Charlotte Woods Favoriten<br />

Die Unvollkommenheit<br />

der Liebe<br />

Elizabeth Strout,<br />

btb, CHF 17.90<br />

Als die Schriftstellerin<br />

Lucy Barton längere Zeit im<br />

Krankenhaus verbringen<br />

muss, erhält sie Besuch von<br />

ihrer Mutter, die sie jahrelang<br />

nicht mehr gesehen hat. Zunächst<br />

ist sie überglücklich.<br />

Doch während sie der Stimme<br />

ihrer Mutter lauscht, die ihr<br />

Geschichten von den Leuten<br />

aus der Heimat erzählt,<br />

während Mutter und Tochter<br />

ein neues Band zu formen<br />

scheinen, kommen Erinnerungen<br />

wieder hoch, die sie<br />

längst hinter sich gelassen<br />

zu haben glaubte …<br />

Ein eigenes<br />

Haus<br />

Deborah Levy,<br />

Hoffmann und<br />

Campe, CHF 21.90<br />

12 <strong>Lesen</strong> <strong>Magazin</strong> Interview<br />

<strong>Lesen</strong> <strong>Magazin</strong><br />

Interview<br />

13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!