Lesen Magazin 04/2023
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Frau Wood, wir führen dieses Gespräch<br />
über verschiedene Kontinente hinweg,<br />
von Zürich nach Sydney, in zwei völlig<br />
unterschiedlichen Zeitzonen. Wie fühlt<br />
es sich an, zu wissen, dass Ihre Romane<br />
und Ihre Worte Leser*innen erreichen<br />
und berühren, die – im wahrsten Sinn<br />
des Wortes – am anderen Ende der Welt<br />
leben?<br />
Das ist für mich immer noch sehr erstaunlich.<br />
Ich bin glücklich, dass die deutsche<br />
Ausgabe von «Ein Wochenende» so gut<br />
angekommen ist. Was mich sehr überrascht,<br />
denn in Australien fühlen wir uns<br />
manchmal sehr weit weg von allem, was<br />
auf der nördlichen Hemisphäre passiert.<br />
In gewisser Weise gibt einem das die Freiheit,<br />
ein wenig in Vergessenheit zu geraten<br />
– sodass wir immer ziemlich schockiert<br />
sind, wenn jemand überhaupt weiss, dass<br />
wir Australier*innen sind, geschweige<br />
denn, dass man unsere Bücher geniesst! Ich<br />
bin absolut begeistert – und überrascht.<br />
Das liegt wahrscheinlich auch daran,<br />
dass sich Ihre Romane mit sehr menschlichen<br />
Themen befassen, mit denen<br />
wir alle etwas anfangen können.<br />
Das hoffe ich auch. Ich glaube, die meisten<br />
Autor*innen hoffen, etwas Universelles<br />
zu erreichen und die Menschen zu erreichen,<br />
egal, wo sie leben. Es ist also schön,<br />
zu wissen, dass das der Fall ist.<br />
Kommen wir zu Ihrem neuesten Roman<br />
«Tage mit mir». Eine Frau beschliesst,<br />
ihr Leben, ihren Job und ihren Mann<br />
zurückzulassen, um sich einem Kloster<br />
für Frauen anzuschliessen – obwohl<br />
sie selbst nicht religiös ist, nicht betet<br />
und nicht einmal sicher ist, ob Gott<br />
existiert. Woher kam die Idee?<br />
Das ist eine sehr gute Frage, und ich finde<br />
sie schwierig zu beantworten. Der Ort und<br />
die Landschaft, in denen der Roman spielt,<br />
sind der Ort, an dem ich aufgewachsen<br />
bin. Der Gedanke des Nach-Hause-Kommens<br />
wurde also wichtig für mich. Die<br />
Landschaft dort ist sehr streng, rau, kahl<br />
– manchmal wird sie als Mondlandschaft<br />
bezeichnet –, und das passte sehr gut zum<br />
Ton des Buchs und zu den Themen, mit<br />
denen ich mich schliesslich befasste. Mich<br />
hat auch die Frage interessiert, warum<br />
Frauen in der heutigen Zeit Nonnen werden.<br />
Das ist sehr verwirrend für mich. Aber<br />
ich sehe gleichzeitig den Reiz, sich einer<br />
Gemeinschaft anzuschliessen, die vom Rest<br />
der Welt getrennt ist. Insbesondere für<br />
Frauen, auch wenn viele von uns denken,<br />
dass zum Beispiel katholische Nonnen ein<br />
sehr eingeschränktes Leben führen – sie<br />
dürfen nicht die Kleider tragen, die sie möchten, sie dürfen nicht<br />
heiraten und so weiter – und doch glaube ich, dass dieses Leben für<br />
manche Frauen eine enorme Freiheit bedeuten kann. Frei vom alltäglichen<br />
Sexismus des normalen Lebens und frei davon, von einer<br />
männlichen Gesellschaft kontrolliert zu werden. Ich kann die Anziehungskraft<br />
verstehen. Zudem hat mich immer sehr beeindruckt,<br />
dass es auf der ganzen Welt politisch radikale christliche Nonnen<br />
gibt, die teilweise sehr gefährliche und mutige Arbeit leisten,<br />
sich beispielsweise gegen diktatorische Regierungen stellen und<br />
gegen die Untätigkeit beim Klimawandel kämpfen – also eine sehr<br />
politische, aktive Arbeit. Als ich die Idee hatte, meine Geschichte in<br />
einem Frauenkloster anzusiedeln, wollte ich unbedingt dieses Aufeinandertreffen<br />
verschiedener Arten von Ordensfrauen haben.<br />
Sie erwähnen das Schreiben über Gemeinschaften von<br />
Frauen. Auch ihr Roman «Ein Wochenende» dreht sich<br />
um eine Gruppe von Frauen. Ihre Charaktere gehören häufig<br />
einer Bevölkerungsgruppe an, die in vielen Medien weitgehend<br />
ausgeklammert wird – Frauen, die älter als 60 Jahre<br />
alt sind. Sind Ihre Bücher ein wichtiger Versuch, sie wieder<br />
sichtbarer zu machen?<br />
Das war bei «Ein Wochenende» definitiv der Fall. Ich wollte nicht<br />
über eine ältere Frauenfigur schreiben, wie sie häufig im Fernsehen<br />
und in Büchern auftaucht: definiert durch familiäre Beziehungen,<br />
als die Grossmutter oder Mutter. Ich wollte von drei älteren Frauen<br />
erzählen, die so sind wie die Frauen, die ich selbst kenne – die sehr<br />
unabhängig sind, die noch arbeiten oder gerne arbeiten würden,<br />
die sehr energisch sind und ihr Leben in der Gegenwart leben, ohne<br />
sich gross für die Vergangenheit zu interessieren. Wenn wir in der<br />
Popkultur ältere Menschen zeigen, sind diese oft von der Vergangenheit<br />
besessen und sehnen sich nach ihrer verlorenen Jugend. Die<br />
70- und 80-jährigen Menschen, die ich kenne, sind überhaupt nicht<br />
so. Bei «Tage mit mir» geht es mir nicht so sehr um den Altersaspekt,<br />
aber ich habe mich zum dritten Mal in Folge dabei ertappt, dass ich<br />
über eine Gemeinschaft von Frauen schreibe. Ich weiss nicht, was<br />
das über mich aussagt. Ein Freund von mir meinte: «Das liegt daran,<br />
Charlotte Wood wurde 1962<br />
geboren und stammt aus New<br />
South Wales, Australien. Heute<br />
lebt sie in Sydney. Sie ist Journalistin<br />
und Autorin von mehreren<br />
Romanen und Sachbüchern und<br />
wurde unter anderem mit dem<br />
Stella Prize ausgezeichnet.<br />
2020 erschien ihr internationaler<br />
Erfolgsroman «Ein Wochenende»<br />
erstmals auf Deutsch.<br />
dass du in einer grossen Familie aufgewachsen bist», denn in all<br />
meinen Büchern geht es darum, das Zusammenleben mit anderen<br />
Menschen zu verhandeln, und genau das tut auch die Erzählerin in<br />
«Tage mit mir». Es ist schwer, mit anderen Menschen zusammenzuleben.<br />
Und genau dieser Aspekt interessiert mich: Wie kommen<br />
wir miteinander aus? Meine Bücher sind Mikrokosmen dieser grösseren<br />
Frage: Wie kommen wir in der Gesellschaft miteinander aus?<br />
«Ich wollte nicht über eine ältere<br />
Frauenfigur schreiben, wie sie<br />
häufig im Fernsehen und in<br />
Büchern auftaucht: definiert<br />
durch familiäre Beziehungen, als<br />
die Grossmutter oder Mutter.»<br />
Die Natur ist in Ihren Büchern sehr präsent, und auch Tiere<br />
spielen in den Geschichten eine wichtige Rolle. Wie sieht<br />
Ihre eigene Beziehung zur Natur aus?<br />
Ich bin auf dem Land gross geworden, meine Mutter hatte einen<br />
Garten, wir haben häufig im australischen Busch gezeltet. Ich bin<br />
sehr eng mit der Natur aufgewachsen und hatte eine naturverbundene<br />
Familie. Und obwohl ich jetzt in der Stadt lebe, verbringe<br />
ich viel Zeit in einer kleinen Küstenstadt. Die Natur ist für mich<br />
sehr wichtig. Und die Tiere – jemand hat mich einmal darauf hingewiesen,<br />
dass in meinen Büchern immer Tiere vorkommen, ohne<br />
dass ich das bewusst registriert hatte. Tiere wissen Dinge, die wir<br />
nicht wissen, Tiere existieren in einem anderen Reich. Hin und<br />
wieder gibt es einen Hauch von Verständnis zwischen Mensch und<br />
Tier, aber meistens schauen wir gar nicht hin. In meinen Romanen<br />
tragen die Tiere immer ein Geheimnis oder eine Bedeutung mit<br />
sich, die die menschlichen Figuren noch nicht verstehen oder nie<br />
verstehen werden.<br />
Charlotte Wood © Carly Earl<br />
Ein<br />
Wochenende<br />
Charlotte Wood,<br />
Kein & Aber, CHF 19.90<br />
Wie lange der Aufenthalt<br />
im Kloster dauern würde,<br />
war ihr nicht klar, aber er<br />
dauert länger, als es die<br />
Städterin mittleren Alters<br />
aus Sydney erwartet hätte.<br />
Müde von Arbeit und<br />
Stadtleben hat sie sich eher<br />
zufällig für diese Form<br />
von Rückzug entschieden<br />
und ist vorerst einfach<br />
mal geblieben. Das ermöglicht<br />
ihr, auf überraschende<br />
Weise zu sich selbst<br />
zu finden und sich mit den<br />
verschiedensten Fragen<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Wie wird und wie bleibt<br />
man die Hauptfigur des<br />
eigenen Lebens, und zwar<br />
als Frau? Was braucht es,<br />
um diese Rolle nicht nur<br />
auszufüllen, sondern<br />
darin auch ein erfülltes<br />
Leben zu führen? Was<br />
sollten wir «besitzen,<br />
worauf Anspruch erheben,<br />
was wegwerfen,<br />
was weitergeben»?<br />
Unterschiedlicher hätten<br />
die Leben der vier Freundinnen<br />
kaum verlaufen<br />
können, und doch bleiben<br />
sie sich über die Jahrzehnte<br />
hinweg treu: Jude,<br />
Adele, Wendy und Sylvie.<br />
Als Letztere stirbt, wird<br />
den drei anderen klar, dass<br />
sie ohne ihre Freundin neu<br />
definieren müssen, was sie<br />
zusammenhält.<br />
Tage mit mir<br />
Charlotte Wood,<br />
Kein & Aber,<br />
CHF 29.90<br />
Charlotte Woods Favoriten<br />
Die Unvollkommenheit<br />
der Liebe<br />
Elizabeth Strout,<br />
btb, CHF 17.90<br />
Als die Schriftstellerin<br />
Lucy Barton längere Zeit im<br />
Krankenhaus verbringen<br />
muss, erhält sie Besuch von<br />
ihrer Mutter, die sie jahrelang<br />
nicht mehr gesehen hat. Zunächst<br />
ist sie überglücklich.<br />
Doch während sie der Stimme<br />
ihrer Mutter lauscht, die ihr<br />
Geschichten von den Leuten<br />
aus der Heimat erzählt,<br />
während Mutter und Tochter<br />
ein neues Band zu formen<br />
scheinen, kommen Erinnerungen<br />
wieder hoch, die sie<br />
längst hinter sich gelassen<br />
zu haben glaubte …<br />
Ein eigenes<br />
Haus<br />
Deborah Levy,<br />
Hoffmann und<br />
Campe, CHF 21.90<br />
12 <strong>Lesen</strong> <strong>Magazin</strong> Interview<br />
<strong>Lesen</strong> <strong>Magazin</strong><br />
Interview<br />
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