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Wohin mit den Irren?

Derzeit wird die Psychiatrie in Sarnen saniert und umgebaut. Das Haus aus dem Jahr 1856 hat eine wechselvolle Geschichte.

Derzeit wird die Psychiatrie in Sarnen saniert und umgebaut. Das Haus aus dem Jahr 1856 hat eine wechselvolle Geschichte.

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IM ARCHIV<br />

<strong>Wohin</strong> <strong>mit</strong> <strong>den</strong> <strong>Irren</strong>?<br />

Derzeit wird die Psychiatrie in Sarnen saniert und umgebaut. Das<br />

Haus aus dem Jahr 1856 hat eine wechselvolle Geschichte. Das gilt<br />

auch für <strong>den</strong> Umgang <strong>mit</strong> psychisch kranken Menschen in Obwal<strong>den</strong>.<br />

Der Spitalbau (heutige<br />

Psychiatrie) aus dem<br />

Jahr 1856.<br />

(Staatsarchiv OW)<br />

Würde man heutzutage eine Psychiatrie<br />

als <strong>Irren</strong>anstalt bezeichnen<br />

und die Patienten als Idioten, wäre<br />

das ganz schön despektierlich. Tatsächlich<br />

aber waren solche Begriffe früher gang und<br />

gäbe, wie ein Blick in die Geschichte des heutigen<br />

Psychiatriegebäudes zeigt, das derzeit<br />

umfassend saniert wird. Das Haus wurde im<br />

Jahr 1856 als Spital gebaut. Darin integriert<br />

waren eine Strafanstalt und ein Armenhaus.<br />

Auch die «<strong>Irren</strong>» sollten hier einen Platz fin<strong>den</strong><br />

– vorgesehen dafür waren Zellen im<br />

Keller. Später wurde der Bau als Alters- und<br />

Pflegeheim («Bürgerheim») genutzt.<br />

Die Versorgung und Pflege von psychisch<br />

kranken Menschen war – nicht nur<br />

in Obwal<strong>den</strong> – über lange Zeit hinweg ein<br />

stiefmütterlich behandeltes Thema. Der Fokus<br />

lag auf der Unterbringung an einem Ort,<br />

wo sie nieman<strong>den</strong> störten. Die Genesung<br />

war – auch mangels wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse über die menschliche Psyche<br />

– zweitrangig. Entsprechend wurde <strong>mit</strong> verschie<strong>den</strong>en<br />

Metho<strong>den</strong> experimentiert, um<br />

Geisteskranke ruhigzustellen. Bekannt war<br />

Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise<br />

die sogenannte Drehmaschine. Hierbei<br />

wur<strong>den</strong> «Idioten» und «Schwachsinnige»,<br />

wie sie damals genannt wur<strong>den</strong>, auf einem<br />

Stuhl fixiert, der an einer Spindel hing. Mit<br />

einem Seilzug wurde der Stuhl in eine rasante<br />

Drehung versetzt. Dies in der Hoffnung,<br />

dass die Fliehkräfte positive Auswirkungen<br />

haben auf die Hirndurchblutung. Aus heutiger<br />

Sicht erstaunt es kaum, dass eine solche<br />

«Therapie» in erster Linie Schwindel,<br />

Übelkeit und sogar ernsthafte Verletzungen<br />

zur Folge hatte.<br />

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kamen<br />

in der Schweiz Bestrebungen auf, psychisch<br />

kranke Menschen nicht einfach wegzusperren<br />

oder als Experimentierobjekte anzusehen,<br />

sondern vermehrt ihr Wohlergehen<br />

und ihre Genesung in <strong>den</strong> Fokus zu<br />

rücken. Im Obwaldner Staatsarchiv findet<br />

sich ein Schreiben von 1851, in welchem die<br />

«Schweizerische naturforschende Gesellschaft»<br />

verschie<strong>den</strong>e Kantone dazu aufruft,<br />

dem Thema «<strong>Irren</strong>wesen» mehr Beachtung<br />

zu schenken, zumal nach Schätzungen «in<br />

unserem Vaterlande auf 500 Seelen durchschnittlich<br />

ein Geisteskranker kommt».<br />

Zwei Empfehlungen gab die Gesellschaft<br />

für die Kantone aus. Erstens: «Es möchten<br />

da, wo bereits eine geordnete <strong>Irren</strong>heil- und<br />

Pflegeanstalt in einem Kantone besteht, die<br />

Nachbarkantone berechtigt wer<strong>den</strong>, ihre<br />

Geisteskranken unter möglichst günstigen<br />

Bestimmungen in dieser Anstalt unterzubringen.»<br />

Und zweitens: «Dass da, wo in<br />

mehreren benachbarten Kantonen noch<br />

keine <strong>Irren</strong>anstalten existieren, darauf hingewirkt<br />

wer<strong>den</strong> möchte, dass diese Kantone<br />

sich zur Errichtung von gemeinsamen<br />

<strong>Irren</strong>heil- und Pflegeanstalten vereinigen.»<br />

Rot markiert das damalige Spitalgebäude <strong>mit</strong> Baujahr 1856, das heute als Psychiatrie dient.<br />

(Federzeichnung von L. Wagner aus dem Jahr 1884, publiziert im Buch «Inventar der neueren Schweizer Architektur», Band 8)<br />

Eine Drehmaschine für Geisteskranke aus dem<br />

19. Jahrhundert. (Joseph Guislain: Traité sur l'aliénation<br />

mentale et sur les hospices des aliénés/Wikimedia)<br />

Zusammenarbeit <strong>mit</strong> anderen Kantonen<br />

In Obwal<strong>den</strong> zeigte sich bereits wenige Jahre<br />

nach dem Spitalbau 1856, dass die Platzverhältnisse<br />

nie und nimmer ausreichen, um<br />

auch psychisch Kranke und Sträflinge unterzubringen.<br />

1866 entschied der Kanton, jährlich<br />

1000 Franken auf die Seite zu legen, um<br />

später allenfalls eine <strong>Irren</strong>anstalt zu errichten.<br />

Die Regierung betonte allerdings, dass<br />

man es vorziehen würde, wenn ein Nachbarkanton<br />

dies an die Hand nehmen würde.<br />

Fünf Jahre später wurde der Bau einer grösseren<br />

<strong>Irren</strong>anstalt im ehemaligen Kloster<br />

St. Urban im Kanton Luzern genehmigt, wo<br />

sich bis heute eine psychiatrische Einrich-


Begleitheft zur ersten «Schweizerischen Konferenz<br />

für das Idiotenwesen» von 1889. (Staatsarchiv OW)<br />

tung befindet. Der Kanton Obwal<strong>den</strong> stand<br />

vor einem Dilemma. Nach dem Motto «aus<br />

<strong>den</strong> Augen, aus dem Sinn» konnten zwar<br />

Geisteskranke aus Obwal<strong>den</strong> in St. Urban<br />

untergebracht wer<strong>den</strong>, allerdings war dies<br />

<strong>mit</strong> hohen Kosten verbun<strong>den</strong>. Weniger Kosten<br />

verursachte die Unterbringung im eigenen<br />

Kanton, hier stand jedoch noch immer<br />

keine geeignete Unterkunft zur Verfügung.<br />

Hinzu kam, dass freie Plätze in ausserkantonalen<br />

Kliniken rar waren.<br />

Wo soll man sie unterbringen?<br />

Der Umgang und die Versorgung von psychisch<br />

Kranken waren deshalb an der<br />

Landsgemeinde von 1882 ein grosses Thema.<br />

Ziel war es, einen Flügel des Spitals,<br />

der damals für Häftlinge genutzt wurde, für<br />

die «armen <strong>Irren</strong>» herzurichten. Der «Volksfreund»<br />

schrieb im Vorfeld: «Wer ist ärmer<br />

als arme <strong>Irren</strong> und wo soll man dieselben in<br />

Gottes Namen unterbringen? Soll man sie<br />

angekettet draussen in der übervölkerten<br />

Hütte des Armen lassen? Oder soll man die<br />

Verwandten und die Armenverwaltung zwingen,<br />

im Jahre bei 1000 Fr. an eine ausserkantonale<br />

<strong>Irren</strong>anstalt zu bezahlen? Im Kantonsspital<br />

fan<strong>den</strong> sie aber bisher durchaus kein<br />

menschenwürdiges Unterkommen. Halb<br />

unterirdische, sehr enge Zellen tragen sicher<br />

nichts zur Erheiterung des Gemüts bei.»<br />

Ebenfalls abgestimmt wurde an der<br />

Landsgemeinde 1882 über <strong>den</strong> Bau einer<br />

«Zucht- und Korrektionsanstalt», die zwei<br />

Jahre später eröffnet wurde. Auch hier konnten<br />

Geisteskranke untergebracht wer<strong>den</strong>.<br />

Der «Obwaldner Volksfreund» hatte dazu<br />

Folgendes geschrieben: «Wir möchten einer<br />

Menschenklasse noch ge<strong>den</strong>ken, die wir zu<br />

<strong>den</strong> Allerärmsten zählen, das sind die armen<br />

<strong>Irren</strong>. Der Verlust der Geisteskraft und die da<strong>mit</strong><br />

verbun<strong>den</strong>e totale Abhängigkeit von andern<br />

Menschen, dieser schuldlose Mangel eines<br />

nützlichen, menschenwürdigen Daseins<br />

erregt schon an sich in höchstem Grade das<br />

Mitleid eines je<strong>den</strong> Menschenfreundes. (...)<br />

Wenn wir dem Projekte unseres Baudepartements<br />

auf Erweiterung unseres Kantonsspitals<br />

<strong>mit</strong>tels Neubau eines Zuchthauses<br />

beipflichten, so geschieht dies nicht am Wenigsten<br />

<strong>mit</strong> Rücksicht darauf, dass <strong>den</strong> <strong>Irren</strong><br />

unter systematisch ärztlicher Aufsicht und<br />

Pflege ein heiterer und angemessener Aufenthalt<br />

ausgewiesen wer<strong>den</strong> kann.»<br />

<strong>Irren</strong>fonds von Landammann Wirz<br />

Ob ein psychisch kranker Mensch schliesslich<br />

im Spitalgebäude oder im Zuchthaus<br />

untergebracht wurde, hing nicht allein von<br />

seiner mentalen Verfassung ab, sondern oft<br />

einfach davon, wo noch ein Platz frei war.<br />

Um die Kosten für die Angehörigen und die<br />

Armenverwaltung (damals eine Art Sozialhilfe)<br />

zu lindern, richtete Landammann Franz<br />

Wirz einen <strong>Irren</strong>fond ein. Laut «Volksfreund»<br />

wur<strong>den</strong> beispielsweise im Jahr 1888 «fünf<br />

Irre <strong>mit</strong> durchschnittlich 50 Fr. unterstützt».<br />

Die Investitionen, um psychisch Kranke<br />

in einer gesonderten Abteilung im Spital<br />

unterzubringen, hatten sich offenbar gelohnt.<br />

Das Departement des Armenwesens<br />

berichtete 1888 im Obwaldner Amtsblatt:<br />

«Für unheilbare <strong>Irren</strong> kann nun im Kantonsspital<br />

viel besser als früher Sorge getragen<br />

wer<strong>den</strong>. Und es ist <strong>mit</strong>unter ein zwingendes<br />

Gebot der Menschlichkeit, wenn diese be<strong>mit</strong>lei<strong>den</strong>swerten<br />

Geschöpfe nicht zu Hause bei<br />

vielleicht herzlosen Verwandten etwa in einer<br />

Dachstube in Fesseln schmachten müssen.»<br />

Als eigentliche Psychiatrie – damals <strong>Irren</strong>heilanstalt<br />

genannt – galt der Trakt im Kantonsspital<br />

allerdings noch nicht. Bis um die<br />

Jahrhundertwende hatten lediglich fünf<br />

Kantone noch keine eigene <strong>Irren</strong>heilanstalt,<br />

nämlich Uri, Schwyz, Ob- und Nidwal<strong>den</strong>,<br />

Zug und Wallis. Pläne, eine eigene kantonale<br />

Anstalt für psychisch Kranke zu errichten,<br />

scheiterten in Obwal<strong>den</strong> wiederholt.<br />

Bedingungen für die<br />

«Unterstützung armer<br />

<strong>Irren</strong>»: Meldung des<br />

Departements des<br />

Armenwesens im<br />

Amtsblatt von 1890.<br />

Im Mai 1914 beschloss der Kantonsrat laut<br />

Protokoll, «aus dem Nordflügel der kantonalen<br />

Strafanstalt in Sarnen eine gesönderte<br />

Abteilung zur Versorgung von unheilbar<br />

geisteskranken Angehörigen des Kantons<br />

(...) herrichten zu lassen». Ein Jahr später<br />

– inzwischen war ein neues Spital gebaut<br />

wor<strong>den</strong> – wurde die heutige Psychiatrie erweitert,<br />

um «unheilbaren <strong>Irren</strong>» einen Platz<br />

zu bieten. Dank Abmachungen <strong>mit</strong> anderen<br />

Kantonen konnten psychisch Kranke in Kliniken<br />

ausserhalb Obwal<strong>den</strong>s gebracht wer<strong>den</strong>.<br />

Die heutige Psychiatrie diente fortan<br />

als Alters- und Pflegeheim (Bürgerheim genannt).<br />

Ein ganzes Jahrhundert lang wurde<br />

so<strong>mit</strong> in Obwal<strong>den</strong> immer wieder die Frage<br />

diskutiert, ob der Kanton eine eigene Psychiatrie<br />

errichten soll. Erst Anfang der 1990er-<br />

Jahre kamen Pläne auf, <strong>den</strong> Spitalbau von<br />

1856 zu einer ambulanten und stationären<br />

Psychiatrie zu machen. Nach einem Umbau<br />

wurde diese 1996 eröffnet.

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