POLITIK Bibi, der Kriegsherr Rund drei Monate nach dem Hamas-Angriff auf <strong>Israel</strong> droht ein Flächenbrand im Nahen Osten. Aber Premierminister Benjamin Netanjahu kämpft vor allem um sein politisches Überleben TEXT VON PIERRE HEUMANN Foto: Avi Ohayan/GPO/Polaris/ddp images 48 <strong>FOCUS</strong> 4/<strong>2024</strong>
ISRAEL Bis zum Sieg In Schutzweste mit Helm zeigt sich Regierungschef Netanjahu (r.) beim Besuch seiner Soldaten in Gaza Er ist ein Mann der Superlative. Benjamin Netanjahu darf sich jetzt schon rühmen, der am längsten regierende Premier in der Geschichte <strong>Israel</strong>s zu sein. Er ist vielleicht der geschickteste Polit-Zauberer in einem Land, das an Wunder glaubt. Und auf jeden Fall das gerissenste PR-Talent in einer Gesellschaft, in der Bescheidenheit nicht als Zierde gilt. Selbst seine politischen Gegner geben zu: Benjamin „Bibi“ Netanjahu sei brillant – auf seine Weise freilich. Er selbst lässt niemanden daran zweifeln, dass er sich tatsächlich so sieht. Weil das US-Magazin „Forbes“ ihn wiederholt zu den mächtigsten Menschen der Welt zählte, brüstete er sich, einer von nur vier politischen Führern weltweit zu sein, die seit mehr als einem Jahrzehnt konstant in jeder Auflistung erscheinen. Doch nun kommen bittere Superlative hinzu: Noch nie seit der Staatsgründung vor 75 Jahren gab es einen tödlicheren Angriff auf <strong>Israel</strong> als an jenem 7. Oktober, als die palästinensische Terrororganisation Hamas rund 1200 Menschen ermordet und mindestens 240 in den Gazastreifen entführt hat. Noch nie hat das Land einen so langen Krieg geführt. Und geht es nach Bibi, wird er noch lange nicht zu Ende sein. Er werde bis zum Sieg über die Hamas weitermachen, sagte er erneut am vorigen Wochenende, bis sie Gaza nicht mehr kontrolliere und komplett entwaffnet sei. „Niemand wird uns dabei aufhalten“, so der Premier. Nicht der Internationale Gerichtshof in Den Haag, vor dem sich <strong>Israel</strong> wegen des Vorwurfs des Genozids an den Palästinensern verantworten soll. Nicht die von Iran angeführte und alimentierte „Achse des Bösen“, obwohl die iranischen Revolutionsgarden und die aus dem Libanon agierende Hisbollah in den vergangenen Tagen mit Raketenangriffen die Region weiter destabilisiert haben. Und selbst die USA nicht, <strong>Israel</strong>s wichtigster Verbündeter, die auf ein rasches Ende des Krieges drängen. „Wer sich zurückzieht, um dem Terro rismus zu entkommen, wird vom Terrorismus verfolgt werden“, lautet Netanjahus Grundsatz. Das ungelöste Schicksal der Geiseln Doch trotz markiger Worte: Nach mehr als hundert Tagen erbitterter Kämpfe ist der Gazastreifen noch nicht vollends unter israelischer Kontrolle. Noch immer hält die Hamas 136 Geiseln fest, einige kamen im Feuer der israelischen Armee um. So wächst der Druck, der Befreiung der Entführten endlich politische Priorität einzuräumen. Oppositionsführer, große Teile der Gesellschaft, selbst ein Mitglied des Kriegskabinetts unterstützen die Forderung, die Militäroperationen zu stoppen, um die Freilassung der Gekidnappten zu ermöglichen. Bereits im Dezember hielt laut Umfragen eine Mehrheit der <strong>Israel</strong>is die Geiselbefreiung für wichtiger als den Sieg über die Hamas. Die Familien der Entführten werfen Netanjahu nicht nur Untätigkeit vor, sondern auch mangelnde Empathie. Bei seinen – seltenen – Treffen mit ihnen vergriff er sich mitunter im Ton. „Die Hamas stellt Forderungen, die selbst Sie nicht akzeptieren würden“, erklärte er den Angehörigen einmal. So haben sich die Familien der Geiseln inzwischen zu einer potenten Lobbygruppe mit permanenter Medienpräsenz formiert. Und dabei geht es längst nicht mehr nur um die gefangenen Liebsten. „Derjenige, der uns für seine politischen Ziele und seine Liebe zur Macht opfert, ist nicht geeignet, uns zum Sieg zu führen.“ In ganz <strong>Israel</strong> fordern Demonstranten immer wieder Netanjahus Rücktritt. Das noch relativ bescheidene Ausmaß der Proteste sei erst der Anfang, glaubt die Politologin Ilana Shpaizman von der Bar- Ilan-Universität bei Tel Aviv. Und Netanjahu-Biograf Anshel Pfeffer ist sich sicher: „Von dem 7.-Oktober-Schock wird sich Bibi nicht mehr erholen.“ Dieser Tag sei für die Nation „eine Riesenkatastrophe“ gewesen, sagt Amos Yadlin, Ex-Chef des israelischen Militärgeheimdienstes. An jenem schwarzen Samstag implodierte Netanjahus wichtigstes Wahlversprechen, als „Mr. Security“ jede Gefahr abwenden zu können. Seine Politik sei sehr einfach, erklärte er einmal: „Der jüdische Staat wurde gegründet, um jüdisches Leben zu verteidigen.“ Das klingt wie Hohn, seitdem die Hamas- Terroristen bei einem Überraschungsangriff in jüdischen Städten und Kibbuzim mordeten und kidnappten. Die Geiseln in Gaza sind ihr Pfand für künftige Verhandlungen – und eine enorme Demütigung für <strong>Israel</strong>, aber vor allem eine Blamage für den Regierungschef. Noch zwei Wochen vor der Hamas-Attacke hatte sich Netanjahu als Friedensprophet profiliert. <strong>Israel</strong> stehe an der Schwelle zu einem historischen Abkommen mit Saudi-Arabien, das den gesamten Nahen Osten verändern werde, sagte er vor der UN-Generalversammlung. Wenn der arabisch-israelische Konflikt ende, verbesserten sich auch die Aussichten auf einen Frieden mit den Palästinensern, sagte er und zeichnete ein Bild von Harmonie <strong>FOCUS</strong> 4/<strong>2024</strong> 49