ERF Antenne 0304|2024 Mal ehrlich!
Das Magazin von ERF – Der Sinnsender
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Wie der Kaiser im Märchen von Hans Christian Andersen,<br />
„Des Kaisers neue Kleider“: Er wird getäuscht<br />
von zwei Webern, die behaupten, besondere Stoffe zu<br />
weben. Wer sie nicht sehen könne, sei dumm. Als sie<br />
dem Kaiser die vermeintlich neuen Kleider präsentieren,<br />
kann er sie nicht sehen. Um nicht dumm dazustehen,<br />
schweigt er und zeigt sich nackt der Öffentlichkeit.<br />
Bis ein Kind <strong>ehrlich</strong> sagt, was ist: „Aber er hat ja<br />
nichts an.“<br />
Auch in der Bibel entdecke ich diese Mechanismen.<br />
Adam zum Beispiel, der erste Mensch, wollte<br />
nicht anerkennen, was ist. Er hatte gegen den Willen<br />
Gottes gehandelt, war schuldig geworden und erkannte<br />
sogar, dass er nackt war. Er wählte aber den Rückzug<br />
und versteckte sich, statt der Realität und seinem<br />
Gegenüber, Gott, <strong>ehrlich</strong> ins Auge zu sehen. Seitdem<br />
gehören Täuschung und Manipulation zu unserem Leben<br />
und haben Auswirkungen auf unser Miteinander.<br />
Und bis heute versuchen wir selbst, uns in die eigene<br />
Tasche zu lügen und die Realität unseres Lebens so<br />
zu machen, wie es uns gefällt – und wollen durch Ausreden<br />
und Schuldzuweisungen das verstecken, was<br />
wir anderen nicht gerne zeigen. Auch eine Form der<br />
Un<strong>ehrlich</strong>keit.<br />
Mehr davon, bitte!<br />
Dabei wollen viele Menschen eigentlich mehr Authentizität<br />
und Ehrlichkeit. Trotzdem nehme ich unsere<br />
Gesellschaft als ambivalent wahr. Allein ein Blick auf<br />
die politische Bühne bestätigt dieses widersprüchliche<br />
Verhalten: Koalition und Opposition fordern mehr<br />
Ehrlichkeit voneinander. Politische Skandale machen<br />
indes immer wieder deutlich, dass bei allen Parteien<br />
in puncto Ehrlichkeit noch jede Menge Luft nach oben<br />
ist.<br />
Diese Diskrepanz nehme ich auch im persönlichen,<br />
zwischenmenschlichen Bereich wahr. Einerseits fordern<br />
wir von anderen, authentisch zu sein. Andererseits<br />
fällt es uns selbst oft so schwer, <strong>ehrlich</strong> zu sein<br />
oder <strong>ehrlich</strong>e Kritik an unserer Person auszuhalten<br />
und im besten Fall auch anzunehmen, wenn sie berechtigt<br />
ist.<br />
Konfliktfähigkeit braucht Ehrlichkeit<br />
Politik, Soziale Medien, Bekanntschaften: Hat es<br />
die Ehrlichkeit schwerer in losen Kontakten? Nicht<br />
unbedingt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es<br />
unter Umständen sogar schwerer fällt, in einer engen<br />
Beziehung einander mit unangenehmen Wahrheiten<br />
und Gefühlen zu konfrontieren. Ehrlich bekennen,<br />
was mich unter Druck setzt oder Angst macht, das<br />
kommt auch in Partnerschaften und langjährigen<br />
Freundschaften nur schwer über die Lippen. Es kann<br />
auch schwerfallen, im Alter bei zunehmender Hilfsbedürftigkeit<br />
des Partners <strong>ehrlich</strong> einzugestehen: „Ich<br />
bin überfordert mit deiner Pflege.“ Die Ehrlichkeit hat<br />
ihren Preis.<br />
Ich gewinne aber auch viel. Wenn ich <strong>ehrlich</strong> sage,<br />
was ist, ist das zum Beispiel ein Signal, dass diese Beziehung<br />
eine Veränderung braucht. Das ist oft der erste<br />
Schritt hin zu einer Lösung. Die Ehrlichkeit sensibilisiert<br />
uns für unsere Gefühle, hilft uns, die dahinterstehenden<br />
Bedürfnisse zu erkennen und Verantwortung<br />
dafür zu übernehmen. Solch <strong>ehrlich</strong>e Dialoge und Konflikte<br />
fördern unsere emotionale Reife, unsere Selbsterkenntnis<br />
sowie unser Miteinander in Partnerschaft,<br />
Freundschaften und Arbeitsteams.<br />
Der Weg zu mehr Ehrlichkeit<br />
Wie schaffen wir es, dieser Offenheit und Ehrlichkeit<br />
mehr Raum zu geben? Dazu hilft vor allem ein<br />
vertrauensvoller und sicherer Rahmen. Der kann sich<br />
in verlässlichen Beziehungen entwickeln. Da, wo ich<br />
keine Angst haben muss vor Verachtung oder Ablehnung,<br />
vor Beziehungsverlust oder vor Rückzug, sind<br />
tiefe Begegnungen möglich.<br />
Ich kann auch beispielsweise einer Freundin von<br />
einem Konflikt mit einem Dritten erzählen und sie<br />
bitten, mir zu spiegeln, was sie bei mir wahrnimmt.<br />
Diese Ehrlichkeit hilft mir, meinen möglichen Anteil<br />
am Problem zu erkennen und mich entsprechend anders<br />
zu positionieren. Und das eröffnet einen Raum, in<br />
dem sich meine Persönlichkeit, die Beziehung zu mir<br />
selbst, zu meinen Mitmenschen und zu Gott entfalten<br />
kann.<br />
Spannend <strong>ehrlich</strong><br />
Ganz einfach macht es mir die Ehrlichkeit trotzdem<br />
nicht. Oft setzt sie mich in ein Spannungsfeld von<br />
guten Werten und Motiven. Beispielsweise Ehrlichkeit<br />
und Liebe. Ich merke, dass ich nicht immer zu 100<br />
»Ehrlichkeit ist oft der<br />
erste Schritt zur Lösung.«<br />
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