Wissen Arbeitsplatz WELTALL Nach jahrelangem Training ist Astronaut Matthias Maurer am Ziel: dem Start AUSZUG AUS DEM BUCH »COSMIC KISS« VON MATTHIAS MAURER 34 www.erfolg-magazin.de . <strong>Ausgabe</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>4 . ERFOLG magazin
Wissen Exakt sieben Stunden und 40 Minuten vor dem Abflug weckte uns eine NASA-Mitarbeiterin. Von nun an wurde die Startzeit, englisch T für Time, rückwärts gezählt, und wir mussten uns an einen streng getakteten Ablaufplan halten. Eine letzte irdische Dusche, ein finaler Snack, ein abschließender Medizincheck, und schon erhielten wir die Anweisung, unsere fensterlosen Schlafräume aufzusuchen und die Flugunterwäsche inklusive Windel anzuziehen. Fensterlos, da Astronauten hier vor dem Start die Schlaf- und Wachphasen ihres Biorhythmus auf die koordinierte Weltzeit UTC umstellen müssen, nach der sie auf der ISS leben, und dabei nicht durch einfallendes Tageslicht gestört werden sollen. Die kleine Tasche mit meinem Privatkram ließ ich in diesem Zimmer zurück. Direkt nach der Landung in sechs Monaten würde ich sie zurückerhalten, wie man mir versicherte. Als ich ihren Reißverschluss zuzog, fragte ich mich, was ich wohl alles erlebt haben würde, wenn ich sie das nächste Mal öffnete. Doch ich durfte diesen Gedanken nicht zu lange zulassen, daher riss ich mich mit einem Seufzen von ihm los und machte mich auf den Weg in den Suit-Room, den Umkleideraum, in dem schon die Apollo-Astronauten ihre Fluganzüge angelegt haben. Bis heute hängen hier imposante Schwarz-Weiß-Fotos von ihnen an den Wänden und zeugen von der Raumfahrtära, in der die Menschheit erstmals einen Fuß auf einen fremden Himmelskörper setzte. Meine Crewmitglieder und ich nahmen unsere weißen, maßgeschneiderten Fluganzüge in Empfang, checkten sie gründlich durch und zwängten uns mithilfe von SpaceX-Mitarbeitern hinein. Um die Druckdichtigkeit zu überprüfen, mussten wir uns nacheinander in eine Art Stuhl legen, der die gleiche Form wie die Sitze in der Kapsel hat. Die Suit-Techs klappten unsere Visiere nach unten, schlossen unsere Anzüge an Schläuche an und pumpten diese bis auf 1,3 Bar auf. Später, in der Kapsel, wiederholten wir diesen Test, denn nur, wenn die Dichtigkeit garantiert ist, hätten wir bei einem Druckabfall eine Überlebenschance. Dreieinhalb Stunden vor dem Launch traten wir den Weg zur Startrampe an. Wir klemmten unsere kleinen Köfferchen, die kühlende Luft in die Anzüge bliesen, unter die Arme und verließen das fünfstöckige Neil Armstrong Operations and Checkout Building durch die Meine Crewmitglieder und ich nahmen unsere weißen, maßgeschneiderten Fluganzüge in Empfang, checkten sie gründlich durch und zwängten uns mithilfe von SpaceX-Mitarbeitern hinein. symbolträchtige Doppelschwingtür. Auf sie hatten wir gestern noch unser Mission Patch geklebt – wie alle anderen Crews, die je vom KSC aus ins Universum abgehoben sind. Gemäß einer einstudierten Choreografie schritten wir hinaus in den Regen: Raja und Tom vorweg, Kayla und ich direkt hinter ihnen. Das schlechte Wetter bereitete uns Sorgen. Den ganzen Tag über hatte es in Strömen geschüttet. Die jüngste Launch-Prognose der Experten lautete 70 Prozent Go, mithin immerhin satte 30 Prozent No-Go. Unser Starttermin war also alles andere als gewiss und wir dementsprechend verunsichert. Doch das ließen wir uns nicht anmerken. Selbstbewusst marschierten wir an den Pressevertretern und unseren Familien vorbei, die vor dem Gebäude auf uns warteten, winkten souverän in die Menge und riefen unseren Lieben noch ein paar Abschiedsworte zu. Danach stiegen wir in weiße Teslas mit Flügeltüren. Raja und Tom nahmen in dem vorderen Auto Platz, Kayla und ich in dem hinteren. Eskortiert von Polizeiwagen, setzte sich unsere kleine Karawane in Bewegung. Die etwa 15-minütige Fahrt über das weitläufige NASA-Gelände überbrückten wir mit Musik aus unserer persönlichen Playlist. Ich hatte mir für diesen Anlass unter dem Namen »Tesla to Dragon« acht Lieder abgespeichert. Während ich den energiegeladenen Klängen lauschte, schaute ich aus dem Fenster. Regentropfen rannen die Scheibe herab und ließen die grell angeleuchtete Rakete, die uns in der sonst finsteren Nacht erwartete, wie ein verschwommenes Gemälde erscheinen. Die Falcon 9 sah majestätisch aus, und je näher wir ihr kamen, desto deutlicher konnte ich ihre charakteristischen Konturen erkennen: eine Bilder: NASA/ESA ERFOLG magazin . <strong>Ausgabe</strong> <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>4 . www.erfolg-magazin.de 35