TV BOY (Leseprobe)

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— 4 geboren wurde, weiß ich nur zu gut, wie sehr das Fernsehen unsere Erziehung beeinflusst hat. Genau genommen war dies ja auch schon vorher der Fall, nämlich seit in jedem Haushalt ein Fernseher stand – also seit den 1960er-Jahren. Für uns war es jedoch ein bisschen anders. Bis in die 1970er-Jahre bot das Fernsehen zwar durchaus Unterhaltung, lieferte aber vor allem Informationen. Die Generation von TVBOY und mir war die erste, die die volle Kontrolle über das Medium hatte. Bis dahin war der Fernseher ein Objekt, um das man sich versammelte. Fernsehen wurde zu einer Art weltlichem Ritual, das alle zusammenbrachte. Für uns jedoch nicht mehr. Wir waren die ersten Kinder, die einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer hatten, und vor allem waren wir die Ersten, die selbst entscheiden konnten, was wir wann sehen wollten. Hat das Schaden angerichtet? Ja, natürlich, aber dafür sind unsere Eltern verantwortlich: Wir waren durch unser jugendliches Alter entschuldigt. Es stimmt, dass wir uns vom Fernsehen beeinflussen ließen, doch gleichzeitig lenkten wir es auch, indem wir die Grundlage für modernes Marketing bildeten. Denn wir schufen eine Welt, die auf die Dauerberieslung durch das Fernsehen anspielte, der wir ausgesetzt waren. TVBOY ist Zeitzeuge dieser Entwicklung und spielt bereits in seinem Namen mit diesem Konzept. Dabei fordert er uns auf, uns davon zu lösen, und zwar genau in dem Moment, in dem er es uns vor Augen führt. Doch weiter im Text: Nach einiger Zeit gab TVBOY die klassische Stencil-Technik auf, er fand sie zu unpersönlich. Er zeichnete die TVBOY-Figur freihändig und schuf so eine typische Signatur, die sich leicht mit einem Filzstift oder einer Sprühdose reproduzieren lässt. Dieses Kind im Manga-Stil ist glücklich in einem Bildschirm gefangen, es ist immer gleich und doch immer anders, und genau das symbolisiert das gesamte Wesen von TVBOY. In der folgenden Zeit brachte er große bunte Bilder, die er in seinem Atelier von Hand herstellte, mit Kleber an Wänden und Mauern an (wie ein gewöhnlicher Plakatkleber); seine umfangreichste Produktion bestand jedoch aus schwarzweißen Stickern, die TVBOY auf Klebepapier foto kopierte und einzeln ausschnitt. Er hinterließ sie auf der Rückseite von Straßenschildern oder Stadtmöbeln. Schließlich zog er der Liebe wegen nach Barcelona: eine typisch sizilianische Liebesflucht. In Spanien arbeitete er als Grafiker für Snowboardund Skateboard-Magazine. Zwei Werke brachten ihm schließlich weltweite Berühmtheit ein: Das erste veröffentlichte er 2017 am Tag des Heiligen Jordi, dem Schutzpatron der katalanischen Liebenden, die sich zu diesem Anlass ein Buch und eine Rose schenken. In einer Straße in Barcelona klebte TVBOY ein Bild, das einen leidenschaftlichen Kuss zwischen Messi und Ronaldo, den Topspielern der zwei erfolgreichsten spanischen Fußballteams zeigte. Die beiden wichtigsten Städte Spaniens wurden so auf das Beste vereint. Vor allem in Spanien und Südamerika, aber auch im Rest der Welt, wurde dieses Bild in Zeitungen veröffentlicht, im Fernsehen gezeigt und in den sozialen Netzwerken millionenfach geteilt. Der Kuss sollte laut TVBOY metaphorisch verstanden werden, denn in einer Zeit, in der alles über die sozialen Medien vermittelt wird, ist der Kuss eine Versöhnung, aber auch eine direkte Auseinandersetzung, ein Ort der Begegnung. Gleiches passierte mit einem weiteren Kuss, der zum Manifest einer italienischen Ära wurde: An dem Tag, als sich 2018 die rechtsgerichtete Regierung in Italien konstituiert, klebte TVBOY den Kuss zwischen Matteo Salvini und Luigi Di Maio an eine Wand in Rom. Das Kunstwerk hielt sich nur wenige Stunden, es wurde nach kürzester Zeit von offizieller Seite entfernt. Bis zur Ankunft eines Mitarbeiters der Stadtverwaltung, der das Bild beseitigen sollte, versuchte die Polizei, es mit einem Stapel Pappkartons zu verbergen. Diese Aktion weckte die Neugier der
— 5 Passanten, die das Bild dann über soziale Netzwerke verbreiteten. Seitdem hat TVBOY in vielen Museen, Galerien und auf den Straßen der halben Welt ausgestellt und ist zu einem der bekanntesten und berühmtesten Street Artists geworden. TVBOY ist Künstler, Werber, Performer, Politiker, Designer, Grafiker und Typograf. Er ist all dies und doch nichts davon. Jede seiner Begabungen ist ein Mosaiksteinchen, das eine neue grenzenlose Persönlichkeit schafft: Er ist ein zeitgenössischer Künstler, der sich nicht festlegen lässt, gleichzeitig aber ist er ikonisch und schafft neue Symbole. Mit diesem Buch stellen wir Ihnen eine Reihe seiner Werke vor, die zeigen, dass es keinen großen Unterschied zwischen Leinwand und Wandmalerei gibt, zwischen illegalen Aktionen und öffentlichen oder privaten Aufträgen. TVBOY hat die Kunstszene auf den Kopf gestellt, indem er Zeitungen, Unternehmen, soziale Medien und vor allem Menschen einbezieht, die in Kunst investieren wollen, anstatt sie auszubeuten. Doch Achtung: Hier geht es nicht um wirtschaftlichen Gewinn. Die Investition besteht vor allem in Empathie und Dialog. Denn eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen offenbart sich darin, einen Weg zu finden, der die verschiedenen Persönlichkeiten dieser Welt zusammenbringt. unseren sterilen, von Kategorien geprägten Weltblick aufzugeben. Dies macht er zum einen durch seine Techniken oder Werkzeuge, zum anderen durch die Inhalte, mit denen er sich auseinandersetzt. So erzählt er uns von Rassismus, Diskriminierung, Umwelt, Klima, Film, Sport, Religion, Gewalt, Sex, Tod, Migration, Liebe, Freundschaft, Macht, Helden und Kunst. Seine Stärke ist eine kontinuierliche, überbordende und unersättliche Produktion. TVBOY strebt danach, eine Bild-Enzyklopädie der Gegenwartsgesellschaft zu schaffen. Auf diesen Seiten werden wir Ihnen von seinen Erfahrungen erzählen, ergänzt durch Beiträge von Beppe Sala, mehr als Bewunderer, denn als Bürgermeister von Mailand, dem Fotografen Oliviero Toscani, einem der Vorbilder von TVBOY, und Marc Reig Creus, dem Kapitän des Seenotrettungsschiffes Open Arms, mit dem er ein wichtiges Projekt verwirklicht hat. Den Abschluss bildet ein Nachwort von TVBOYs Manager Angelo Casa. Viel Spaß beim Lesen, Betrachten und Reisen. Bei unserem ersten Treffen sagte mir TVBOY: »Wenn wir uns die Meisterwerke der Kunstgeschichte ansehen, verstehen wir den zeitlichen Kontext, in dem sie entstanden sind. Schau dir zum Beispiel die Impressionisten an: Aus ihren Gemälden können wir ableiten, was die Menschen aßen und tranken oder wie sie sich kleideten. Auch in meinen aktuellen Arbeiten möchte ich die Kunst mit den Symbolen unserer heutigen Gesellschaft kombinieren.« TVBOY verkörpert unsere Gegenwart so perfekt, weil er die Grenzen zwischen den Disziplinen aufbricht und uns nötigt,
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