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Wenn die Zeit die Wunden nicht heilt

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scher Okkupation zeigte, nannten <strong>die</strong> Klassenkameraden ihn «Davidek!»<br />

nach einem gleichnamigen, sympathischen, gut aussehenden Protagonisten<br />

im Film. Romuald jedoch empfand den Spitznamen dennoch als<br />

Beleidigung. Er wollte keinem Juden ähnlich sein. Er wollte wie <strong>die</strong> anderen<br />

in der Klasse sein – und <strong>die</strong> waren polnisch.<br />

«Wem sieht der Junge denn ähnlich?», fragten sich teils naiv, teils<br />

heuchlerisch <strong>die</strong> Mütter seiner Schulkameraden. Sein Vater hatte eine<br />

füllige Figur, ein rundes Gesicht und helles Haar. Romuald hingegen war<br />

von zarter Statur, das Gesicht länglich, <strong>die</strong> Haare schwarz. Er beobachtete<br />

den Vater beim Sägen und fragte sich, warum seine feingliedrigen<br />

Händchen so gar <strong>nicht</strong> an den groben Handrücken des Vaters erinnerte.<br />

Beim Kämmen vor dem Spiegel drehte er schliesslich den Kopf so<br />

lange, bis er eine Verwandtschaft in den Gesichtszügen entdeckt zu<br />

haben glaubte. «Mama!», schrie er, «Mama, ich bin Papa ähnlich!» Als sie<br />

schwieg, wollte er eine Bestätigung ertrotzen.<br />

Nach Beendigung der Grundschule nahm ihn der Vater mit auf eine<br />

Reise in dessen alte Heimat. Sie besuchten Święciany, und sein Vater<br />

war gerade damit beschäftigt, einige Anwohner zu den Veränderungen<br />

im Ort zu befragen, als sich plötzlich ein Mann in das Gespräch einmischte:<br />

«Wo haben Sie denn <strong>die</strong>sen Juden aufgetrieben?», höhnte er<br />

und zeigte mit den Fingern auf Romuald. Der 13-Jährige zitterte und war<br />

tief verstört. Auf geheimnisvolle Weise wollte jeder in ihm einen Juden<br />

erkennen. Doch ein Jude zu sein, das wäre schrecklich, denn <strong>die</strong> Juden<br />

hatten den Herrn Jesus umgebracht! Um <strong>nicht</strong>s in der Welt wollte er zu<br />

den Nachfahren <strong>die</strong>ser «Christusmörder» zählen, ging er doch solange<br />

er denken konnte mit den Eltern in <strong>die</strong> heilige Messe und hatte er doch<br />

seit seinen frühesten Kindertagen überzeugt als Ministrant ge<strong>die</strong>nt. Romuald<br />

klammerte sich an seinen Glauben und legte grossen Wert darauf,<br />

auf jeden Fall als polnisches Kind polnischer Eltern in einer polnischen<br />

Umgebung wahrgenommen zu werden. Er wollte <strong>nicht</strong> anders sein als<br />

<strong>die</strong> anderen.<br />

Sein katholischer Glaube sollte ihm später auf der Oberschule eine<br />

Stütze sein, denn dort fühlte er sich ohne Vorbehalt angenommen. Doch<br />

eines Tages hörte sich Romuald zu seiner eigenen Überraschung nach<br />

dem Religionsunterricht, den <strong>die</strong> sozialistische Volksrepublik Polen gerade<br />

einmal wieder zugelassen hatte, zum Priester sagen: «<strong>Wenn</strong> ich <strong>die</strong><br />

Matura schaffe, werde ich Priester.» Wer sprach damals aus ihm? Der<br />

Pole und Katholik, der den Juden in sich endgültig zu verbannen wünschte?<br />

Der Ängstliche, der sich von der Kirche <strong>die</strong> Geborgenheit erhoffte?

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