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Wenn die Zeit die Wunden nicht heilt

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PROLOG:<br />

EIN JEDER TRÄGT SEINE<br />

VERGANGENHEIT IN SICH<br />

Als Kind war Romulad Jakub Weksler-Waszkinel verletzlich, übersensibel,<br />

gefangen in einem tiefen Misstrauen gegenüber der<br />

Welt. Er zählte zu den Bettnässern und erwachte häufig schreiend<br />

aus Albträumen, in denen ein Unbekannter ihm nach dem Leben<br />

trachtete und ihn erschiessen wollte. In der Schule brachte er meist kein<br />

Wort heraus und <strong>die</strong> Mütter seiner Schulkameraden fragten sich, warum<br />

er nur immer so traurige Augen habe. Sobald ein Flugzeug über <strong>die</strong><br />

Arbeitersiedlung in Pasłęk flog, warf er sich auf den Boden. Er fürchtete<br />

sich ausserdem vor Truthähnen, Gänsen, Ratten und Mäusen. Er hing an<br />

Mamas Rockzipfel wie an einem rettenden Anker.<br />

Romulads Eltern waren gleich nach dem Zweiten Weltkrieg aus<br />

Święciany, der ehemaligen polnischen Gegend um Vilnius, in <strong>die</strong> wiedergewonnenen<br />

Gebiete des ehemals deutschen Ostpreussens nach<br />

Pasłęk (ehemals Preussisch Holland) umgesiedelt. Sie umgaben ihn mit<br />

viel Liebe und Wärme. Mochten Emilia und Piotr Waszkinel auch arm<br />

sein und sich vorwiegend von Kartoffeln, Brot und Brennnesselsuppe<br />

ernähren, so umsorgten sie den Jungen doch mit einer seltenen Hingabe.<br />

Der Vater kaufte dem musikalisch begabten Jungen ein Akkordeon,<br />

obwohl er dafür eine Kuh verkaufen musste. Er fuhr mit dem ständig<br />

kränkelnden Knaben sogar ins grosse Danzig zu einem Spezialisten.<br />

Aber der Arzt konnte kein Leiden feststellen. Romuald war anfällig, obwohl<br />

er robuste Eltern hatte.<br />

Im Sommer 1947 kam Romulad eines Tages nach Hause, als ihn zwei<br />

Betrunkene von der gegenüberliegenden Strassenseite als «Jude, kleiner<br />

Jude, jüdischer Findling» verhöhnten. Der gerade einmal Vierjährige<br />

konnte vor Aufregung das Gartentor <strong>nicht</strong> schliessen. Er wusste weder<br />

was ein Findling, noch was ein Jude ist. Die Mutter beruhigte ihn, auch<br />

wenn er keine Antwort auf seine Frage bekommen hatte: «Gute und<br />

kluge Menschen», sagte sie, «werden niemals so hinter dir her schreien.»<br />

Doch Romulad konnte den Dummen <strong>nicht</strong> immer aus dem Weg gehen,<br />

ungefragt stellten sie sich ihm immer wieder in <strong>die</strong> Quere und oft genug<br />

verletzten ihn selbst <strong>die</strong>, <strong>die</strong> es angeblich gut mit ihm meinten. Als man<br />

in der Schule den Film Verbotene Lieder über das Warszawa unter deut-<br />

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