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1) Vorläufer<br />

Kriminologische Theorien im Überblick (I)<br />

Klassische Schule der Kriminologie (Beccaria, 1764)<br />

Frühe französische Kriminalgeographie (Guerry, 1833; Quételet, 1828)<br />

Positivistische Schule der Kriminologie (Lombroso, 1876, 1911)<br />

Biologistische Ansätze (Sheldon, 1949)<br />

2) Modernere Perspektiven<br />

Biologische Theorien (erbliche oder angeborene Faktoren, Psychophysiologie)<br />

Psychologische Ansätze (Intelligenz, Persönlichkeit, Psychopathie)<br />

Kriminalität und sozioökonomische Lage<br />

Kriminologische Theorien im Überblick (II)<br />

3) Moderne und zeitgenössische Kerntheorien<br />

Soziologische Theorien (Durkheim, Anomie und Modernisierung)<br />

Disorganisationstheorie (Kriminalökologie, kulturelle Transmission)<br />

Anomie- und Straintheorien<br />

Differentielle Assoziation und soziale Lerntheorie<br />

Labelling-Ansatz<br />

Kontrolltheorien<br />

Entwicklungskriminologische Theorien<br />

Rational-Choice und Gelegenheitstheorien<br />

1(30)<br />

2(30)<br />

1


Hauptwerke:<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (1)<br />

De la division du travail social (1893)<br />

[Über soziale Arbeitsteilung]<br />

Les règles de la méthode sociologique (1895)<br />

[Die Regeln der soziologischen Methode]<br />

Le suicide: étude de sociologie (1897)<br />

[Der Selbstmord]<br />

Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912)<br />

[Die elementaren Formen des religiösen Lebens]<br />

Émile Durkheim (1858 – 1917)<br />

Eine soziale Tatsache („fait social“) ist „... jede mehr oder minder festgelegte Art des<br />

Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben.“<br />

Eine soziale Tatsache tritt „... im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auf<br />

(...), wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt.“<br />

„Die erste und grundlegende Regel besteht darin, die soziologischen Tatbestände wie<br />

Dinge zu behandeln.“<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (2)<br />

Einfluss Durkheims auf unterschiedliche kriminologische Theorien:<br />

� Ökologische Schule (Chicago-Schule, 1925 f.): Rapider gesellschaftlicher<br />

Wandel führt zu einem Zusammenbruch sozialer Kontrolle; Studien auf der<br />

Ebene von (sich wandelnden) Nachbarschaften.<br />

� Anomie/Strain-Theorie (Merton, 1938): Bestimmte stabile soziale<br />

Bedingungen sind verantwortlich für höhere Kriminalitätsraten der Gesellschaft<br />

und speziell in den unteren sozialen Schichten: Widerspruch zwischen<br />

gesellschaftlich erzeugten Werten und den tatsächlichen Mitteln zur<br />

Zielerreichung.<br />

� Kontrolltheorie (Hirschi, 1969): Nicht kriminell zu handeln erfordert interne<br />

Kontrolle der (von Natur aus kriminellen) Individuen, die wiederum von ihrer<br />

Bindung an und Involviertheit in gesellschaftliche Institutionen und den von<br />

ihnen vermittelten Werten abhängt.<br />

� Sozialer Reaktionsansatz (Clayton, 1974; Jenkins, 1992): Die Definition und<br />

Unterdrückung von Abweichung erzeugt soziale Solidarität; Kriminalität ist<br />

normal und durch Abweichung von Normalität gesellschaftlich definiert.<br />

� Institutionelle Anomietheorie (Messner & Rosenfeld, 1994): Kriminalität<br />

entsteht aus dem Ungleichgewicht gesellschaftlicher Institutionen und ist<br />

spezifisch für die Art des Ungleichgewichts.<br />

3(30)<br />

4(30)<br />

2


Zentrale Ideen:<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (3)<br />

In modernen Gesellschaften ist soziale (ökonomische) Ungleichheit natürlich und<br />

unvermeidbar. Ungleichheit erzeugt nur dann Kriminalität, wenn die sozialen Normen<br />

und Regeln des Zusammenlebens zusammenbrechen.<br />

Während in frühen, „mechanischen“ Gesellschaften soziale Gruppen isoliert<br />

voneinander und autark sind, wenig Arbeitsteilung existiert, die Individuen gleiche<br />

Rollen einnehmen und gleiche Werte teilen und Solidarität auf der Gleichheit der<br />

Gesellschaftsmitglieder basiert, sind in modernen, „organischen“ Gesellschaften die<br />

sozialen Gruppen voneinander abhängig, es existiert ein hoher Grad von Arbeitsteilung,<br />

die Individuen nehmen verschieden Rollen ein, haben unterschiedliche Werte,<br />

und Solidarität basiert auf der Kooperation ungleicher Individuen.<br />

In mechanischen Gesellschaften erzwingen Gesetze die Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder<br />

und unterdrücken jegliche Normabweichung; in organischen Gesellschaften<br />

regulieren Gesetze die Interaktion der verschiedenen Gesellschaftsteile und<br />

garantieren Ausgleich bei ungerechten Transaktionen.<br />

In mechanischen Gesellschaften ist Kriminalität „normal“ insofern, als anders eine<br />

pathologische Überkontrolle existieren würde. In organischen Gesellschaften kann<br />

Anomie (Regellosigkeit) entstehen, in der „nicht normale“ Kriminalität aus dem<br />

pathologischen Zustand der Gesellschaft resultiert.<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (4)<br />

Von archaischen (mechanischen) zu modernen (organischen) Gesellschaften:<br />

Differenzierungsform<br />

Verhältnis der Aggregate<br />

zueinander<br />

Vorherrschender<br />

Bewusstseinstyp<br />

Verhältnis der Individuen<br />

zueinander<br />

Soziale Integration / Moral<br />

Rechtsform<br />

Archaische Gesellschaft<br />

segmentär<br />

(einfach/hierarchisch)<br />

Ähnlichkeit / Gleichheit<br />

starkes Kollektivbewusstsein<br />

Solidarität durch Gleichheit/<br />

Ähnlichkeit; keine „Individuen“<br />

im modernen Sinn!<br />

mechanische Solidarität: beruht<br />

auf Gleichheit<br />

repressives (Straf-)Recht –<br />

schützt Kollektivbewusstsein<br />

Moderne Gesellschaft<br />

funktional<br />

(arbeitsteilig)<br />

Differenz; gegenseitige<br />

Abhängigkeit/ Austausch<br />

Individualbewusstsein als Folge<br />

der Arbeitsteilung<br />

‚Der Andere‘ als Ergänzung/<br />

Vollendung des Selbst<br />

organische Solidarität: beruht<br />

auf Komplementarität<br />

restitutives (Vertrags-) Recht<br />

regelt soziale Interaktion<br />

5(30)<br />

12(30)<br />

3


Durkheim, Anomie und Modernisierung (5)<br />

Normalität von Kriminalität in mechanischen Gesellschaften:<br />

In mechanischen Gesellschaften dient der Zwang zur Gleichartigkeit der Solidarität<br />

der Gesellschaftsmitglieder. Abweichung von der Gleichartigkeit wird negativ<br />

sanktioniert oder kriminalisiert.<br />

Bestrafung von Abweichung hat eine positive Funktion: Die Stärkung der kollektiven<br />

Identität der Angepassten. Das daraus entstehende Gefühl der Überlegenheit ist<br />

Quelle des sozialen Zusammenhalts.<br />

Da Bestrafung eine entscheidende Funktion für den Zusammenhalt hat, ist sie<br />

gesellschaftlich notwendig. Gäbe es weniger zu sanktionierende Abweichung, würde<br />

die Grenze, die Abweichung definiert, entsprechend verschoben. Deshalb ist eine<br />

Gesellschaft ohne Kriminalität unmöglich.<br />

Ein „normales“ Maß von Kriminalität ist der Preis dafür, dass es gesellschaftliche<br />

Veränderung und Fortschritt gibt: Eine Gesellschaft, in der jegliche Abweichung<br />

unterdrückt würde, wäre pathologisch überreguliert und würde individuelle<br />

Originalität und Innovationen unmöglich machen.<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (6)<br />

Anomie als pathologischer Zustand organischer Gesellschaften (1):<br />

Kernfrage Durkheims: Wie ist soziale Ordnung – gesellschaftliche Integration und<br />

wechselseitige Solidarität – möglich, wenn die Individuen immer autonomer und<br />

unabhängiger werden? Wie sind wachsender Individualismus und steigende<br />

Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft (Arbeitsteilung) zugleich möglich?<br />

Gesellschaftliche Modernisierung kann anhand von zwei Aspekten beschrieben<br />

werden:<br />

a) Hinsichtlich der sozialen Differenzierung wandelt sich mechanische in<br />

organische Solidarität;<br />

b) Hinsichtlich der Integration verändert sich Kollektivismus zu Individualismus.<br />

Die mit der Modernisierung einhergehende Auflösung des Kollektivbewußstseins<br />

muss durch Regulationsmechanismen kompensiert werden, die Gefahr laufen,<br />

gesellschaftlich pathologische Zustände hervorzurufen: bei Überregulation Fatalismus,<br />

bei Unterregulation zu Anomie.<br />

Ein für Funktionieren moderner Gesellschaften nötige moralischer Individualismus<br />

(im Gegensatz zu traditionellem Kollektivismus) entsteht nur bei optimal austarierter<br />

Regulation.<br />

13(30)<br />

14(30)<br />

4


Durkheims Analyseschema:<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (7)<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (8)<br />

Quelle: Thome (2004)<br />

Anomie als pathologischer Zustand organischer Gesellschaften (2):<br />

Fatalistischer Selbstmord: Unterdrückung des Individualtyps durch<br />

Überreglementierung<br />

Altruistischer Selbstmord: Aufopferung für ein Kollektiv (z.B. Terrorismus;<br />

Kamikaze)<br />

Egoist. Selbstmord: Sinnkrise: Verlust eines über den Einzelnen hinausgehenden Ziels<br />

Anomischer Selbstmord: Bedürfnisse u. Mittel fallen auseinander: Ökonom. Krise o.<br />

plötzlicher Wohlstand (Lottogewinn, Glückskrise); Krise der Bedürfnisregulation<br />

Regulation<br />

hoch<br />

Fatalismus<br />

Integration hoch niedrig<br />

Altruismus Egoismus<br />

niedrig<br />

Anomie<br />

15(30)<br />

16(30)<br />

5


Durkheim, Anomie und Modernisierung (9)<br />

Empirische Belege zu Durkheims Kriminalitätstheorie (1)<br />

(1) Stabilität von Strafe in mechanischen Gesellschaften<br />

Nur eine Studie zu Stabilität von Strafe in einer puritanischen Kolonie des 17. Jh.:<br />

Tatsächlich konstantes Niveau von Strafen trotz dreier „Kriminalitätswellen“<br />

(Erikson, 1966).<br />

(2) Tendenz zu steigender Toleranz und weniger gewaltförmiger Bestrafung in<br />

modernen Gesellschaften (weg von Repression, hin zu Ausgleich)<br />

Insbesondere „nur“ moralisch verwerfliche Verhaltensweisen scheinen entkriminalisiert<br />

und mehr toleriert zu werden (z.B. Homosexualität, Ehebruch). Allerdings ist<br />

der Rückgang gewaltförmiger Bestrafung nicht allgemein (wenig harte Bestrafung in<br />

einfachen Gesellschaften, harte Bestrafung in absoluten Monarchien, Rückgang der<br />

Körperstrafen in modernen Gesellschaften).<br />

(3) Anstiege kriminellen Verhaltens in Zeiten rapiden sozialen Wandels<br />

Durkheims behauptetem Anstieg von Kriminalität in Frankreich während ökonomischer<br />

Krisen des 19. Jh. steht empirisch ein allgemeiner Rückgang entgegen<br />

(Lodhi & Tilly, 1973).<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (10)<br />

Beispiel 1: Tötungsdelikte in Russland (Aktenanalysen)<br />

17(30)<br />

Quelle: Pridemore (2007)<br />

18(30)<br />

6


Durkheim, Anomie und Modernisierung (11)<br />

Beispiel 2: Zeitreihen Russland - Tötungsdelikte<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (12)<br />

Beispiel 2: Zeitreihen Russland – Tod durch Alkohol<br />

Quelle: Pridemore (2007)<br />

Quelle: Pridemore (2007)<br />

19(30)<br />

20(30)<br />

7


Durkheim, Anomie und Modernisierung (13)<br />

Beispiel 2: Zeitreihen Russland - Selbstmord<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (14)<br />

Empirische Belege zu Durkheims Kriminalitätstheorie (2)<br />

(4) Allgemeiner Rückgang von schwerer Gewaltkriminalität<br />

Quelle: Pridemore (2007)<br />

Zeitreihen zeigen tatsächlich einen allgemeinen und deutlichen Rückgang der<br />

Tötungsdelikte in Europa zwischen 1400 und 1970, was ein Beleg nicht nur für<br />

Durkheims Thesen sondern auch für die Zivilisationstheorie von Elias ist.<br />

Allerdings findet sich seit 1970 in mehreren westlichen Ländern eine erneute<br />

Zunahme der Tötungsdelikte – dies ist ein Befund, der der These eines allgemeinen<br />

Rückgangs schwerer Gewaltkriminalität in modernen Gesellschaften widerspricht,<br />

insbesondere dann, wenn man die verbesserte Notfallmedizin in Rechnung stellt.<br />

21(30)<br />

22(30)<br />

8


Durkheim, Anomie und Modernisierung (15)<br />

Beispiel 3: Zeitreihen Tötungsdelikte – England 1200-1990<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (16)<br />

Beispiel 3: Zeitreihen Tötungsdelikte – Niederlande u. Belgien 1320-1990<br />

23(30)<br />

24(30)<br />

9


Durkheim, Anomie und Modernisierung (17)<br />

Beispiel 3: Zeitreihen Tötungsdelikte – Deutschland u. Schweiz 1320-1990<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (18)<br />

Beispiel 3: Zeitreihen Tötungsdelikte – Mitteleuropa 1830-1990<br />

25(30)<br />

26(30)<br />

10


Durkheim, Anomie und Modernisierung (19)<br />

Beispiel 3: Zeitreihen Tötungsdelikte – 7 europäische Länder 1950-1994<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (20)<br />

Beispiel 3: Mögliche Effekte verbesserter Notfallmedizin (Westdeutschland)<br />

27(30)<br />

Quelle: Thome (2004)<br />

28(30)<br />

11


Durkheim, Anomie und Modernisierung (21)<br />

Modell zu Erklärung des längerfristig U-förmigen Verlaufs der Gewaltkriminalität<br />

Eine Kombination von Elias Zivilisations- und Durkheims Modernisierungstheorie<br />

könnte den (zeitweiligen?) Wiederanstieg der Gewaltkriminalität zwischen den 50er<br />

und 90er Jahren erklären. Vermittelnde Komponenten sind vermehrte Gelegenheitsstrukturen,<br />

geringere (relative) Selbstkontrolle und regressiver Kollektivismus.<br />

Resümee<br />

+<br />

-<br />

+<br />

Durkheim, Anomie und Modernisierung (22)<br />

-<br />

+<br />

+<br />

Quelle: Thome (2004)<br />

Durkheim hat einen massiven Einfluss auf die Soziologie und Kriminologie gehabt.<br />

Auch wenn seine Makrotheorie durch modernere Ansätze ersetzt wurde, ist<br />

anerkannt, dass Kriminalitätstheorien Modernisierungsprozesse, zu denen heute die<br />

Globalisierung hinzugetreten ist, berücksichtigen müssen.<br />

Modernisierung scheint mit erhöhter Eigentumskriminalität und (zumindest bis in<br />

die 70er Jahre) einem Rückgang an schwerer Gewaltkriminalität einherzugehen.<br />

Möglicherweise ist der Rückgang der Gewaltkriminalität auf eine Verringerung von<br />

Kollektivismus und einer Stärkung staatlicher Institutionen zurückzuführen. Der<br />

Anstieg der Eigentumskriminalität ist aber vermutlich nicht durch rapiden gesellschaftlichen<br />

Wandel sondern möglicherweise durch eine Veränderung von Gelegenheiten<br />

erklärbar.<br />

Nach Durkheim beeinflusst Modernisierung Kriminalitätsraten aufgrund des<br />

Zusammenbruchs sozialer Normen und Regeln. Demnach sollte soziale Kontrolle ein<br />

wesentlicher Faktor zur Erklärung von Kriminalität sein.<br />

Individualisierung führt nicht nur zu Vereinzelung und Egoismus sondern kann auch<br />

selbstverantwortliche, moralisch handelnde Individuen erzeugen – wenn die Gesellschaft<br />

entsprechende Sozialisationsinstanzen für wesentlich hält und fördert.<br />

29(30)<br />

30(30)<br />

12

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