Was man gestern von ihr erwartete. Und wie wir sie künftig ... - EWMR
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8 Schwerpunkt Zukunft<br />
ener.go 3 · 2012<br />
• Den Grund für die Zukunftseuphorie<br />
im ausgehenden<br />
19. Jahrhunderts <strong>sie</strong>ht Dr.<br />
Karlheinz Steinmüller in<br />
den technologischen und<br />
politischen Entwicklungen<br />
jener Epoche.<br />
Auf etwas fundierterer Basis wagten dann im jungen<br />
20. Jahrhundert Wissenschaftler und andere Experten<br />
Prognosen über entferntere Entwicklungen auf<br />
<strong>ihr</strong>en jeweiligen Fachgebieten. Mehr als 20 <strong>von</strong> ihnen<br />
kamen in dem 1910 veröffentlichten Buch „Die Welt<br />
in 100 Jahren“ zu Wort. Westentaschentelefon-Vorhersager<br />
Sloss gelang dabei vielleicht der aus heutiger<br />
Sicht spektakulärste „Treffer“ – aber auch andere<br />
Experten lagen mit <strong>ihr</strong>en Einschätzungen nahe an der<br />
damals noch weit entfernten Realität.<br />
So wurden Fernhör- und Fernseh-Medien prophezeit,<br />
dank derer die Einsamkeit auch an den abgelegensten<br />
Orten verschwinden würde. Die Land<strong>wir</strong>tschaft würde<br />
stark <strong>von</strong> elektrisch beheizten Treibhäusern profi -<br />
tieren, die auch Winterernten ermöglichen. Organtransplantationen<br />
und das Ersetzen <strong>von</strong> Gliedmaßen<br />
waren feste Bestandteile medizinischer Prognosen.<br />
Diesen so<strong>wie</strong> den meisten anderen Vorhersagen im<br />
frühen 20. Jahrhundert gemein war eine fast durchgehend<br />
optimistische Grundhaltung. „Man sah keine<br />
negativen Begleiterscheinungen der Technik“, sagt<br />
Zukunftsforscher Steinmüller, „sondern nur die Erweiterung<br />
der menschlichen Fähigkeiten.“ Da wurde<br />
bei orts- und zeitunabhängiger Kommunikation eben<br />
nicht an Stress und bei fortschreitender Mobili<strong>sie</strong>rung<br />
nicht an Umweltbelastung gedacht.<br />
Selbst die Weiterentwicklung in der Waffentechnologie<br />
wurde positiv als friedenssichernd interpretiert.<br />
„Wir sind im Besitze <strong>von</strong> so gewaltigen Vernichtungskräften,<br />
dass jeder <strong>von</strong> zwei Gegnern geführte Kampf<br />
nur Doppelselbstmord wäre“, argumentierte die<br />
Pazifi stin und Friedensnobelpreisträgerin Bertha <strong>von</strong><br />
Suttner bereits 1910. Leider mussten noch zwei Weltkriege<br />
das zerstörerische Potenzial technologischer<br />
Neuerungen offenbaren, ehe Suttners Prophezeiung<br />
der nuklearen Abschreckung im Kalten Krieg Realität<br />
wurde.<br />
Als „Glückstreffer, fundierte Gedanken und sehr viel<br />
Wunschdenken“, fasst Zukunftsforscher Steinmüller<br />
die 100 Jahre alten Expertenvorhersagen zusammen<br />
– das sei die gleiche Mischung, die heute noch<br />
vorherrsche, wenn Medien und Öffentlichkeit über<br />
die Zukunft sprechen. <strong>Was</strong> die Inhalte angeht, so <strong>sie</strong>ht<br />
der promovierte Philosoph zwei besonders große<br />
Unterschiede zwischen damals und heute: Das in<br />
der aktuellen Zukunftsforschung elementare Thema<br />
Klima spielte vor 100 Jahren keine Rolle. Fundamental<br />
überschätzt wurden hingegen die Möglichkeiten der<br />
Medizin.<br />
„Es besteht gar kein Zweifel darüber, dass <strong>wir</strong> zu der<br />
Annahme berechtigt sind, die Zukunft werde dem<br />
Radium ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit danken“,<br />
schrieb damals etwa Professor Everard Hustler.<br />
Der Naturwissenschaftler <strong>erwartete</strong> ein „Jahrhundert<br />
des Radiums“, in dem das einige Jahre vorher vom<br />
Ehepaar Curie entdeckte strahlende Element nicht nur<br />
alle Krankheiten bezwingen würde: Auch für Pfl anzenwachstum<br />
und Beleuchtung sah Hustler Radium<br />
als Wundermittel an, dank dem es „in hundert Jahren<br />
gewiss in keiner Stadt mehr elektrische, geschweige<br />
denn eine Gasbeleuchtung mehr geben“ werde. de.<br />
„ Glückstreff er, fundierte<br />
Gedanken und sehr viel<br />
Wunschdenken.“<br />
Grandios daneben lagen die Vorhersagen auch in<br />
Bereichen <strong>wie</strong> Luftfahrt, Kolonien und Kriminalität: So<br />
gingen viele Experten da<strong>von</strong> aus, dass sich der Zeppelin<br />
gegenüber Starrfl üglern durchsetzen würde, andere<br />
prophezeiten persönliche Fluggeräte. Die Kolonialgebiete<br />
wurden als selbstverständlicher Bestandteil<br />
einer Zukunft betrachtet, in der spätere Kolonialherren<br />
wegen des besseren Klimas in „Lufthäusern über<br />
Afrika“ wohnen. <strong>Und</strong> Verbrechen, so war der damals<br />
berühmte Kriminologe Professor Cesare Lombroso<br />
überzeugt, würde mehr und mehr als Krankheit angesehen<br />
und entsprechend behandelbar werden.<br />
Noch bizarrer waren die Argumente, mit denen vor<br />
gut 100 Jahren vor den haarigen Folgen der E<strong>man</strong>zipation<br />
gewarnt wurde. Je mehr die Frauen „männliche“<br />
Tätigkeiten verrichteten, desto ähnlicher würden<br />
<strong>sie</strong> dem anderen Geschlecht, war 1900 in der Zeitschrift<br />
„Das neue Jahrhundert“ zu lesen: „Heute<br />
sollen schon 10 % der Frauen stärkeren Bartwuchs<br />
zeigen; dieser Prozentsatz <strong>wir</strong>d sich konsequent<br />
steigern und in freilich noch sehr ferner Zukunft <strong>wir</strong>d<br />
der Bart nicht mehr das Attribut des Mannes sein.“<br />
Glücklicherweise haben sich die Frauen <strong>von</strong> solch<br />
absurden Zukunftsvisionen nicht weiter abschrecken<br />
lassen …