Hägele-Link Stefan - SMGP
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Lokale Behandlung der Polyneuropathie mit Capsaicin<br />
Dr. med. <strong>Stefan</strong> <strong>Hägele</strong>-<strong>Link</strong><br />
Kantonsspital, St. Gallen<br />
Bei dem häufigen neurologischen Krankheitsbild der Polyneuropathie (PNP) handelt<br />
es sich um eine generalisierte Erkrankung des peripheren Nervensystems, welches<br />
sich wiederum aus den motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren<br />
Schwann Zellen, Ganglienzellen, ihrem Peri- und Epineurium sowie der<br />
dazugehörenden Blut-und Lym phgefässe zusammensetzt. Patienten, welche unter<br />
einer PNP leiden berichten über sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen, aber auch<br />
motorische Schwäche, Muskelzuckungen (Faszikulationen), Krämpfe und Atrophien.<br />
Ebenfalls zu beachten sind autonome Ausfallerscheinungen des paras ympathischen,<br />
des s ympathisch noradrenergen sowie des sympathisch cholinergen Systems. Das<br />
klassische Bild im klinisch-neurologischen Befund zeichnet sich durch abgeschwächte<br />
bis ausgefallene Muskeleigenreflexe, schlaffe, atrophe Paresen, socken- bzw.<br />
strumpf-und handschuhförmige Sensibilitätsstörungen und z.B. im Falle eines Guillain-<br />
Barré-Syndroms (GBS) auch Beteiligung der Hirnnerven aus. Die Elektroneuro- und<br />
Elektrom yographie hilft uns zwischen axonalen und dem yelinisierenden Neuropathien<br />
zu differenzieren und eine erste ätiologische Zuordnung zu treffen. Je nach Verlauf<br />
und Dauer der Symptomatik wird zwischen akuten (z.B. GBS), subakuten (z.B.<br />
chronisch inflammatorische dem yelinisierende Neuropathie, CIDP) oder chronischen<br />
Neuropathien (z.B. heriditären Neuropathien) unterschieden. Auch der Verteilungstyp<br />
der PNP z.B. im Sinne eines s ymmetrisch sensiblen Verteilungstyps (z.B. alkoholische<br />
oder diabetische Neuropathie), eines s ymmetrisch sensomotorischen Verteilungstyps<br />
(z.B. GBS) oder einer distal-s ymmetrischen Neuropathie mit autonomen Störungen,<br />
(z.B. Am yloidose) kann für eine ätiologische Einordnung hilfreich sein. Klinische<br />
Sonderformen stellen typischerweise schmerzhafte Neuropathien mit as ymmetrischem<br />
Verteilungstyp (z.B. Mononeuropathia multiplex) dar, welchen häufig eine<br />
vaskulitische Neuropathie zugrunde liegt. Eine Sonderform stellt die „Small fibre<br />
Neuropathy“ dar, in deren Rahmen nur die kleinen, wenig bzw. nicht m yelinisierten<br />
Nervenfasern (z.B. C-Fasern) betroffen sind. Nur wenn es gelingt die Ursache einer<br />
PNP zu finden und diese zu behandeln kann eine Progredienz verhindert werden. Die<br />
häufigsten Ursachen einer PNP sind der Diabetes mellitus gefolgt von der<br />
alkoholtoxischen Neuropathie, immunvermittelten Neuropathien wie dem GBS,<br />
Malabsorptionss yndromen, hereditären aber auch toxischen einschliesslich<br />
medikamentös bedingten und paraneoplastischen Neuropathien. Letztere<br />
manifestieren sich häufig W ochen oder Monate vor Auftreten des Primärtumors. Trotz<br />
ausführlicher differentialdiagnostischer Abklärung bleibt in über 20% der Fälle die<br />
Ursache der PNP ungeklärt.
Gelingt es nicht die kausale Ursache der Neuropathie zu finden und zu behandeln,<br />
steht die s ymptomatische Therapie insbesondere neuropathischer Schmerzen im<br />
Vordergrund der Behandlung. Hier stehen Antikonvulsiva mit W irkung auf neuronale<br />
Kalziumkanäle wie Gabapentin oder Pregabalin und mit W irkung auf Natriumkanäle<br />
wie Carbamazepin und Lamotrigin zur Verfügung. Ebenso kommen Antidepressiva wie<br />
Amitriptylin oder selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer sowie<br />
besonders lang wirksame Opioide zum Einsatz. Eine besonders interessante Therapie<br />
ist die topische Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Lidocain oder Capsaicin.<br />
Capsaicin ist ein Alkaloid, welches aus der Paprika-Pflanze (Capsicum, Familie der<br />
Nachtschattengewächse, Gattung Capsicum, häufigste verbreitete Art Capsicum<br />
annum) gewonnen wird. Es handelt sich um eine krautig wuchernde, kräftig blühende<br />
Pflanze mit langgedehnten Früchten die sich in glühender Sonne am W ohlsten fühlt<br />
und sehr kälteempfindlich ist. Die Farbtönen der Früchte reichen von gelb bis rot über<br />
violett bis fast schwarz mit grosser Variationsbreite, wobei grüne Früchte immer unreif<br />
sind.<br />
Capsaicin wirkt auf pharmakologischer Ebene durch Aktivierung des sog. TRPV1<br />
(Transient Receptor Potential Vanilloid-1) Rezeptor. Hierbei handelt sich um einen<br />
aus sechs transmembranösen Domänen bestehenden, durch Liganden gesteuerten,<br />
nicht selektiven Kationenkanal welcher auf der Oberfläche von sensiblen Neuronen<br />
angesiedelt ist, die wiederum viele Organe und Strukturen z.B. Haut, Blase, Nieren,<br />
Leber und Darm innervieren. Dieser Rezeptortyp kommt somit im peripheren und im<br />
zentralen Nervens ystem vor und spielt eine zentrale Rolle in der Verarbeitung von<br />
sensorischen Prozessen. Derselbe Kanal wird neben Capsaicin z. B. auch durch Hitze<br />
über 42°C stimuliert. Die Bindung von Capsaicin an TRPV1 führt zu einer Erhöhung<br />
des intrazellulären Calciumspiegels gefolgt von einer Freisetzung verschiedener<br />
Neuropeptide wie Substanz P und Calcium Gene Related Peptide (CGRP). Vom<br />
betroffenen Menschen wird eine schmerzhafte Erhitzung wahrgenommen, gefolgt von<br />
einer Hyperämie mit lokaler Rötung der Haut. Capsaicin löst sich in Alkohol und Fett,<br />
jedoch nicht in W asser, weshalb nach scharfen Speisen ölhaltige und fettige Produkte<br />
wie Joghurt oder Milch sowie hochprozentige alkoholische Getränke zu einer<br />
Linderung des wahrgenommenen Schärfegefühls führen.<br />
Entwicklungsgeschichtlich dient die als brennende Schärfe wahrgenommene W irkung<br />
der Paprikafrüchte als Abwehrmechanismus, da nur Säugetiere darunter leiden, nicht<br />
jedoch Vögel, welche nach dem Verzehr der Früchte über den Kot zu einer weiten<br />
Verbreitung der Pflanze beitragen. Die lokale Anwendung auf der Haut führt im<br />
Verlauf zu einer Schmerzlinderung, da es durch Entleerung von Substanz-P zur<br />
Unterdrückung der W eiterleitung von schmerzauslösenden Signalen im Sinne einer<br />
Desensibilisierung der Nozizeptoren kommt. Eine langfristig niedrig dosierte oder<br />
eine kurzfristig hochdosierte Therapie mit Capsaicin führt zu einem histologisch<br />
nachweisbaren „Rück zug“ der für die Schmerzwahrnehmung verantwortlichen
Nozizeptoren, wodurch der langfristige schmerzlindernde Effekt erklärt wird.<br />
Capsaicin wird typischerweise als Pflaster oder als Crème appliziert und ist in<br />
unterschiedlich hochprozentiger Anwendung für verschiedene Formen der<br />
Schmerztherapie zugelassen. In niedrig dosierte Form (0,06%) wird Capsaicin<br />
mehrfach pro Tag angewandt bei muskuloskelettalen Beschwerden und traumatisch-<br />
bedingten Verletzungen muskuloskelettaler Strukturen eingesetzt. Im Falle der seit<br />
Kurzem erhältlichen hochprozentigen (8%) Anwendungsform von Capsaicin hält die<br />
schmerzlindernde W irkung nach einmaliger Anwendung für 3 Monate an. Letztere ist<br />
für die Therapie peripherer neuropathischer Schmerzen, jedoch nicht bei<br />
schmerzhafter diabetischer Neuropathie, zugelassen. Dennoch liegen Studien zum<br />
Einsatz von Capsaicin auch bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie vor und in<br />
entsprechend publizierten Leitlinien zur Therapie der schmerzhaften diabetischen<br />
Neuropathie wird Capsaicin 0,075% im Sinne einer Level B-Evidenz bei dieser<br />
Indikation empfohlen.<br />
Zusammenfassend stellt Capsaicin eine interessante und erfolgsversprechende<br />
Ergänzung der uns zur Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten zur<br />
Behandlung neuropathischer Schmerzs yndrome dar, welche in Zukunft möglicherweise<br />
an Bedeutung gewinnen wird.<br />
Literatur:<br />
1. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie der Deutschen Gesellschaft<br />
für Neurologie. 4. überarbeitete Auflage, Thieme Verlag 2008<br />
2. Bril, V et al. Evidence-based guideline: Treatment of painful diabetic neuropathy.<br />
Neurology 2011; 76; 1758-1765<br />
3. Forst, T. et.al. The influence of local capsaicin treatment on small nerve fibre<br />
function an neurovascular control in s ymptomatic diabetic neuropathy. Acta<br />
Diabetol 2002; 39: 1-6<br />
4. Pal, M. et al. Vanilloid receptor antagonists: Emerging class of novel anti-<br />
inflammator y Agents for pain management. Current Pharmaceutical Design 2009;<br />
15: 1008-1026<br />
5. Lourdes Reyes-Escogido et al. Chemical and pharmacological aspects of capsaicin,<br />
Molecules 2011; 16, 1253-1270.