liegen Sie richtig! - Draußen
liegen Sie richtig! - Draußen
liegen Sie richtig! - Draußen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
01 | 10<br />
Straßenmagazin für Münster und das Münsterland 1,00 Euro für den Verkäufer www.muenster.org/draussen<br />
Verkäufer-Sonderausgabe für das 1.Halbjahr 2010<br />
Wir haben ihn: David Garrett<br />
Plausch mit Stoppok<br />
2,00
2<br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
mit einem rekordverdächtigen Verkaufsergebnis der Dezemberausgabe<br />
von über 13.000 Zeitungen konnten wir das vergangene<br />
Jahr erfolgreich abschließen. Ein Ergebnis, von dem<br />
wir im Jahr 2008 nur träumen konnten. Trotz eisig kalter und<br />
ungemütlicher Witterung standen unsere inzwischen ca. 85<br />
Verkäufer unermüdlich bei Schnee und Regen auf Ihren Plätzen.<br />
Eine Entwicklung, die wir mit einem lachenden und einem weinenden<br />
Auge betrachten. Natürlich freuen wir uns über eine<br />
gesteigerte Auflage, trotzdem zeigt uns die rasant ansteigende<br />
Verkäuferzahl, dass die Not auch in Münster immer größer wird.<br />
Das Haus der Wohnungslosen (HDW) ist voll belegt bis auf das<br />
letzte Bett, der Treffpunkt an der Clemenskirche platzt zur<br />
Mittagszeit aus allen Nähten, in den anderen Einrichtungen<br />
sieht es ähnlich aus. Bedenklich!<br />
_Doch es gibt auch Positives zu berichten. Mit Hilfe der Arbeitsagentur<br />
können wir mit Beginn des Jahres gleich drei Leute<br />
aus unserem Umfeld fest einstellen. Zwar sind die Verträge<br />
zeitlich begrenzt, bieten aber vorübergehend eine Perspektive.<br />
Tausendsassa Toby wird uns in der Redaktion bei der Betreuung<br />
der Verkäufer unterstützen. Er organisiert unter anderem<br />
das wöchentliche Frühstück und gibt Zeitungen an Verkäufer<br />
aus. Zeichentalent Thorsten ist nicht nur für die Illustrationen<br />
in ~ zuständig, er hat auch einen Führerschein. Künftig<br />
wird er die Verkäufer im Münsterland mit Zeitungen versorgen.<br />
Verkäufer Detlef macht das, was er am besten kann: ~<br />
Anzeige<br />
verkaufen. Dabei wird er neuen Verkäufern helfend zur Seite<br />
stehen und neue Verkaufsplätze ausfindig machen.<br />
_Inzwischen gibt es sieben Festangestellte in der Redaktion,<br />
die alle von der Arbeitsagentur gefördert werden. Alle waren<br />
vor dem Beschäftigungsverhältnis bei ~ lange Zeit arbeitslos<br />
und hätten durch verschiedenste Umstände auf dem<br />
freien Arbeitsmarkt wohl keine Chance bekommen. Außerdem<br />
gibt es drei Teilzeitkräfte, eine Jahrespraktikantin, eine Arbeitsgelegenheit<br />
als so genannter 1-Euro-Job. Immer wieder werden<br />
wir von Freiwilligen, Praktikanten und Ehrenamtlichen<br />
unterstützt. Auch Sozialstunden können bei uns abgeleistet<br />
werden.<br />
_Wie <strong>Sie</strong> sehen, ist ~ zu einem kleinen Unternehmen geworden,<br />
in dem verschiedenste Menschen eine Chance bekommen<br />
und sich so manch neue Perspektive eröffnet. Damit wir<br />
weiterhin vielen Menschen neue Wege eröffnen und die vorhandenen<br />
ausbauen und festigen können, hoffen wir auch in<br />
diesem Jahr Ihre Unterstützung.<br />
Sabrina Kipp
~<br />
Für Ihre<br />
Patenschaft<br />
unser<br />
Patenspendenkonto:<br />
Kto. 34205427<br />
BLZ 40050150<br />
Sparkasse Münsterland Ost<br />
Anzeige<br />
Ihre Unterstützung ist Hilfe, die direkt ankommt<br />
Jeder Euro wird sinnvoll und verantwortungsvoll genutzt, um Obdachlosen und schwer<br />
vermittelbaren Langzeitarbeitslosen neue Chancen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation<br />
zu bieten. Helfen <strong>Sie</strong> mit, es gibt vielfältige Möglichkeiten:<br />
Kaufen und Weiterempfehlen der ~ ist die direkte Hilfe zur Selbsthilfe für<br />
die VerkäuferInnen (kleines Zubrot, Akzeptanz, Eröffnung neuer Perspektiven)<br />
und steigert die Auflage der Zeitung. Preis: 1,80 Euro.<br />
Seitensponsoring ist eine besondere Form, die Druckkosten einer Seite in der<br />
~ direkt zu finanzieren. Preis: ab 50,- Euro. (Kto. 33878, BLZ 40050150)<br />
Werbung in ~ unterstützt die laufenden Betriebskosten und zeigt außerdem<br />
Ihr gesellschaftliches Engagement und Ihre soziale Verantwortung. Preis ab<br />
58,- Euro (incl. MwSt.) (Kto. 33878, BLZ 40050150)<br />
Spenden sind wichtig für den Erhalt des Projektes. Summe: beliebig (Kto 33878,<br />
BLZ 40050150)<br />
Patenschaften ermöglichen uns die Finanzierung von Voll- und Teilzeitstellen<br />
für Verkäufer. Summe: langfristig + beliebig
4<br />
4<br />
Ein Herz und eine Seele<br />
David Garrett und seine Geige
Impressum<br />
Herausgeber<br />
„~” e.V.<br />
Berliner Platz 8<br />
48143 Münster<br />
Redaktion<br />
Heinz Dalmühle<br />
Jörg Hüls<br />
Sabrina Kipp<br />
Sigi Nasner<br />
Carsten Scheiper (V.i.S.d.P.)<br />
Tel.: 0251 / 4909118<br />
E-Mail-Adresse<br />
draussen-redaktion@live.de<br />
Streetwork<br />
Sabrina Kipp<br />
draussen-kipp@hotmail.com<br />
Internetseite<br />
www.muenster.org/draussen<br />
Administrator: Cyrus Tahbasian<br />
An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet<br />
Adik Alexanian, Nora Gantenbrink, Horst<br />
Gärtner, Alexandra Heitz, Michael Heß, Jörg<br />
Hüls, Sabrina Kipp, Christine Klatt, Annalenna<br />
Koch, Eduard Lüning, Sigi Nasner, Annette<br />
Poethke, P. Erich Purk, Renate Raave-<br />
Schneider, Sarah*, Carsten Scheiper, Katrin<br />
Schnackenberg, Hanna Stanke, Marcel-Philipp<br />
Werdier<br />
Fotos<br />
Sabrina Kipp, Christine Klatt, Sascha Kramer,<br />
Sigi Nasner, Marcel- Phillipp Werdier, Karsten<br />
Woelk<br />
Illustration<br />
Thorsten Enning<br />
Titelfoto<br />
Sascha Kramer<br />
Layout, Titelgestaltung<br />
Adik Alexanian<br />
Gestaltungskonzept<br />
Lisa Schwarz/Christian Büning<br />
Auflage 9000<br />
Druck<br />
Borgsmüller Druck<br />
unterstützt durch<br />
Siverdes-Stiftung<br />
Fontshop, Berlin (spendierte<br />
die Satzschrift FF Fago)<br />
Bankverbindung<br />
Sparkasse Münsterland Ost<br />
Konto-Nr. 33 878<br />
BLZ 400 501 50<br />
Paten-Spenden-Konto<br />
Sparkasse Münsterland Ost<br />
Konto-Nr. 34205427<br />
BLZ 400 501 50<br />
Wir danken allen Spendern!<br />
Bitte berücksichtigen <strong>Sie</strong><br />
unsere Anzeigenpartner<br />
6<br />
8<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
18<br />
20<br />
21<br />
22<br />
25<br />
Inhalt<br />
Niemand der wegschaut<br />
Interview David Garrett<br />
Wie ich Brasilien heute sehe<br />
Mehr als Fußball, Samba und Karneval<br />
Nicht Arbeiten verbieten, sondern Armut<br />
Kann Kinderarbeit auch sinnvoll sein?<br />
„Das war glücklich!“<br />
Tomas: Mit wenig zufrieden<br />
Sternstunden<br />
Lauter kleine Momente<br />
About Mike<br />
Nutzlos für die Gesellschaft?<br />
Wohnungsräumungen in Münster<br />
Vorher kommt die Passivität<br />
„Hope“nhagen<br />
Es gibt viel zu tun<br />
Ne Kiste Bier und dann reflektieren<br />
Interview Stefan Stoppok<br />
„Er beschäftigt sich mit Zierfischzucht...“<br />
Aus dem Leben von Jörg Adler<br />
Usedomer Zwiegespräche 2001<br />
Rückblick<br />
„Ich bin durch und durch eine Künstlerin!“<br />
Obdachlosigkeit kann kein Kunstwerk spiegeln<br />
Ich ticce <strong>richtig</strong><br />
Tourette-Syndrom- die Bombe im Kopf<br />
Echte Hausmannskost<br />
Rezepte<br />
5
6<br />
Interview | Text: Sabrina Kipp | Fotos: Sascha Kramer, Karsten Woelk<br />
Niemand, der wegschaut<br />
David Garrett im ~-Interview<br />
Er hält den Weltrekord als schnellster<br />
Geiger der Welt. Sein Publikum ist bunt<br />
gemischt. Alt und Jung zieht es zu seinen<br />
Konzerten weltweit. Blonde, lange<br />
Mähne, lasziver Blick und ein unwiderstehliches<br />
Grinsen: Fans schreien verzückt,<br />
wenn David Garrett mit seiner<br />
Stradivari die Bühne betritt. Doch Schönsein<br />
alleine bringt niemanden weiter, in<br />
den technisch schwierigen „Zigeunerweisen“<br />
von Sarasate muss man schon<br />
etwas drauf haben. Und er hat etwas<br />
drauf, ohne jede Frage. Nicht nur in der<br />
klassischen Streichmusik ist der 27-Jährige<br />
zu Hause. Von Michael Jackson bis<br />
AC/DC reicht sein Repertoire. Bevor er<br />
seinen Bogen in Münster tanzen lässt,<br />
nahm er sich Zeit für ein Interview.<br />
~: Kennst du Straßenmagazine und<br />
hast du schon mal eins gekauft?<br />
David Garrett: Ja, ich habe schon öfter<br />
welche gekauft. Auch gerade während<br />
meines Studiums in den USA. In New York<br />
gibt es ja auch Straßenzeitungen. Dort<br />
habe ich immer viele öffentliche Verkehrsmittel<br />
benutzt und oft vergessen, mir etwas<br />
zu lesen mitzunehmen. Dafür waren<br />
die dann perfekt.<br />
~: Dich umgibt täglich Glitter und<br />
Glamour. Gibt es für dich Kontakt zu wirklich<br />
armen Menschen?<br />
David Garrett: Dem Ausdruck ‘Glitter und<br />
Glamour’ möchte ich widersprechen. Weder<br />
Glitzer noch Glamour passen zu meinem<br />
Leben. Es sieht vielleicht nicht so aus,<br />
aber mein Beruf beruht wirklich auf harter<br />
Arbeit. Aber zu eurer Frage: Ich fahre<br />
oft in Länder Südamerikas oder Südostasiens,<br />
wo es natürlich viele ärmere Menschen<br />
gibt. Ich möchte mal behaupten,<br />
dass ich ein relatives gutes Gespür für<br />
Notleidende habe. Ich bin nicht jemand,<br />
der wegschaut, wenn es Menschen um<br />
mich herum nicht gut geht.<br />
~: Du bist weit in der Welt herum<br />
gekommen. Wo und durch welche Situationen<br />
ist dir der Unterschied zwischen<br />
Arm und Reich am meisten bewusst geworden?<br />
David Garrett: In China und Indien. Das<br />
sind zwei Nationen, in denen die Wirtschaft<br />
unglaublich schnell hoch geschossen<br />
ist. Gerade in diesen Nationen basiert<br />
der Reichtum von einigen wenigen<br />
auf vielen Armen und der Unterschied<br />
zwischen beiden ist einfach besonders<br />
groß.<br />
~: Fühlst du dich in deiner Wahlheimat<br />
New York zu Hause? Kommst du<br />
gerne in deine alte Heimat Aachen?<br />
David Garrett: Momentan fühle ich mich<br />
überall zu Hause, weil ich gar kein <strong>richtig</strong>es<br />
Zuhause habe. Ich aber komme immer<br />
auch gern nach Aachen.<br />
~: Hast du außer für's Fernsehen<br />
schon mal Straßenmusik gemacht? Wie<br />
war das für dich?<br />
David Garrett: Das habe ich als Kind schon<br />
öfter gemacht, wenn das Taschengeld zu<br />
knapp war. Dann habe ich mich an die<br />
Straße gesetzt und gefiedelt. Einmal im<br />
Italienurlaub wollte ich mir etwas kaufen,<br />
was meine Eltern mir nicht kaufen<br />
wollten, und dann habe ich dort gespielt<br />
und tatsächlich 47.000 Lira verdient.<br />
Das waren damals 47 DM und für<br />
mich äußerst lukrativ.<br />
~: Du spielst dein Instrument seit<br />
frühster Kindheit. Wann wurde dir klar,<br />
dass du ein außergewöhnliches Talent<br />
dafür besitzt?<br />
David Garrett: Man muss Selbstbewusstsein<br />
mitbringen. Im tiefsten Inneren weiß<br />
ich, dass ich Talent habe. Aber man muss<br />
sich das dennoch jeden Tag auf's Neue<br />
erarbeiten. Und es ist auch wichtig, trotzdem<br />
Zweifel daran zu haben, so dass man<br />
es sich immer wieder zeigen muss.<br />
~: Bist du sehr ehrgeizig?<br />
David Garrett: Ich kann auch faul sein.<br />
Aber ein innerer Ehrgeiz ist sicher da, besonders<br />
in Probenphasen, klar. Aber ich<br />
bin keiner, der nicht auch los lassen kann.<br />
~: Sicherlich sind deine Eltern an<br />
deiner Entwicklung nicht unbeteiligt.<br />
Würdest du deine Kinder diesem Druck<br />
aussetzen?<br />
David Garrett: Nein, das würde ich nicht.<br />
Ich glaube aber, jeder, der das einmal<br />
durchlebt hat, hat eine ganz andere Perspektive.<br />
Eltern sehen das subjektiv. Man<br />
kann das gar nicht beschreiben, wie sich<br />
das anfühlt und wie sich das seelisch manifestiert.<br />
Selbst wenn man viel Talent<br />
hat. Im Endeffekt muss das jedes Elternteil<br />
selber entscheiden, aber ich habe<br />
da meine Vorbehalte.
~: Hast du noch Zeit für andere<br />
Hobbys?<br />
David Garrett: Nein. (lacht)<br />
~: Wie hältst du dich während deiner<br />
großen Touren fit? Kann man dich<br />
morgens beim Joggen im Park erwischen?<br />
David Garrett: Nein, das nicht, aber man<br />
kann mich abends im Fitnessstudio des<br />
Hotels erwischen.<br />
~: In einer großen Zeitung stand<br />
kürzlich zu lesen, du lebst schnell und<br />
intensiv. Holst du so die Zeit deiner Jugend<br />
nach, in der du nur mit dem Geigespielen<br />
beschäftigt warst?<br />
David Garrett: Ich bin immer noch mit<br />
dem Geigespielen beschäftigt. Da hat<br />
Exklusiv für unsere<br />
Leser! Lassen <strong>Sie</strong> sich verzaubern<br />
und bieten <strong>Sie</strong> mit!<br />
Handsignierte CD „Classic Romance“<br />
zu versteigern! Geben <strong>Sie</strong> bis zum<br />
31.01. ihr Gebot ab unter:<br />
draussen-kipp@hotmail.com<br />
Das Höchstgebot erhält den Zuschlag.<br />
sich nicht viel verändert. Aber es gab<br />
sicher mal eine Zeit, wo es lockerer war.<br />
Und ich bin immer froh, wenn ich mal<br />
weniger zu tun habe und etwas weniger<br />
Verantwortung meinem Beruf gegenüber.<br />
Da kann man dann natürlich intensiver<br />
leben neben der Musik. Sonst ist das gar<br />
nicht möglich, weil man immer sehr konzentriert<br />
sein muss.<br />
~: Was würdest du tun, wenn du<br />
aus irgendwelchen Gründen nicht mehr<br />
Geige spielen könntest? Deine Hände sind<br />
sicher mindestens so hoch versichert wie<br />
deine Geigen?<br />
David Garrett: Ja, die Hände sind versichert,<br />
aber was würde ich tun? Ich würde<br />
wahrscheinlich ins Management gehen.<br />
Ich rege mich immer auf, dass Manager<br />
immer nur im Büro sitzen, vor dem Com-<br />
puter und dem Telefon. Und ich muss<br />
herumreisen (lacht). Nein, aber ohne<br />
Witz: Künstlermanagement fände ich<br />
schon sehr spannend.<br />
~: Was ist aus den Nacktbildern geworden,<br />
die ja leider von deiner Homepage<br />
verbannt worden sind. Bleiben sie<br />
der Nachwelt nun für immer verborgen?<br />
(<strong>Sie</strong> stehen wohl nicht für eine Versteigerung<br />
zu Verfügung!??)<br />
David Garrett: Nein, die sind im Keller<br />
abgeschlossen und verriegelt (lacht).<br />
Nein, Scherz. Ich weiß nicht, was mit<br />
denen passiert ist. Seit ich die Website<br />
an meine Plattenfirma übergeben habe,<br />
sind die nicht mehr da. Ich selbst besitze<br />
die aber schon noch, aber keine<br />
Ahnung, wer sie sonst noch hat. #<br />
7
8<br />
Bericht | Text und Fotos: Annalena Koch<br />
„Wie ich Brasilien sehe“<br />
Ein etwas anderer Blick auf den Zuckerhut<br />
Nach ihrem siebenmonatigen Brasilienaufenthalt<br />
als Missionarin auf Zeit, hat<br />
Annalena Koch in einer der letzten<br />
~-Ausgaben berichtet, wie sie<br />
seitdem über Deutschland denkt. Nun<br />
möchte sie davon erzählen, wie sie Brasilien<br />
- das fünftgrößte und ethnienreichste<br />
Land der Welt - erlebt hat, und<br />
zeigen, dass Brasilien eben nicht nur<br />
aus Fußball, Samba, Karneval und nackten<br />
Frauen besteht.<br />
_Wenn ich an Brasilien denke, fallen mir<br />
zuerst die Disparitäten zwischen Arm und<br />
Reich, Stadt und Land, Nord und Süd,<br />
Weiß und Schwarz auf. In keinem Land<br />
der Welt sind diese Unterschiede so krass<br />
wie dort. Was historisch gesehen auch mit<br />
dem Sklavenhandel zusammenhängt. Dadurch<br />
gibt es kaum einen Mittelstand. Soziale<br />
Einrichtungen und Hilfe vom Staat<br />
sind rar. Es gibt zwar die „bolsa familia“,<br />
eine finanzielle Unterstützung des Staates,<br />
die der amtierende Präsident Lula<br />
da Silva eingeführt hat und sich damit<br />
brüstet. Doch den wirklich Armen hilft<br />
selbst das nicht, weil es nicht bis zu ihnen<br />
durchsickert.<br />
_Mit dem Thema Spenden und Hilfe aus<br />
Deutschland gehe ich sehr kritisch um.<br />
Zum einen wegen der Bürokratie, zum<br />
anderen darf bei Schwellenländern wie<br />
Brasilien nicht der Eindruck entstehen,<br />
Entwicklungshilfe bestünde darin, passiv<br />
zu sein und sich aus dem Sumpf ziehen<br />
zu lassen. Um das bilaterale Element zu<br />
betonen, spricht man heutzutage politisch<br />
korrekt von Entwicklungszusammenarbeit.<br />
Kürzlich hatte ich im Wohnheim<br />
mit den Mädels von meinem Flur<br />
eine heiße Diskussion. Es ging um Spenden<br />
vor Weihnachten. Clara und ich<br />
meinten beide, dass dies reiner Eigennutz<br />
sei, um sein allzu schlechtes soziales Gewissen<br />
vor Weihnachten zu befriedigen<br />
und das Gefühl zu haben mit Gott und<br />
der Welt im Reinen zu sein. Die anderen<br />
fragten, ob es ein Fehler sei, etwas Gutes<br />
zu tun und sich dabei gut zu fühlen? Eine<br />
schwierige Frage, mit der der Philosoph<br />
Kant sich bereits beschäftigt hat. Das beste<br />
Beispiel ist für mich Bruna, eine brasilianische<br />
Freundin, die aus der Mittelschicht<br />
kommt. <strong>Sie</strong> ist mit mir nach Deutschland<br />
gekommen und arbeitet als Au-pair in der<br />
Nähe von Stuttgart. Ihre Schwester bat sie,<br />
ihr von ihrem Au-pair-Gehalt in Deutschland<br />
einen Laptop und einen iPod zu kaufen.<br />
Bruna antwortete: „Liegt in Deutschland<br />
das Geld etwa auf der Straße? Ich<br />
muss es mir hart verdienen“. Das ist genau<br />
der Eindruck, den die Menschen auf<br />
der Südhalbkugel bekommen, wenn man<br />
sie mit Spenden und Geschenken über-<br />
häuft. Besser ist immer noch Hilfe zur<br />
Selbsthilfe.<br />
_Das Gesundheitssystem ist ebenso eine<br />
Katastrophe, da es zwar eine kostenlose<br />
Grundversorgung gibt, aber Krankenhausaufenthalte<br />
oder ähnliches muss der Patient<br />
privat bezahlen. Vor einigen Tagen<br />
erreichte mich eine Hilfe-E-Mail von einem<br />
der Brüder, mit denen ich in Alagoinhas<br />
zusammengearbeitet habe. Er berichtete<br />
von einer 23-jährigen Mutter mit<br />
5 Kindern. Die Mutter und einige der Kinder<br />
sind auf Grund eines genetischen Defektes<br />
blind. Zwei der Kinder kurz davor<br />
zu erblinden. Die Ärztin im Krankenhaus<br />
von Salvador meinte, es grenze an ein<br />
Wunder, wie diese Mutter unter all den<br />
prekären Umständen in der Lage sei, den<br />
Alltag zu meistern. In Deutschland hätte<br />
die Krankenversicherung ohne weiteres<br />
eine so dringend nötige Augenoperation<br />
bezahlt. Wer aber dort kein Geld hat, hat<br />
verloren. Wenn ich so etwas höre, betrifft<br />
mich das immer sehr. Auf den ersten Blick<br />
wird schon bei der Beantragung des Visums<br />
deutlich, dass in Brasilien mindestens<br />
genauso viel Bürokratie herrscht,<br />
diese aber wesentlich chaotischer ist.<br />
_Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass<br />
alle Brasilianerinnen so wie an Karneval<br />
in Rio halb nackt auf der Straße herumlaufen.<br />
Erstens ist auch hier Karneval<br />
nicht gleich Karneval. Ähnlich wie hierzulande<br />
beim Kölner Karneval und der<br />
alemannischen Fasnet gibt es auch dort<br />
deutlich regionale Unterschiede. Zweitens<br />
laufen Brasilianerinnen höchstens am<br />
Strand in sehr knappen Bikinis herum,<br />
aber FKK wäre undenkbar und man<br />
macht sich damit als Tourist auch nicht<br />
gerade beliebt.<br />
_90% der Brasilianer sind Katholiken.<br />
Brasilien wird manchmal auch das katholischste<br />
Land der Welt bezeichnet,<br />
aber man muss dazu sagen, dass viele<br />
Brasilianer mittlerweile auch keine praktizierenden<br />
Christen mehr sind. Außerdem<br />
ist die Zahl der evangelikalen und<br />
Pfingstkirchen erschreckend gestiegen,<br />
gerade in den Favelas geht man gerne
auf Seelenfang. Interessant ist aber auch,<br />
dass es durch die Vielfalt an Ethnien, besonders<br />
in Salvador, zu Synkretismus kam,<br />
einer Vermischung verschiedener Glaubensrichtungen,<br />
hier vor allem von afrikanischem<br />
Glauben und Christentum. Diese<br />
Art Religion nennt man Candomblé. Afrikanische<br />
Gottheiten und katholische<br />
Heilige wurden vermischt und Götterboten,<br />
so genannte Orishas, tanzen oder<br />
bringen den Göttern Opfer. Bei solchen<br />
Sitzungen darf man als Tourist gern teilnehmen,<br />
sollte aber aus Reinlichkeitsgründen<br />
weiß gekleidet sein.<br />
_Was als Tourist auch auffällt ist, dass jedes<br />
Haus eingemauert und mit Scherben<br />
oder Stacheldraht auf den Mauern bestückt<br />
ist. Die Sicherheitslage ist ein Problem,<br />
wird von Touristen aber auch überbewertet.<br />
Auch in Deutschland kann man<br />
auf offener Straße überfallen werden, es<br />
ist vor allem eine Frage, wie man sich als<br />
Tourist gibt.<br />
_Fußball das Thema Nummer Eins. Es gab<br />
einmal eine Studie, die nachwies, dass,<br />
wenn die brasilianische Nationalmannschaft<br />
spielt, Überfälle und Straftaten sehr<br />
massiv zurückgehen und das Land still<br />
steht, weil alle vor ihren Fernsehern sitzen.<br />
Die sind übrigens Statussymbol und<br />
gibt es in jeder noch so armen Hütte. Ich<br />
bin ja mal sehr gespannt auf die Fußballweltmeisterschaft<br />
- Copa do mundo 2014<br />
in Brasilien.<br />
_Bis dorthin soll sich auch noch viel an<br />
infrastrukturellen Maßnahmen tun. Das<br />
Wichtigste, was politisch getan werden<br />
müsste, ist aber eine schon lang ausstehende<br />
Landreform, die die Landflucht in<br />
die Städte und deren Ursachen an den<br />
Wurzeln packt. Die Wasserknappheit im<br />
brasilianischen Nordosten, die Hungersnöte<br />
(Ein Viertel aller Brasilianer hungert!)<br />
und ökologische Landwirtschaft sind Herausforderungen<br />
der Zukunft. Vor allem<br />
muss verhindert werden, dass zu Gunsten<br />
der Monokulturen und Viehzucht weiter-<br />
hin das Ökosystem Amazonas vernichtet<br />
wird.<br />
_Generell ist Ökologie und Umweltbewusstsein<br />
ein sehr großes Problem, da<br />
diese noch kaum vorhanden sind. Müll<br />
wird einfach auf die Straße oder grüne<br />
Wiese geworfen und verbrannt. Ein wei-<br />
teres Problem ist, dass in Supermärkten<br />
für jede Kleinigkeit Plastiktüten verwendet<br />
werden. Dem wurde in diesem Jahr<br />
juristisch entgegengewirkt, indem man<br />
ein Gesetz gegen Plastiktüten einführte<br />
und Alternativen, zum Beispiel Stofftaschen,<br />
immer mehr etablieren will. #<br />
9
10<br />
Berichte | Text: Katrin Schnackenberg, Alexandra Heitz, Annalena Koch | Fotos: Christliche Initiative Romero<br />
„Nicht Arbeit verbieten, sondern Armut“<br />
Weltladen ‘la tienda’ diskutiert über Kinderarbeit<br />
Sind Produkte aus Kinderhand per se<br />
ethisch verwerflich oder kann es sinnvoll<br />
sein, Produkte aus Kinderhand im<br />
Fairen Handel zu vertreiben, um auf die<br />
Rechte arbeitender Kinder aufmerksam<br />
zu machen? Mit dieser Frage beschäftigte<br />
sich der Weltladen ‘la tienda’ e.V. im<br />
November auf einem Bildungswochenende<br />
im Freien Tagungshaus im niedersächsischen<br />
Barnstorf. Katrin Schnackenberg,<br />
Alexandra Heitz, Annalena<br />
Koch berichten.<br />
_Der Begriff Kinderarbeit führt bei vielen<br />
Menschen zu ablehnenden Reaktionen,<br />
weil sie damit ausbeuterische Tätigkeiten<br />
wie Teppichknüpfen oder Arbeiten<br />
im Steinbruch unter sklavenähnlichen<br />
Zuständen in Verbindung bringen.<br />
Weltweit arbeiten nach Schätzungen der<br />
UN 250 Mio. Kinder teils unter sklavenähnlichen<br />
Umständen. Der Faire Handel<br />
grenzt sich aus seinem Selbstverständnis<br />
heraus klar von diesen Formen der ausbeuterischen<br />
Kinderarbeit ab und beansprucht<br />
für sich, die Rechte von Kindern<br />
zu sichern.<br />
_Die Teilnehmer des Seminars lernten,<br />
dass es je nach Kultur unterschiedliche<br />
Auffassungen von Kindheit und Arbeit<br />
gibt und sich somit nicht alle Tätigkeiten<br />
von Kindern per se verurteilen lassen.<br />
So gibt es viele wirtschaftlich tätige<br />
Kinder in Asien, Lateinamerika und Afrika,<br />
die nicht ausgebeutet werden und freiwillig<br />
arbeiten möchten. <strong>Sie</strong> sind etwa als<br />
Straßenhändler, Schuhputzer oder Ernte-<br />
Anzeige<br />
helfer tätig. Viele unter ihnen arbeiten,<br />
um ihre in Armut lebende Familie zu unterstützen<br />
oder sich selbst einen Schulbesuch<br />
leisten zu können. Daneben sind<br />
Faktoren wie ein würdevolles Leben, Unabhängigkeit<br />
und Verantwortung wichtig<br />
für die Kinder, die sich zu einer weltweiten<br />
„Bewegung arbeitender Kinder“<br />
zusammengeschlossen haben. Die<br />
Bewe-gung fordert eine Anerkennung<br />
ihrer Arbeit und einen stärkeren Schutz<br />
ihrer Rechte.<br />
_In Gruppenarbeiten und einem Vortrag<br />
setzten sich die Teilnehmer des Seminars<br />
mit der Situation und den Forderungen<br />
dieser arbeitenden Kinder auseinander.<br />
„Kinder sollten nicht arbeiten müssen, sie<br />
sollten aber arbeiten dürfen, wenn sie es<br />
wollen“, so Johanna Fincke in ihrem Vortrag,<br />
zu dem sie als Kampagnenreferentin<br />
der Christlichen Initiative Romero (CIR)<br />
aus Münster eingeladen war. Weiterhin<br />
machte sie deutlich, dass Verbote von<br />
Kinderarbeit auch jene Kinder treffen, die<br />
einen sinnvollen Beitrag für sich und ihre<br />
Familie leisten. Verbote würden diese<br />
Kinder oft in die Illegalität drängen und<br />
sie erst recht ausbeutbar machen.<br />
_Zusammenfassend machte das Seminarwochenende<br />
deutlich, dass es zum<br />
Thema Kinderarbeit mehr Zugänge gibt,<br />
als es auf den ersten Blick scheint und<br />
dass sich ein differenzierter Blick lohnt.<br />
Da der entwicklungspolitische Verein ‘la<br />
tienda’ seinen Auftrag neben dem Verkauf<br />
fair gehandelter Waren auch in der<br />
Bildungsarbeit sieht, gründeten die Teilnehmer<br />
eine Arbeitsgruppe. Diese bereitet<br />
nun eine Vortragsreihe zum Thema<br />
„Arbeitende Kinder“ für das erste Halbjahr<br />
2010 vor. #
Bericht | Text: Nora Gantenbrink | Foto: Sigi Nasner<br />
„Das war glücklich!“<br />
Verkäufer Tomas vorgestellt<br />
Tomas ist 25 und eigentlich spricht man<br />
das „Tomasch“ aus, da wo er herkommt<br />
zumindest. Seine Heimat, die Slowakei<br />
hat er verlassen, „um ein neues<br />
Leben anzufangen“. Ein Leben, das<br />
reicht um sich selbst und seine Familie<br />
in dem kleinen slowakischen Dorf Velky<br />
Blh zu ernähren. Nora Gantenbrink<br />
stellt den sympathischen ~-<br />
Verkäufer vor.<br />
_Darum ist er vor ein paar Monaten nach<br />
Deutschland gekommen, erst nach Stuttgart,<br />
dann nach Münster. Er hatte ein paar<br />
Bekannte hier, aber kein Geld, keinen<br />
Schlafplatz, keine Aufenthaltsgenehmigung.<br />
Eigentlich hatte Tomas nix außer<br />
die Bekannten und den Willen irgendwo<br />
Arbeit zu finden. Nur: Arbeit ohne „Freizügigkeitsbescheinigung“<br />
gab es für Tomas<br />
nicht. Er bettelte. „Aber das“, sagt<br />
Tomas, „war nicht schön!“ Und eigentlich<br />
will Tomas damit sagen, es war ihm<br />
schrecklich unangenehm und nicht das,<br />
was er wollte. Nicht im Geringsten.<br />
_Er hörte von der „~“, kam vorbei,<br />
stellte sich vor und wurde Verkäufer. Das<br />
war im Frühjahr dieses Jahres. „Seitdem“,<br />
sagt Tomas, „geht es gut!“ Er bekam eine<br />
Verkaufsstelle am Bohlweg. Tomas<br />
stellte sich mit seinen Zeitungen vor das<br />
kleine Rondell der Läden: Dem Gemüsehändler,<br />
Aldi, dem Bäcker und der Fleischerei.<br />
Er verkaufte zehn, fünfzehn,<br />
manchmal zwanzig Zeitungen am Tag. Er<br />
stellte sich unter, wenn es regnete. Er arbeitete<br />
auch weiter, als aus dem Sommer<br />
Herbst und aus diesem Winter wurde.<br />
Manche Menschen grüßten ihn im Vorbeigehen.<br />
„Das war glücklich“, sagt Tomas<br />
und eigentlich meint er, „Ich war<br />
glücklich“. Wenn er neue Zeitungen<br />
brauchte, lief er zum Bahnhof, wärmte<br />
sich auf, trank Kaffee und stellte sich wieder<br />
an seinen Stammplatz im Bohlweg.<br />
_Mittlerweile hat er ein kleines Zimmer.<br />
Er kann die Miete bezahlen und alle zwei<br />
Wochen ein Paket in die Heimat senden.<br />
Weihnachten hat er ein sehr großes Paket<br />
hingeschickt, nämlich sich selbst. Er hat<br />
seine vier kleinen Kinder gesehen. „Aber<br />
nicht lang!“, sagt Tomas, denn er musste<br />
wieder arbeiten, wieder verkaufen. Bis<br />
zu zehn Stunden steht er manchmal im<br />
Bohlweg. „Verkaufen, das hat nichts mit<br />
Betteln zu tun, oder?“, fragt Tomas. Wie<br />
lange Tomas auf seine Papiere warten<br />
muss, ist unklar. Wahrscheinlich bekommt<br />
er sie nie. So <strong>richtig</strong> versteht er<br />
das bürokratische System auch nicht.<br />
„Ist schwer“, sagt er dann und meint<br />
damit, es sei kompliziert. Sein Zimmer<br />
hat er aus Sperrmüll möbliert. „In der<br />
Slowakei“, sagt Tomas „gibt es keinen<br />
Sperrmüll.“<br />
_Als Send war, hat er mal einen Schrank<br />
gefunden. „Eine super Schrank“, sagt Tomas.<br />
Er hat ihn in einem Busch versteckt<br />
und zusammen mit den „~“-Mitarbeitern<br />
abgeholt. „Das war glücklich“,<br />
sagt Tomas. Eine Ausbildung hat<br />
der Slowake nicht, seine Familie sei<br />
sehr arm, sagt Tomas. Das<br />
Universitätsgebäude in Münster gefällt<br />
ihm. Tomas erzählt, dass er auch gerne<br />
etwas studieren würde. Er glaubt aber<br />
nicht daran, es jemals zu dürfen. Der<br />
Verkauf unserer Straßenzeitung<br />
„~“ hilft Tomas jetzt dabei ein Zimmer<br />
zu mieten, er besitzt einen super<br />
Schrank, Arbeit und „viele Freunde“, wie<br />
er sagt. Außerdem spielt er in der Abwehr<br />
des „~“-Fußballteams. Für<br />
2010 wünscht er sich, dass er weiter verkaufen<br />
darf. „Ich glaube 2010 wird noch<br />
besser!“, sagt Tomas. Und wenn man<br />
fragt, warum, dann zuckt er mit den<br />
Schultern. Er glaube es halt. Tomas hat<br />
jetzt keine Zeit mehr, er will wieder zum<br />
Bohlweg. Mit dem Gemüsehändler dort<br />
versteht er sich gut. Manchmal schenkt er<br />
ihm Lebensmittel. Wenn Tomas eine Arbeitserlaubnis<br />
bekommen würde, dann<br />
würde ihm der Gemüsehändler Arbeit geben,<br />
sagt Tomas. Und wenn der wortkarge<br />
Verkäufer davon erzählt, dann leuchten<br />
seine Augen hinter der dicken Glas-<br />
Anzeige<br />
11
12<br />
Text:Eduard Lüning | Illustration: Thorsten Enning<br />
Sternstunden<br />
In memoriam Dominik B.<br />
Qu´est-ce que c´est, mon dieu?? Alt, antik<br />
und altbekannt und jeder Willi weiß, er<br />
weiß - weise, weiser, Volkes Mund!<br />
Sternstunde... eine unbeschriebene, ungeschriebene<br />
Weisheit, hoch über den<br />
Wolken? Grenzenlose, göttliche Fügung?<br />
Eingebung? Legende? Oder nur mehr<br />
Sahnehäubchen, i-Tüpfelchen und schicke,<br />
lichte Momente??? Der Brockhaus<br />
schweigt sich über eben jene Stunde sattsam<br />
aus. Klammert sie klammheimlich<br />
aus. Wie anderes auch. Sternentwicklung,<br />
Sternentfernung, Sternholze, Sternkaktus,<br />
Sternhaufen… Wir erfahren viel,<br />
sehr viel sogar! Sternschnuppen, Sternsteine,<br />
Sternzeichen, Sternzeiten, Sterntage…<br />
Kosmisch viel erfahren wir. Zu viel!<br />
Lauter böhmische Dörfer!! Wenn sie, die<br />
Sternstunde, denn nun aber kaum beschrieben<br />
ist, gibt es sie dann überhaupt?<br />
Und wann und wo kommt sie wohl vor?<br />
Oder ist denn alles ohnehin schon klar<br />
- sternenklar? Scheint doch eine seltsam<br />
besondere Stunde zu sein. Weit, weit<br />
weg, schier unerreichbar und unfassbar.<br />
Und nur eine Stunde lang kurz! Eine<br />
schöne Stunde? Oder einfach nur bemerkenswert?<br />
Merkwürdig... Scheint alles<br />
in den Sternen zu steh´n. Allein ich<br />
seh´ sie, diese Stunde nicht. Scheint wohl<br />
doch nicht so viel drinzusteh´n... Juli diesen<br />
Jahres: Buch-Publikation... ein Doppelpack!<br />
16. Juli - ein Prosaband, ein<br />
Lyrikband.<br />
_'Blätterwaldperlen..., na warte!' Eine<br />
Sternstunde? Allein ich fass´ und fühl´ sie<br />
nicht. Bücher schreiben, publizieren, das,<br />
das steckt doch einfach in mir drin, wie<br />
in Dir der Feuerwehrmann, Architekt<br />
oder Installateur... Berge besteigen, Weiber<br />
besteigen… Rekorde knacken, Bestmarken<br />
brechen und dusende Duftmarken<br />
setzen. Ein Medizinerleben lang den<br />
Tod besiegen... <strong>Sie</strong>gen, siegen und besiegen!!<br />
Alles Sternstunden oder was?!<br />
Alles relativ, sagt das Auge des Betrach-<br />
ters. Hmmhh, kann, ja, kann sie denn,<br />
mein Gott, nicht sonst wo noch sein,<br />
diese sternstündige Fee? Hinter den sieben<br />
Bergen? Am Fuße der steinernen<br />
Riesen?? München, Tatort S-Bahnsteig.<br />
September eleventh - the day after…<br />
2009! Dominik wurde nur 50 Jahre alt.<br />
An seiner Gruft klebt nun Blut, ein blutiger<br />
Orden - das Bundesverdienstkreuz.<br />
Posthum!<br />
_Dominik hat sich randalierenden Jugendlichen<br />
in den Weg gestellt, um gefährdete<br />
Kinder vor den Schlägern zu<br />
schützen. Und sich dafür tottreten lassen.<br />
Unfassbar! Eine Sternstunde für die<br />
Schwächeren - Sterntalernacht! Ein geschenktes<br />
Leben, zwei Mörder und ein<br />
Märtyrertod. Eine unbändige Courage -<br />
Zivilcourage!! <strong>Sie</strong> schreit nach weiteren<br />
Sternstunden... und schreit den 17 Christenmenschen<br />
zu, nicht länger untätig am<br />
S-Bahnsteig zu steh´n und das verblutende<br />
Leben eines Sterbenden zu begaffen.<br />
_Dominik - einer von vielen. Sein Tod<br />
hat mir mein Leben näher gebracht: die<br />
Grenzen... die Menschen... und die<br />
Stunden - Sternstunden!! Nur zu gut und<br />
gar sehr oft erleb´ ich sie heut´, wenn<br />
ich denn nur gut genug hinseh´. Und<br />
wenn mich Dominik eines gelehrt hat,<br />
dann ein wenig mehr Mut. Zivilcourage,<br />
eine minimale Dosis nur, mein Gott.<br />
Mitten im Leben und nicht erst danach.<br />
Eine klitzkleine Prise Puder nur und lauter<br />
leise Stunden, du. Sternstunden!<br />
Lauter kleine Momente, hier und heute<br />
- unter uns. #
Bericht | Text : Christine Klatt | Foto: Sigi Nasner<br />
About Mike<br />
Harte Schale, weicher Kern<br />
Mike ist 34 Jahre alt und ein großer,<br />
kräftiger Kerl, der mit seinem Lächeln<br />
sparsam umgeht. Er hat eine steile Karriere<br />
hinter sich, die leider krimineller<br />
Natur ist. In einem Gespräch erzählt er<br />
~-Autorin Christine Klatt die Erlebnisse,<br />
die sein Leben in den letzten<br />
20 Jahren geprägt haben.<br />
_“Die Gesellschaft gibt mir das Gefühl,<br />
dass sie mich nicht braucht. Ich aber<br />
brauche noch eine Chance von ihr“, sagt<br />
Mike. Es kommt einem so vor, als habe<br />
er eine Wand zwischen den Geschehnissen<br />
der Vergangenheit und seinen Emotionen<br />
gezogen. Er betont immer wieder, dass<br />
er zu einem großen Teil selbst schuld an<br />
seiner jetzigen Situation ist. Mit Sicherheit<br />
ist es nicht leicht, so schonungslos offen<br />
mit einem Leben umzugehen, das wohl<br />
bei den meisten Menschen auf Unverständnis<br />
und Ablehnung stößt. Wer spricht<br />
in unserer Leistungsgesellschaft schon<br />
gern über Misserfolg und Scheitern. Aber<br />
Mike traut sich.<br />
_Mike ist in Coerde aufgewachsen. Über<br />
Kindheit und Familienleben möchte er<br />
nicht sprechen. Im Alter von 14,15 Jahren<br />
beginnt er zu trinken und prügelt sich.<br />
Mit 16 bekommt er einen Ausbildungsplatz.<br />
Die Ausbildung bricht er nach eineinhalb<br />
Jahren ab. Von jetzt an geht es<br />
steil bergab. Diebstähle, Körperverletzungen,<br />
Drogenkonsum. Mike sagt, er wusste<br />
mit seiner Zeit einfach nichts anzufangen.<br />
Keine Hobbys, keine Menschen,<br />
die ihn aufhalten. Mit 19 fliegt er aus dem<br />
Elternhaus, weil der Gerichtsvollzieher<br />
vor der Tür steht. Er zieht in ein betreutes<br />
Wohnen in der Tibusstraße und beginnt<br />
mit Drogen zu handeln. Dann lernt<br />
er ein Mädchen kennen, wird ruhiger. Er<br />
sieht wieder einen Sinn in seinem Leben.<br />
Doch die Beziehung zerbricht, kurz nachdem<br />
sie zusammengezogen sind. Danach<br />
irgendwann wird er obdachlos. Er gerät<br />
in die Technoszene. Er feiert jeden Tag<br />
und macht gleichzeitig Geschäfte mit<br />
Drogen, um seinen eigenen Konsum finanzieren<br />
zu können. Dann kommt seine<br />
Zeit in der rechten Szene. Unter anderem<br />
der Zusammenhalt in der Gruppe<br />
zieht ihn an. Mike wird wegen Volksverhetzung<br />
inhaftiert, nach mehreren<br />
Monaten kommt er wieder heraus. Nach<br />
exzessivem Drogenkonsum versucht Mike<br />
schließlich, sich helfen zu lassen. Mit 25<br />
Jahren macht er eine Entgiftung. Dann<br />
kommt er wieder in Haft, für ein Jahr,<br />
wegen Körperverletzung. Er beginnt<br />
weitere Therapien, die er aber immer<br />
wieder abbricht. Mike versucht schließlich,<br />
sich umzubringen.<br />
_2005 beginnt er, als Veranstaltungstechniker<br />
zu arbeiten. Der Job macht<br />
ihm Spaß, sein Traumjob, wie er sagt.<br />
Und er lernt seine Freundin auf einer<br />
Technoparty kennen. Er zieht mit ihr<br />
zusammen. Auch seine Drogenprobleme<br />
bekommt er langsam in den Griff. Alles<br />
scheint in eine gute Richtung zu laufen.<br />
Aber dann plötzlich bekommt Mike die<br />
Hiobsbotschaft: Seine Bandscheibe ist<br />
kaputt. Er wird nie wieder körperlich<br />
hart arbeiten können. Sicherlich ist das<br />
auch eine Folge seines bisherigen Lebensstils.<br />
Das Problem: Für all die Jobs,<br />
die er bisher gemacht hat, brauchte er<br />
seine kräftige Statur mit einem gesunden<br />
Rücken.<br />
_Bis heute ist das sein Problem. Seine<br />
Freundin arbeitet jeden Tag und Mike<br />
weiß nicht, was er die langen fünf Tage<br />
in der Woche allein machen soll. Er will<br />
arbeiten, er will sich seinen Lebensunterhalt<br />
selbst verdienen und nicht mehr<br />
weiter auf Kosten des Steuerzahlers leben.<br />
Er sagt, er fühlt sich in unserer Gesellschaft<br />
wertlos ohne einen Arbeitsplatz.<br />
_Zur Zeit ist er jeden Tag in den Räumen<br />
der draußen anzutreffen. Er arbeitet<br />
Sozialstunden ab. Er macht Botengänge,<br />
gibt Zeitungen aus. Eine Chance hätte er<br />
gerne noch. Und wem würde es etwas<br />
bringen, ihm diese Chance zu verwehren?<br />
#<br />
Für Bürotätigkeiten oder leichte körperliche<br />
Arbeiten ist Mike auf jeden Fall<br />
einsetzbar. Wer ihm helfen möchte und<br />
kann, melde sich doch bitte bei ihm<br />
unter der Nummer 0176/29590425<br />
Diese Seite wurde gesponsert vom Zoodirektor Jörg Adler<br />
13
14<br />
Bericht | Text: Michael Heß | Foto: Sigi Nasner<br />
Wohnungsräumungen in Münster<br />
Rechtslage beachten - Hilfeangebote annehmen!<br />
Seit Herbst 2008 ist das Wort „Krise“<br />
wieder einmal geläufig. Zugleich steigen<br />
nicht nur in Münster die Anzahl der<br />
Räumungen und Klagen. Der Zusammenhang<br />
scheint deutlich, aber ist das<br />
wirklich so? Grund genug für ~-<br />
Autor Michael Heß, die Entwicklung in<br />
Münster näher zu betrachten.<br />
_Die Zahlen sprechen zunächst für sich:<br />
Gab es 2008 noch 239 Räumungsklagen,<br />
sind es bis Mitte Dezember 2009 schon<br />
310, bis zum Ende des Jahres voraussichtlich<br />
324 Klagen. Ein Anstieg binnen eines<br />
Jahres um 74Prozent. Ähnlich sieht es<br />
bei den Räumungsterminen aus. Standen<br />
2008 noch 159 solcher Termine an, werden<br />
es 2009 schon 228 sein, ein Plus von<br />
69Prozent. Der Befund scheint klar, bei<br />
der Stadt Münster teilt man ihn dennoch<br />
nicht. Sachkundig erläutert mit Herbert<br />
Berkemeier, der Fachstellenleiter Wohnungslosigkeit<br />
im Sozialamt, das Zahlenwerk<br />
und leuchtet den Hintergrund der<br />
Entwicklung aus. Zuvor weist er aber auf<br />
einen anderen Aspekt hin.<br />
_Anfang Dezember trafen sich die entsprechenden<br />
Fachstellenleiter vieler<br />
Städte in NRW. Während der Tagung wurden<br />
die Zahlen diverser Städte verglichen,<br />
auf die Einwohnerzahl umgerechnet und<br />
so weiter. Im Ergebnis dieses Vergleichs<br />
unter Fachleuten gebraucht Berkemeier<br />
für die Situation in Münster überspitzt<br />
den Begriff einer „Oase der Glückseligkeit“.<br />
Verglichen mit der Situation anderswo,<br />
wobei es für den Vergleich nicht<br />
so sehr auf die absolute Anzahl der Wohnungslosen<br />
ankommt, sondern auf deren<br />
Anteil an der gesamten Einwohnerzahl.<br />
So gesehen, schlägt Münster selbst<br />
kleinere Städte. Allerdings weist Berkemeier<br />
auch auf die periodischen Schwankungen<br />
der Zahl der Betroffenen hin.<br />
Und: „Der Ausschlag ist in den letzten<br />
Jahren erheblicher geworden.“ Im Hintergrund<br />
muss es also doch ein auslösendes<br />
Moment geben.<br />
_Die Erklärung lautet: schnellere Durchsetzung<br />
der geltenden Rechtslage. Dazu<br />
ist ein Blick ins Bürgerliche Gesetzbuch<br />
(BGB) erforderlich, seit 110 Jahren Grund-<br />
lage unserer Rechtsordnung. Und zwar<br />
in den Paragrafen 542, der seitdem unmissverständlich<br />
formuliert: Wer mit<br />
mehr als zwei Monatsmieten im Rückstand<br />
ist, dem kann fristlos gekündigt<br />
werden. Und genau das passierte 2009<br />
sehr viel öfter als in den Jahren zuvor.<br />
Anders formuliert: Die Langmut der Vermieter<br />
ist erheblich kürzer geworden.<br />
Eine Entwicklung, die man auch beim<br />
Vermieterverband Haus & Grund beobachtet.<br />
Wo früher sieben, acht Mieten<br />
als Rückstand aufliefen und drei, vier<br />
Mahnungen des Vermieters, wird heute<br />
schneller zum Amtsgericht gegangen. Ein<br />
gesteigertes Renditedenken der Vermieter,<br />
übrigens auch der Wohnbaugesellschaften,<br />
sowie die geringe Leerstandsquote<br />
von derzeit drei bis fünf Prozent<br />
bewirken das veränderte Verhalten der<br />
Vermieter. Leer gezogener Wohnraum<br />
lässt sich problemlos wieder vermieten.<br />
_Auf noch einen kritischen Punkt weisen<br />
Berkemeier und Haus & Grund hin:<br />
das Verhalten der Betroffenen in spe.<br />
Wer die Hilfeleistungen der Stadt im<br />
Vorfeld der Räumung ignoriert, Mahnbriefe<br />
ungeöffnet lässt und nichts tut,<br />
das drohende Unheil abzuwenden, dem<br />
ist nicht zu helfen. So gut wie jeder<br />
Räumungstermin könnte vermieden<br />
werden. Kommt es aber erst einmal so<br />
weit, hat die Räumung eben auch eine<br />
lange Vorgeschichte aus Passivität, verpassten<br />
Gelegenheiten und Ignoranz.<br />
„Miete ist Miete und Auto und Urlaub<br />
sind etwas anderes“, umreißt Haus &<br />
Grund-Geschäftsführer Rolf Elsner das<br />
Problem im Denken vieler Betroffener in<br />
spe. Erfolgreiche Hilfe ist nur im Dreiklang<br />
aus Sozialamt, Hilfeeinrichtungen<br />
bzw. deren Sozialarbeitern und den Betroffenen<br />
selbst möglich.<br />
_Deutlich verschieden gestaltet sich das<br />
weitere Schicksal der Betroffenen. Nach<br />
Kenntnis der Stadt gibt es etwa 350<br />
wohnungslose Alleinstehende beider<br />
Geschlechter. Für diese Personen gibt es<br />
ca. 400 Plätze in Einrichtungen wie<br />
dem Haus der Wohnungslosenhilfe (für<br />
Männer), dem Gertrudenhaus (für Frauen),<br />
dem Hach-Projekt und anderen.<br />
Familien, erst recht mit Kindern, werden<br />
dagegen städtische Wohnungen zugewiesen,<br />
um eine Stigmatisierung zu<br />
vermeiden und auf ein geordnetes Leben<br />
hinarbeiten zu können. Dazu gehört vor<br />
allem die regelmäßige Mietzahlung, die<br />
unter Umständen auch von der Stadt<br />
übernommen wird. „Das ist heute in aller<br />
Regel ein Darlehen“, stellt Berkemeier<br />
klar und weist im Gegenzug auf die moderaten<br />
Rückzahlungen hin. Es sei ja<br />
niemandem damit geholfen, eine neue<br />
Schuldnerbaustelle aufzumachen. Im Dezember<br />
2009 sind in Münster insgesamt<br />
534 Personen in Wohnungen untergebracht,<br />
die Hälfte davon Kinder.<br />
_Fazit: Für die Entwicklung ist die Krise<br />
nur indirekt verantwortlich. Vielmehr<br />
bewirken das veränderte Verhalten der<br />
Vermieter sowie die Ökonomisierung des<br />
Denkens den Anstieg der Zahl der Betroffenen.<br />
Das diese durch ihr Verhalten<br />
das Ende oftmals beschleunigen, steht<br />
auf einem anderen Blatt. #
Bericht | Text und Foto 1: Hanna Stanke | Foto 2: beta.greenaction.de<br />
‘Hope’nhagen<br />
Klimagipfel hautnah<br />
14 Studierende der Universität Münster<br />
sind vom 11.-13. Dezember nach Kopenhagen<br />
gereist, um den UN-Klimagipfel<br />
kritisch zu begleiten. Im Rahmen der<br />
Studenteninitiative „Wirtschaft und Umwelt“<br />
beschäftigen sie sich auch sonst<br />
mit ökologischen Themen und organisieren<br />
Vorträge und Aktionen in Münster.<br />
In der draußen! berichten sie von ihren<br />
Erlebnissen in Kopenhagen.<br />
_Die derzeit dringlichste ökologische<br />
Herausforderung ist die Verlangsamung<br />
des Klimawandels und der Umgang mit<br />
den jetzt schon nicht mehr vermeidbaren<br />
Folgen. Nachdem alle bisher auf internationaler<br />
Ebene beschlossenen Maßnahmen<br />
keine nennenswerte Verbesserung<br />
gebracht haben, wird der Klimagipfel<br />
in Kopenhagen von vielen als die<br />
letzte Chance angesehen, die globalen<br />
Treibhausgasemissionen auf ein verträgliches<br />
Maß zu reduzieren.<br />
_Neben den offiziellen Verhandlungen<br />
im Bella Center, dem außerhalb des Stadtzentrums<br />
gelegenen und stark abgeriegelten<br />
Kongressgebäude, findet für Teilnehmer<br />
aus aller Welt das „Klimaforum<br />
09“ statt. Hier gibt es ein vielfältiges<br />
Programm aus Vorträgen, Diskussionen,<br />
Workshops und Ausstellungen - jeder<br />
kann sich beteiligen und seine Ideen und<br />
Ansichten zum Klimawandel einbringen.<br />
Zur Mitte des Gipfels finden am Samstag,<br />
den 12. Dezember, die größten Demonstrationen<br />
statt, um Druck auf die Delegierten<br />
auszuüben, ein faires und verbindliches<br />
Abkommen zu verabschieden.<br />
Die erste Demonstration ist eine vom<br />
BUND organisierte Flutwelle: Alle bekommen<br />
blaue Ponchos, es laufen La-Ola-<br />
Wellen durch die Menge, ein Mann surft<br />
im Schlauchboot über die Menschenflut.<br />
Wir haben Glück, die Sonne kommt hinter<br />
den Wolken hervor und bleibt uns den<br />
ganzen Tag treu. Die Stimmung ist gut,<br />
eine Sambatruppe trommelt uns voran<br />
zum Slottsplads, wo der zweite große<br />
Demonstrationszug wenig später startet.<br />
Insgesamt versammeln sich über 50.000<br />
Menschen, um gemeinsam friedlich durch<br />
Kopenhagen zu ziehen und für Klima-<br />
gerechtigkeit einzutreten. Auf den ersten<br />
Blick mag das eine Menge sein, im Anbetracht<br />
der Relevanz des Themas finden<br />
wir es allerdings zu wenig - allein die<br />
Loveparade zieht regelmäßig über eine<br />
Millionen Besucher an. Wir haben uns<br />
als Pinguine und Eisbären verkleidet und<br />
tragen fleißig die Banner, die wir in Münster<br />
gemalt haben. Eines zeigt Merkel,<br />
Obama und Rudd, die nach dem Vorbild<br />
der drei Affen „nichts sehen, nichts hören,<br />
nichts sagen“. Das andere deklamiert<br />
„Welt-Badetag 2050“ in Anspielung auf<br />
den folgenreichen Anstieg des Meeresspiegels.<br />
Auch Deutschland wird davon<br />
betroffen sein.<br />
_Schaut man sich um, sieht man die unterschiedlichsten<br />
Teilnehmer: Dänische<br />
Familien mit Kinderwagen, politische<br />
Lager, Organisationen wie Greenpeace<br />
und WWF, Vereinigungen und Initiativen…<br />
Die meisten sind verkleidet und tragen<br />
Plakate. Der lange Zug marschiert, bis es<br />
dunkel wird. Von den knapp tausend<br />
Verhaftungen bekommen wir nichts mit,<br />
obwohl die Medien sich natürlich auf<br />
diese Bilder stürzen - der Großteil der<br />
Demo verläuft sehr friedlich.<br />
_Am Endpunkt in der Nähe des Kongresszentrums<br />
angelangt gibt es einige Reden,<br />
aber leider keinen heißen Tee - Dänemark<br />
ist ganz schön kalt, wie wir zu spüren<br />
bekommen. Vom Abschluss der Demonstration<br />
hatten wir uns etwas mehr<br />
erhofft. „Mehr Input und etwas weniger<br />
Show hätte der Veranstaltung gutgetan“,<br />
meint Dirk. Insgesamt aber sind wir alle<br />
zufrieden, denn wir haben gespürt, worauf<br />
es ankommt: Die Richtung stimmt,<br />
das Bewusstsein für den Klimawandel<br />
und seine Folgen wird immer stärker.<br />
Viele Menschen leben bereits bewusster<br />
und suchen Alternativen, von denen es<br />
immer mehr gibt. Gerade die junge Generation<br />
sieht die Einheit der Weltbevölkerung<br />
als Schlüssel zum Klimaschutz.<br />
Denn nur gemeinsam kann das große<br />
Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu<br />
begrenzen, noch eingehalten werden.<br />
_An diesem Samstag waren wir Teil einer<br />
großen Bewegung, die gerade erst angefangen<br />
hat und deren Ziel nichts Geringeres<br />
als die Rettung der Welt ist. Auf<br />
der Rückfahrt denken wir noch lange darüber<br />
nach - es gibt viel zu tun, auch und<br />
gerade nach ‘Hope’nhagen“. #<br />
15
16<br />
Bericht | Text und Foto: Sigi Nasner<br />
Ne Kiste Bier und dann reflektieren<br />
Interview mit Stefan Stoppok<br />
Die Welt der Musikindustrie ist eiskalt<br />
und nicht für Individualisten. Die Produzenten<br />
der großen Plattenfirmen nötigen<br />
die Musiker, ihre Songs so umzuschreiben,<br />
dass sie bei der breiten Masse<br />
auch gut verkauft werden können. Letztendlich<br />
geht es dabei nur um „das grosse<br />
Geld“. Stefan Stoppok, etlichen Münsteranern<br />
bestimmt von Auftritten auf<br />
dem Stadtfest und dem Jovel bekannt,<br />
ist da eine Ausnahme, denn er lässt sich<br />
nicht von den großen Geld-Machern vereinnahmen.<br />
Am 6. Dezember stellte er<br />
seine neue CD „Grundblues“auf seiner<br />
aktuellen Tour im Cineplex vor, ein Gemeinschaftsprojekt<br />
von ihm und seinem<br />
Bassisten Reggie Worthy. Sigi Nasner<br />
sprach mit dem Blues-Barden.<br />
~: Hallo Stefan. Es heißt, dass ein<br />
Musikprofessor zu dir einmal gesagt haben<br />
soll, dass du besser die Finger von der<br />
Musik lassen solltest. Was ist an der Geschichte<br />
dran?<br />
Stoppok: Die Geschichte stimmt. Ich habe<br />
mich bei der Musikhochschule vorgestellt<br />
und wollte klassische Gitarre studieren<br />
und ich dachte ganz naiv, ich spiel dem<br />
Professor da mal was vor. So Country- und<br />
Folk-Sachen, und Finger-Picking. Der<br />
Mann hat schon Pickel gekriegt, als er<br />
meine Gitarre nur gesehen hat. Auf jeden<br />
Fall hat der mich danach zur Schnecke<br />
gemacht und gesagt, ich wäre völlig unmusikalisch<br />
und hat mich dann rausgeschmissen.<br />
~: Deine erste Gitarre hattest du<br />
mit 12 Jahren, heißt es, wie ging's dann<br />
weiter. Wann kam die Idee, Profi zu werden.<br />
Stoppok: Profi werden, das hatte ich gar<br />
nicht so <strong>richtig</strong> vor. Ich hab ab meinem<br />
zwölften Lebensjahr einfach immer nur<br />
Gitarre gespielt. Nichts mehr für die Schule<br />
gemacht. Eigentlich wurde das ganz<br />
schnell klar mit der Musik. Ich war zwar<br />
noch auf der Fachhochschule für Sozialpädagogik,<br />
bin dann aber mit 18 los und<br />
hab Straßenmusik gemacht.<br />
~: Wie war das so in deiner Zeit auf<br />
der Straße?<br />
Stoppok: Das war so Mitte der siebziger<br />
Jahre im Süden, in Italien, Frankreich<br />
und Spanien und so. Da waren einfach<br />
sehr viele Freaks unterwegs und das<br />
mischte sich mit den wirklich gestrandeten<br />
Leuten. Das hatte einen romantischeren<br />
Touch als heute. Man half sich<br />
noch gegenseitig.<br />
~: Es heißt, du bist eingefleischter<br />
Jimi Hendrix-Fan. Gibt es da noch weitere<br />
Musiker, die Orientierungspunkte für<br />
dich darstellen?<br />
Stoppok: Ja, es gibt da von der Folk-<br />
Musik einen Typen, der erst vor kurzem<br />
verstorben ist: John Martin. Der war für<br />
mich irgendwie ein absoluter Held. Der<br />
hat auch dieses Finger-Picking- Style<br />
erfunden hat.<br />
~: Du hast musikalisch immer dein<br />
eigenes Ding gemacht, wolltest dich nie<br />
von der Musikindustrie vereinnahmen<br />
lassen. Bist du nicht doch mal in Versuchung<br />
gekommen, das „große Geld“<br />
zu kassieren?<br />
Stoppok: Bin ich schon. In den 80ern war<br />
das. Da gibt es so ein furchtbares Cover:<br />
„Nie genug“ heißt die Platte, 1985 ist die<br />
rausgekommen. Das hat mich gereizt<br />
und ich hatte viele Angebote. Dann hab<br />
ich aber sofort wieder die Finger davon<br />
gelassen, weil das nicht mein Leben war,<br />
dieses Sich-Vermarkten-Lassen. Und<br />
überhaupt mit so Leuten, die da in dem<br />
Business sind. Das ist grauenvoll. Da<br />
konnte ich nicht mit klar kommen.<br />
~: Wie kam es zu der Zusammenarbeit<br />
mit Christof Stein-Schneider von 'Fury<br />
in the Slaughterhouse'?<br />
Stoppok: Der Christof war zu Anfang der<br />
90er verheiratet mit Ute Elke Schneider,<br />
die zu dem Zeitpunkt mein Management<br />
gemacht hat. So kam das eigentlich. Und<br />
dann haben wir zusammen die Plattenfirma<br />
gegründet Ende der 90er.<br />
~: Deine Texte sind aus dem Leben<br />
gegriffen, sie sind sehr authentisch. Wie<br />
kommst du zu deinen musikalischen<br />
Ideen?<br />
Stoppok: Ne Kiste Bier und dann reflektieren<br />
(lacht). Oder ganz simpel, wie bei<br />
meinen Song „Mein Freund der Kühlschrank“.<br />
Da haben wir uns zusammengesetzt,<br />
mein Freund Bernie und ich. Wir<br />
wollten gerade anfangen, was zu machen,<br />
und er sagt: Hol doch mal ein Bier aus<br />
dem Kühlschrank. Ich geh zum Kühlschrank<br />
und das Bier war warm, der<br />
Kühlschrank war im Arsch. Und so ist der<br />
Song dann entstanden.<br />
~: Du hast zum Beispiel auch mal<br />
eine Platte rausgebracht mit dem Titel<br />
„Haste mal 'ne Mark?“. Wie kam das?<br />
Stoppok: Das kam durch Günnie Semmler,<br />
der hat, glaube ich, zwanzig Jahre Platte<br />
gemacht und hat wirklich die schlimmsten<br />
Erlebnisse gehabt. Er war zu dem<br />
Zeitpunkt schon so Mitte 60, wie ich den<br />
kennen gelernt habe. Der ist immer von<br />
Kneipe zu Kneipe gezogen mit seinem<br />
Akkordeon. War in vielen Schlägereien<br />
auf der Straße verwickelt. Hat sich dann<br />
wieder bekrabbelt und über eine evangelische<br />
Kirchengemeinde ein Zimmer<br />
gekriegt. Das war auch ganz rührig: Der<br />
hat so'n Kumpel am Bahnhof gehabt, der<br />
Platte gemacht hat. Den hat er dann<br />
immer auf seiner kleinen Pritsche da<br />
schlafen lassen. Hat den auch oft zu Konzerten<br />
mitgebracht. Der Typ, der Günnie,<br />
mit dem hatten wir einen Song gemacht,<br />
da hat er einfach so frei improvisiert und<br />
hat dann auch manchmal gesagt: „Eh,<br />
haste mal 'ne Mark“. Und so ist das gekommen<br />
mit dem Titel für die Platte.<br />
~. Mit Reggie Worthy hast du ja<br />
einen Mann an deiner Seite, der schon<br />
bei Ike & Tina Turner Bass gespielt hat.<br />
Wie habt ihr euch eigentlich kennen<br />
gelernt?<br />
Stoppok: Den hab ich Anfang der 90er<br />
bei 'ner Studiosession kennen gelernt.<br />
Seit '95 arbeiten wir zusammen. Für mich
ist er eigentlich hier in Deutschland der<br />
beste Bassist, der hier rumläuft.<br />
~: Du bist ja auch über deutsche<br />
Landesgrenzen hinweg aktiv. Wie kam es<br />
zum Beispiel zu der Zusammenarbeit<br />
mit den Leuten aus Kalkutta?<br />
Stoppok: Das ging über 'ne Connection<br />
in Köln, die haben eine ziemlich große<br />
Weltmusikszene da. Da sind die Inder<br />
mal gestrandet aus irgendeinem Grund.<br />
Und da hat ein Typ mit denen den Song<br />
von mir, „Wetterprophet“ aufgenommen<br />
und mir geschickt. Das fand ich<br />
großartig. Seitdem bin ich seit ein paar<br />
Jahren jetzt schon mit denen zugange.<br />
Jetzt vor kurzem erst, im November, ist<br />
'ne CD von denen in Indien erschienen,<br />
wo ein Stück von mir drauf ist: „Nur ein<br />
Herz“, auf Englisch. Wo ich das erste Mal<br />
in Englisch singe, mit denen zusammen.<br />
Und ich werde auch nächstes Jahr mit<br />
ihnen zusammen in Indien touren. Da<br />
ist 'ne entspannende Sache.<br />
~: Wie kommt es zu dem enormen<br />
Verschleiß von Drummern in deiner Band?<br />
Stoppok: Ich war nie so <strong>richtig</strong> zufrieden.<br />
Aber jetzt mit Benny Greb, das ist eigentlich<br />
kaum zu toppen.<br />
~: Auch für Film und Theater zeigst<br />
du Interesse. Stichwort: Theaterspektakel<br />
von Lutz Gotter. Muss man irgendwann<br />
damit rechnen, dass du das Lager wechselst<br />
und zum Schauspieler umsattelst?<br />
Stoppok: Ne, ne! Mit Film hab ich immer<br />
mal zwischendurch was gemacht. Das ist<br />
aber nicht mein Metier. Alle Jubeljahre<br />
mal, absolut nur nebenher. Für mich<br />
bleibt die Musikbühne Nummer Eins.<br />
~: Du sollst einmal gesagt haben:<br />
„Solange ich eine Gitarre halten und singen<br />
kann, werde ich nicht verhungern.“<br />
Stell dir mal vor, dir versagt irgendwann<br />
die Stimme oder du bekommst Arthritis<br />
und Fingergelenke wie Keith Richards.<br />
Was dann?<br />
Stoppok: Da denk ich<br />
wirklich nicht drüber<br />
nach, das kennst du<br />
ja selber: Man ist auf<br />
der Strasse, wir machen,<br />
wir gehen zu<br />
den Leuten, wir machen<br />
die ganze Medienscheiße<br />
mit, wir<br />
reißen uns den Arsch<br />
auf. Da darfst du<br />
nicht drüber nachdenken.<br />
Dann verlierst<br />
du den Spaß.<br />
Und ich mein, bisher<br />
hab ich absolut Glück.<br />
~: Du hast schon einige Male in<br />
Münster gespielt. Hast du einen besonderen<br />
Bezug zu Münster?<br />
Stoppok: Kann ich jetzt gar nicht sagen.<br />
Im Jovel hab ich in den 90er Jahren gespielt<br />
und auch auf später auf dem Stadtfest.<br />
Münster ist ja nicht weit vom Ruhrgebiet.<br />
Da bin ich in den 70er Jahren öfter<br />
mal hingefahren, weil viele vom<br />
Ruhrgebiet nach Münster gezogen sind.<br />
Das war ziemlich freakig und studentenmäßig.<br />
~: Ich habe dich immer so ein<br />
bisschen mit Hamburg in Verbindung<br />
gebracht.<br />
Stoppok: Ja, ich bin ja in Hamburg geboren<br />
und bin dann mit fünf, sechs Jahren<br />
von da weg ins Ruhrgebiet. Aber ich<br />
hab immer noch die ganze Verwandtschaft<br />
da. Mein Bezug ist noch sehr stark<br />
zu Hamburg.<br />
~: Warum bist du dann später vom<br />
Ruhrpott nach Bayern gegangen?<br />
Stoppok: Das ist ein familiärer Grund,<br />
weil ich einen Sohn da unten hab. Der<br />
ist noch aus einer anderen Beziehung<br />
und der wohnte da unten. Und da bin<br />
ich mit meiner neuen Beziehung da runtergezogen,<br />
um in seiner Nähe zu sein.<br />
~: Wie kam es zu der Idee, dass<br />
ihr die aktuelle CD, die ja offiziell erst im<br />
März auf den Markt kommt, vorerst nur<br />
bei euren Auftritten handsigniert verkaufen<br />
wollt?<br />
Stoppok: Den Entschluss haben wir wirklich<br />
spontan gefasst. Mit einer großen<br />
Firma könnte man sich das gar nicht<br />
leisten, das wäre gar nicht machbar in<br />
so kurzer Zeit. Alle Leute, die trotz der<br />
ganzen Schweinegrippesache noch zu<br />
Live-Konzerten gehen, das ist ein Dankeschön<br />
an die. Die CD verkaufen wir zu<br />
12 Euro, ich find das klasse. Das ist 'ne<br />
kleine Belohnung für uns und für die<br />
Leute die zu unseren Konzerten kommen.<br />
~: Was machst du eigentlich, wenn<br />
du grade mal keine Musik machst?<br />
Stoppok: Dann mache ich irgendwie im<br />
Garten rum oder fahre Fahrrad oder mache<br />
einfach mit der Familie irgendwas.<br />
~: Gibt es etwas, dass dir völlig<br />
gegen den Strich geht?<br />
Stoppok: Da hab ich einen Song drüber<br />
auf der neuen CD. Da geht's um aufgesetzte<br />
gute Laune. Überall, im Fernsehen,<br />
die ganzen Comedians, alle nur am<br />
Lachen und die wissen oft gar nicht, worüber<br />
sie lachen. Die haben schon so ein<br />
eingegrabenes Grinsen: He, alle gut<br />
drauf!? Diese aufgesetzte, beschissene<br />
Freundlichkeit, wo du merkst, da ist<br />
nichts hinter. Das finde ich so eiskalt.<br />
Das ist ja direkt verbunden mit Ignoranz,<br />
Dummheit und Blödheit. Das geht<br />
einem natürlich auf'n Sack.<br />
~: Und auf der anderen Seite,<br />
gibt's etwas, das dich besonders berührt?<br />
Stoppok: Ja, natürlich. Zum Beispiel<br />
diese Sachen mit den Indern. Wenn du<br />
mit Leuten, die zwölftausend Kilometer<br />
weit weg leben, wenn du mit denen<br />
intensive Momente erlebst, Musik, da<br />
bin ich immer kurz vorm Heulen. Und<br />
alles, wo Menschen wirklich zusammen<br />
kommen, in dieser beknackten, verrükkten<br />
Welt. Wo Seelen sich treffen und<br />
eine Verbundenheit spürbar ist.<br />
~: Wenn Stefan Stoppok drei Wünsche<br />
frei hätte, wie würden diese lauten?<br />
Stoppok: Da kann ich ganz klar sagen:<br />
Das es für mich mit der Musik so weiter<br />
geht. Also, das ich keine Arthritis kriege.<br />
Das ich gesund bleibe. Das meine<br />
Familie gesund bleibt. Und das es immer<br />
genug Menschen gibt, die wach genug<br />
sind, sich gute Sachen und auch fremdartige<br />
Sachen reinzuziehen. Und das die<br />
Leute nicht massenhaft verblöden.<br />
~: Danke für das Gespräch! #<br />
17
18<br />
Bericht | Text und Foto: Sigi Nasner<br />
„Er beschäftigte sich mit Zierfischzucht...“<br />
Zoodirektor Jörg Adler liest aus seiner Stasi-Akte<br />
„Was wisst ihr schon von unserem Leben?“<br />
titelte unlängst die Wochenzeitung<br />
'Die Zeit'. Ein kritischer Titel, der<br />
nicht auf den ersten Blick erkennen<br />
lässt, worum es eigentlich geht, wäre da<br />
nicht diese kleine, daumengroße DDR-<br />
Flagge und der unauffällige Schriftzug:<br />
„20 Jahre nach der Wende“. Mit Blick auf<br />
den Erscheinungszeitraum wird die Kritik<br />
deutlich. In den zwei Dekaden seit<br />
dem Mauerfall hat sich die Vorstellung<br />
einer westdeutschen Erfolgsgeschichte<br />
etabliert, die ein Schwarz-Weiß Bild von<br />
Rettern und Geretteten erzeugt. Höchste<br />
Zeit, dass uns mal jemand von „dem<br />
Leben der Anderen“ erzählt. Jörg Adler<br />
las in der Epiphaniusgemeinde aus seiner<br />
Stasiakte und erzählte von seinem<br />
Leben in der DDR. Marcel-Philipp Werdier<br />
berichtet für die ~.<br />
_Die Atmosphäre ist freundschaftlich. Die<br />
meisten kennen sich, Grüße werden über<br />
die Tische hinweg getauscht und nach und<br />
nach füllen sich auch noch die letzten leeren<br />
Plätze. Viele sind heute erschienen,<br />
um gemeinsam etwas zu essen, Kaffee zu<br />
trinken und sich anschließend in ihrer<br />
Aufmerksamkeit ganz auf eine Person zu<br />
konzentrieren. Eine Person, die in Münster<br />
einen hohen Bekanntheitsgrad genießt<br />
und die meist in einem anderen Zusammenhang<br />
genannt wird, nämlich dem<br />
Allwetterzoo. Jörg Adler ist dessen Direktor<br />
und das schon seit 15 Jahren. Doch geht<br />
man in der Vergangenheit noch ein paar<br />
Jahre weiter zurück, in ein Kapitel der<br />
Geschichte, als es noch zwei Versionen<br />
eines deutschen Lebenslaufes gab, so<br />
sieht man, dass auch der „eingemünsterte“<br />
Zoodirektor einst zu den Deutschen<br />
gehörte, die 1989 in Scharen „rübermachten“.<br />
Doch halt! Formulieren wir<br />
nicht hier genau so, wie man es -<br />
betrachtet man einmal die<br />
Einzelschicksale- nicht tun sollte? Was<br />
wissen wir eigentlich von dem Leben in<br />
der DDR? War wirklich alles so schrecklich?<br />
Überwachte die Stasi jeden immer<br />
und überall?<br />
_Fragen, die nach Antworten verlangen.<br />
Einem Publikum, das gerne zuhört und<br />
jemandem, der sie zumindest aus eigener<br />
Erfahrung zu beantworten weiß. Nach ein<br />
paar warmen Worten des Gemeindepfarrers<br />
Hilge, wird aber zunächst einmal<br />
Mittag gegessen. Begleitet von angeregten<br />
Gesprächen servieren die freiwilligen<br />
Mitarbeiter Würstchen, Brote, Käse und<br />
anderen Aufschnitt, Cola und Wasser.<br />
Nachdem man sich über die wichtigsten<br />
Neuigkeiten ausgetauscht oder auch die<br />
ein oder andere neue Bekanntschaft gemacht<br />
hat, kehrt Ruhe ein. Pfarrer Hilge<br />
stellt sich neben das alte Holzklavier und<br />
richtet das Wort an seine Gäste. Freundlich<br />
erklärt der grauhaarige Mann mit dem<br />
bequemen, hellblauen Wollpullover, wie<br />
er auf die Idee kam den heutigen Gast<br />
einzuladen. Dieser habe sich auch nicht<br />
lange bitten lassen, wie er später selbst<br />
bestätigen wird. Aber bevor der Pfarrer<br />
die Bühne frei gibt, liest der Schutzherr<br />
der Gemeinde noch eine Geschichte vor.<br />
Eine Fabel über einen Zaren, seinen Bär<br />
und einen cleveren Priester. Mit Witz und<br />
Geschick vermag es dieser Priester, seinen<br />
Kopf, den er durch die blinde Wut des<br />
Fürsten verlieren soll, aus der Schlinge zu<br />
ziehen. Es ist eine Geschichte, die auf<br />
Hoffnung anspielt und auf Kraft, die in<br />
einer ruhigen und gelassenen Haltung<br />
liegt.<br />
_Ruhig und gelassen sind dann auch die<br />
Schritte, mit denen Jörg Adler den Platz<br />
auf der „Bühne“ einnimmt. Er wirkt nicht<br />
aufgesetzt oder nervös, vielmehr wie ein<br />
Bekannter, der sich bei einem geselligen<br />
Treffen zu einer Rede aufrafft. Mit freundlichen<br />
Worten bedankt er sich bei seinen<br />
gespannten Zuhörern für die Einladung<br />
und beginnt von seinem Leben zu erzählen.<br />
„Der Witz an der Geschichte ist…“<br />
eröffnet der 1946 in Leipzig geborene<br />
Tierpfleger seine Biographie „ich heiße<br />
Jörg Adler und bin […] in einer Tierklinik<br />
zur Welt gekommen.“ Er schwelgt kurz<br />
über die Jahre seiner Schulzeit, die er<br />
trotz seiner „Faulen-Lümmel- Mentalität<br />
schließlich erfolgreich mit dem Abitur abgeschlossen<br />
hat. Dann steigt er mit ein<br />
paar Worten zu Erich Honecker in die tiefere<br />
Thematik ein. Kritisch sei diese Figur<br />
zu sehen, auch wenn man in seiner Vor-<br />
Kalten Krieg Vergangenheit durchaus Engagement<br />
anerkennen müsse. Doch damals<br />
wie heute, spielten nach wie vor<br />
Beziehungen eine Rolle. Von unterster<br />
Schulebene bis hin in die unterschiedlichsten<br />
Bereiche. In der DDR waren es<br />
beispielsweise die Blockparteien, (SED,<br />
DBD, LDPD, NDPD und CDU). So bewahrte<br />
den damaligen Mitarbeiter des Leipziger<br />
Zoos vor der Mitgliedschaft in der SED nur<br />
der gescheite Einfall seines Chefs und ein
ückwirkend ausgefülltes Antragsformular,<br />
das ihn in die CDU aufnahm. Ein kurzes<br />
Scharmützel, wie es Adler beschreibt. Nach<br />
einem Jahr hatte sich das Thema Parteiarbeit<br />
für den 53-Jährigen erledigt. Für<br />
den Staat war die Angelegenheit Jörg Adler<br />
jedoch nicht ad acta gelegt. Im Gegenteil<br />
greift der Zoodirektor nun zu dem Papierpaket,<br />
das seither von Seiten der Staatssicherheit<br />
über ihn angelegt worden war.<br />
„Meine Stasiakte mit, sagen wir mal 280<br />
Seiten…. Das ist nicht viel“ schränkt er<br />
beschwichtigend ein. Andere Männer und<br />
Frauen, die damals Einsicht in ihre Stasiakte<br />
genommen hätten, hätten riesige<br />
Stapel vor sich gehabt, erzählt er gestikulierend.<br />
Das Publikum notiert es mit<br />
einem überraschten Raunen. „Die wussten<br />
alles!“, fährt der Erzähler nicht minder<br />
fasziniert fort. Die Kirchenaktivitäten<br />
des ehemaligen Leipzigers haben die Ermittler<br />
auf seine Fährte gebracht. Bei dem<br />
Aufbau einer neuen Gemeinde in einer<br />
der endlosen Plattenbausiedlungen -<br />
“die spannendsten und aufregendsten<br />
Jahre meines Lebens“-, sei man auf<br />
seinen evangelisch-lutherischen<br />
Glauben durch einen Autoaufkleber aufmerksam<br />
geworden, witzelt Adler. Doch<br />
trotz der vielen lustigen Protokolle,<br />
seien auch dramatische Momente in<br />
seiner Erinnerung. Und unter andächtigem<br />
Schweigen berichtet er von einem<br />
erschreckenden Erlebnis auf der<br />
Autobahn, wo der Überwachungsstaat<br />
seine rabiate Seite zeigte.<br />
_Doch schnell geht der Vortragende wieder<br />
in seine gewohnte und irgendwie<br />
stimmigere Art des lustigen Erzählens<br />
über. Das Auditorium applaudiert. Auch<br />
im weiteren Verlauf gelingt es dem mit<br />
Entertainerqualitäten ausgestatteten Zoodirektor<br />
sein Publikum in einem Wechsel<br />
zwischen Spannung und schönen Momenten,<br />
Ernstem und Lustigem an seinem<br />
Leben teilhaben zu lassen. „Er beschäftigte<br />
sich mit Zierfischzucht“, zitiert er die<br />
Akte amüsiert. „Dabei hatte ich auf dem<br />
Schreibtisch lediglich ein Aquarium mit<br />
ein paar Guppies.“ `Doch was sagt das<br />
über die Methoden der Stasi?´ lässt er die<br />
Frage offen im Raum stehen. Eine berechtigte<br />
Frage. Woher stammen all die<br />
Informationen? Die kritische Zwangsrekrutierung<br />
von Agenten kommt zur Sprache<br />
und den gespannten Zuhörern ist die<br />
Entrüstung anzumerken. Doch was entscheidend<br />
ist, ist die eigene Wahrnehmung,<br />
die erlebte Vergangenheit des sich<br />
sichtlich wohlfühlenden Jörg Adlers, der<br />
an diesem Nachmittag gern in dieser<br />
Gruppe von Menschen erzählt. Viele haben<br />
ihre Bezugspunkte von Gutem und<br />
Schlechtem, das sie erlebt haben, auch<br />
hier in diesem Publikum, schließt der<br />
Vortragende ab. Bei ihm sei alles glücklich<br />
verlaufen, erklärt er genügsam, für alle<br />
Anwesenden gibt es die Zuflucht in der<br />
Gemeinde aber trotzdem: „…gibt es viele<br />
Menschen, denen es noch schlechter geht<br />
[…] in der ganzen Welt.“<br />
_Nachdem sich Jörg Adler noch einmal für<br />
die Gelegenheit aus seinem Leben zu erzählen<br />
bedankt hat, gesellt er sich wieder<br />
unter die Leute. Der Nachmittag endet<br />
in freundlicher Plauderei. Geduldig<br />
beantwortet der Direktor die zahlreichen<br />
Fragen, mit denen sich die Interessierten<br />
an ihn wenden. <strong>Sie</strong> haben Fragen zur DDR,<br />
zur Stasi und auch zum Zoo. Und wenn<br />
man nach dieser alternativen Lesung aus<br />
einem sonderbaren Buch, noch einmal<br />
die Frage „Was wisst ihr schon von unserem<br />
Leben?“ stellt, so lautet die Antwort:<br />
„Jetzt etwas mehr.“ Es war fröhlich,<br />
traurig, dramatisch, leidenschaftlich,<br />
amüsant, prägend und ebenso wie<br />
eine westdeutsche Biographie<br />
bestimmt von Gutem und Schlechtem.<br />
Es war facettenreich und kein Schwarz-<br />
Weißes Bild! #<br />
Anzeige<br />
19
20<br />
Text: Renate Rave-Schneider<br />
Usedomer Zwiegespräche<br />
Kurzgeschichte<br />
Eine halbe Stunde bereits waren Wolf<br />
und ich auf unserer Wunschinsel Usedom.<br />
Wir atmeten erleichtert bei offenen<br />
Abteilfenstern tief durch, atmeten<br />
würzigen Kiefernduft und Seeluft ein.<br />
Bald würde der Seebäderexpress namens<br />
Mecklenburg-Vorpommern das Ziel unserer<br />
Reise, den Ahlbecker Bahnhof erreicht<br />
haben. Aus dem Fenster schauend<br />
sah ich sandige Waldwege, auf denen<br />
Wanderer und Mountainbiker unterwegs<br />
waren, ich sah krüppelige Kiefern<br />
und Spitzdachbungalows sowie<br />
Zeltplätze, Ortsschilder wie Karlshagen,<br />
Zinnowitz, Bansin, Heringsdorf, es konnte<br />
nicht mehr lange dauern. Seltsam<br />
vertraut war mir jetzt schon alles.<br />
_Wolf und ich nahmen uns vor, nach Belegung<br />
unseres Quartiers am Abend zur<br />
Ahlbecker Seebrücke zu spazieren, zu<br />
schnuppern und zu schauen und zu hoffen,<br />
die Sonne glutrot im Meer versinken<br />
zu sehen. Anschließend wollten wir ein<br />
Gläschen Wodka trinken, wollten es auf<br />
Gorbatschow erheben und dann wollte<br />
ich ihm, den ich wegen seiner Offenheit<br />
und Großzügigkeit immer geschätzt hatte,<br />
sagen: „Danke, Mikail! Ohne Dich, ohne<br />
Dein Möglichmachen von Glasnost & Perestroika,<br />
von Transparenz & Umgestaltung<br />
wären wir jetzt gar nicht hier. Du<br />
hast unter anderem bewirkt, dass die<br />
Mauer fiel, der Stacheldraht verschwand<br />
und die Tore sich öffneten. Dir bin ich<br />
dankbar, weil ich künftig schöne Orte im<br />
Osten Deutschlands sehen werde, die ich<br />
nur auf der Landkarte kannte und die für<br />
mich weiter entfernt lagen als Indien oder<br />
Feuerland!“ Wir waren zu müde und verschoben<br />
den Strand- und Seebrückenbummel<br />
auf den nächsten Tag. Dort hatte<br />
jemand in unserem geliehenen Strandkorb<br />
eine zerfledderte Ausgabe der Welt<br />
<strong>liegen</strong> lassen. „Du“, sagte ich aufgeregt:<br />
„Du, Wolf, stell Dir vor, unser Bundeskanzler<br />
Schröder war gestern auch hier.<br />
Er ist mit der Usedomer Bäderbahn von<br />
Koserow nach Ahlbeck gereist. „Warum<br />
fährt die nicht weiter nach Swinemünde<br />
oder noch viel weiter nach Polen hinein?“<br />
So wird er zitiert. Und dann soll er noch<br />
einen Fussmarsch bis zur polnischen<br />
Grenze von Ahlbeck aus gemacht haben.<br />
Natürlich alles medienwirksam!“ Wolf<br />
schmunzelte, ölte sich mit Sonnencreme<br />
ein, bearbeitete auch meinen Rücken<br />
damit. „Lass uns doch morgen auch nach<br />
Swinemünde fahren… per Dampfer!“,<br />
schlug er vor und ich war einverstanden.<br />
Vom Strandkorb aus sahen wir ein<br />
weißes Schiff, dem viele Leute entstiegen,<br />
das musste es sein.<br />
_Ich bemerkte, dass meine Beine brannten,<br />
sah nach Sonnenbrand aus. Es zog<br />
mich zum Wasser, in den Wellen kühlte<br />
ich meine krebsroten Waden. Und während<br />
ich von der Strandpromenade aus<br />
Unterhaltungsmusik wahrnahm, die rauchige<br />
Stimme eines Sängers und den Refrain<br />
„Möwen f<strong>liegen</strong> nicht in den Süden“,<br />
sichtete ich auf einem Pfahl direkt<br />
vor meiner Nasenspitze so einen fetten<br />
Wasservogel mit gelben Schnabel und<br />
gelben Augen. „Stimmt das? Fliegst Du<br />
nie in den Süden? Warum? Bist Du zu<br />
schwer und flügellahm? Bist Du ein<br />
Stand- und kein Zugvogel? Du scheinst<br />
Dich hier ja pudelwohl zu fühlen!“ Die<br />
Möwe starrte, so schien es mir, mit kühlem<br />
Blick durch mich hindurch. An einem<br />
der nächsten Tage habe ich auch mit den<br />
Seebrücken von Heringsdorf und Ahlbeck<br />
gesprochen, wobei ich letzterer deutlich<br />
den Vorzug gab, sie atmete den Geist der<br />
guten alten Zeit, als Bansin, Heringsdorf<br />
und Ahlbeck noch den Glanz der Kaiserbäder<br />
hatten, sie war - im Gegensatz zur<br />
modernisierten Heringsdorfer Seebrückeromantisch<br />
und geheimnisvoll. Im Laufe<br />
der Jahre ist sie mal gelb , mal rostrot und<br />
dann wieder weiß angestrichen worden<br />
und ich schaute voller Wohlwollen auf<br />
das Seebrückenrestaurant mit zwei putzigen<br />
Türmchen und sprach zu den hölzernen<br />
Planken und Bohlen. „Wer wohl<br />
schon alles über eure Bretter geschritten<br />
ist? Historische Persönlichkeiten wie<br />
Kaiser Wilhelm, Gorki und Tolstoi, aber<br />
gewiss auch einige meiner Vorfahren, die<br />
ich gerne kennen gelernt hätte.“ Ich<br />
dachte an jene Urgroßmutter aus Berlin,<br />
von der viel erzählt wurde, und spürte<br />
auf der Brücke im nachhinein den Widerhall<br />
von schweren Stiefeln, aber auch<br />
leichten Sandaletten.<br />
_In den darauf folgenden Tagen war der<br />
Himmel oft bedeckt, kein ausgesprochenes<br />
Strandwetter also, und Wolf und ich<br />
sind über die Insel geradelt, von den<br />
Koserower Fischhütten im Westen, wo<br />
Fische auf Holzgestellen im Freien geräuchert<br />
wurden, zur polnischen Grenze im<br />
Osten. Dort saßen alte Bauernfrauen mit<br />
geblümten Kopftüchern, karierten Wickelröcken<br />
und gestreiften Jacketts und<br />
wogen mit ihren roten, schwieligen<br />
Händen Pilze und Waldbeeren ab, sie<br />
wiesen auf Pferdekutschen hin, mit<br />
denen man weiter zum Polenmarkt fahren<br />
konnte. Mit diesen Frauen wollten<br />
wir uns gerne unterhalten, aber sie verstanden<br />
kein Deutsch, nur Polnisch, freuten<br />
sich allerdings, wenn wir mit deutscher<br />
Mark und nicht mit Zloty bezahlten.<br />
Wir haben uns das Haus und Atelier des<br />
verstorbenen Künstlers Otto Niemeyer-<br />
Holstein in Koserow am Achterwasser angeschaut,<br />
elegante Strandvillen in Heringsdorf,<br />
die früher erst von russischen<br />
Zaren, dann von DDR-Funktionären bewohnt<br />
wurden, und sind schließlich an<br />
einem Regentag dort in der Villa Irmgard<br />
gelandet, einem Museum, in dem<br />
sowohl der lungenkranke Maxim Gorki<br />
als auch später Tolstoi Erholung und<br />
Sommerfrische gefunden hatten.<br />
_In Gorkis Arbeitszimmer stand die Zeit<br />
still, auf dem großen Schreibtisch lag sein<br />
Werk „Meine Universitäten“ noch aufgeschlagen,<br />
der Federkiel in seinem Tintenfass<br />
schien begierig darauf wieder in die<br />
Hand genommen zu werden. Ach, wie<br />
gerne hätte ich ihn jetzt tief in die Tinte<br />
eingetunkt und aufs vergilbte Papier der<br />
Schreibunterlage geschrieben, was mir auf<br />
der Seele brannte, stattdessen aber starrte<br />
ich nur auf den riesigen, dunklen<br />
Schreibtisch und Wolf fragte ironisch:<br />
„Fängst Du gleich wieder an mit dem<br />
Möbelstück zu sprechen?“ „Nee!“, sagte<br />
ich leise, aber eindringlich: „Hier auf Usedom<br />
möchte ich mir jedes Detail merken<br />
und das geht besser durch Dialog: Mit<br />
Brücken, Palästen, verfallenen Villen,<br />
wildernden Katzen, dem Ostseeclown, den<br />
Fischern und auch mit Gorkis arabischen<br />
Zimmer!“ Gorki, der sich viel für Arme<br />
und Benachteiligte eingesetzt hatte, war<br />
entsetzt von den krassen Gegensätzen<br />
gewesen, die Heringsdorf in den Zwanzigern<br />
aufgewiesen hatte, hier die reichen,<br />
in Luxus schwelgenden Badegäste und<br />
dort die rassistisch wirkenden Kinder der<br />
Einheimischen. Zum Abschluss hatte er<br />
in sein Tagebuch geschrieben: „Dennoch<br />
und trotz allem werden die Menschen<br />
eines Tages wie Brüder leben!“ Wolf und<br />
ich lasen das und schauten uns fragend<br />
an. Ich dachte an die Wandermusiker<br />
auf der Strandpromenade mit schlechten<br />
Zähnen und abgelaufenen Sohlen,<br />
an die armen Straßenverkäuferinnen in<br />
Swinemünde, an die Noblesse in den<br />
teuren Hotels und auch an Gorbatschow.<br />
Wir standen an der Schwelle und wussten<br />
nicht, ob Gorki Recht behalten<br />
würde, irgendwann! #
Bericht | Text und Foto: Michael Heß<br />
„Ich bin durch und durch eine Künstlerin“<br />
Portrait der Münsteraner Künstlerin Sylvia Forstmann<br />
Obdachlosigkeit und Kunst - es ist im<br />
Grunde ein unmögliches Paar. Dennoch<br />
versuchen sich immer wieder Künstler an<br />
der sperrigen Materie. Sylvia Forstmann<br />
gehört zu ihnen und sie sucht Einblicke<br />
in diese fremde Welt. Für ~-Autor<br />
Michael Heß Grund genug, sich mit der<br />
Künstlerin zu unterhalten.<br />
_Das rollende „r“ ist das erste, was an<br />
Sylvia Forstmann auffällt. Eine Prägung<br />
ihrer Heimatstadt Rheine, auch wenn sie<br />
später in Hamburg und in den Niederlanden<br />
aufwächst. Diese seien noch heute<br />
ihre emotionale Heimat und von dort<br />
habe sie „eine gewisse Art von Liberalität<br />
und Offenheit“ mitgebracht. Verheiratet<br />
ist die 42-jährige Wahlmünsteranerin und<br />
Mutter eines vierjährigen Sohnes mit einem<br />
Franzosen, auch die weitere Verwandtschaft<br />
ist international geprägt.<br />
„Wie so viele bin ich in Münster hängen<br />
geblieben“, lacht sie - ein ästhetisches<br />
Gegenbild des Paohlbürgers.<br />
_Dieser Vielfalt entspricht ihr beruflicher<br />
Werdegang. Nach dem Abitur studiert<br />
Sylvia Forstmann auf Lehramt Kunst<br />
und Deutsch, ergänzt durch Studien zur<br />
Philosophie und Theaterpädagogik. Die<br />
anschließende Arbeit an einer Schule<br />
bricht sie nach anderthalb Jahren ab; sie<br />
empfindet zu viel äußere und innere<br />
Einengung. Schließlich studiert sie doch<br />
noch Kunst und beendet ihr Studium 2002<br />
erfolgreich. Seitdem dokumentieren Ausstellungen<br />
in Hamburg, Hamm, Istanbul,<br />
Ovedinkel und natürlich in Münster ihren<br />
künstlerischen Werdegang. Der Vielfältigkeit<br />
ihres Werdegangs entspricht ihre<br />
künstlerische Arbeit. <strong>Sie</strong> habe keinen bevorzugten<br />
Stil, sagt sie. Tatsächlich arbeitet<br />
sie gleichermaßen mit Fotos, Installationen,<br />
Performances und Zeichnungen.<br />
Auf den Tischen ihres Ateliers im Speicher<br />
II im Hafen <strong>liegen</strong> Dias und Drucke. Neue<br />
Materialien und Medien erarbeitet sie sich,<br />
wenn nötig. Sylvia Forstmann sucht den<br />
Geschichten in und um die alten Dinge<br />
herum eine Form zu geben. <strong>Sie</strong> sagt über<br />
sich selber, „durch und durch eine Künstlerin“<br />
zu sein.<br />
_Wie aber fand Sylvia Forstmann zum<br />
Thema Obdachlosigkeit? „Vor ungefähr<br />
fünf Jahren“, erinnert sie sich, „bemerkte<br />
ich in Paris einen Clochard. Er lag mit<br />
seinem Schlafsack in einem Hauseingang<br />
und schaute ständig auf die Uhr. Irgendwann<br />
schlüpfte er in den Sack, zog sich<br />
aus und legte seine Kleidung säuberlich<br />
zusammengerollt neben sich. Und dann<br />
hatte er plötzlich ein Buch in der Hand<br />
und las!“ Dieses zutiefst bürgerliche Bild<br />
des lesenden Clochards lässt sie nicht<br />
mehr los. <strong>Sie</strong> beginnt, sich mit dem Thema<br />
gezielt zu beschäftigen. <strong>Sie</strong> knüpft in<br />
Münster Kontakte zu Hilfeeinrichtungen<br />
wie dem Haus der Wohnungslosenhilfe<br />
und dem Gertrudenhaus. Dort lernt sie<br />
die heute 36-jährige Heike Schäfer kennen,<br />
damals obdachlos. „Das ist nichts,<br />
was ein Kunstwerk widerspiegeln kann“,<br />
fasst Forstmann ihre Eindrücke zunächst<br />
zusammen. Zwischen den beiden so unterschiedlichen<br />
Frauen wächst allmählich<br />
ein verbindendes Band. Jede weiß<br />
der anderen aus einer fremden Welt zu<br />
erzählen: Für Forstmann Anlass genug,<br />
sich im September mit einer Arbeit erstmals<br />
konkret mit diesem Thema zu befassen.<br />
_Viele Leser werden ihre Installation „birds<br />
of passage - Zugvögel“ am Mercure-<br />
Hotel in der Herwarthstraße bemerkt<br />
haben. Als Teil der Schau „hbf - häuser<br />
bilder fenster“ der ISG Bahnhofsviertel.<br />
Die Installation näherte sich dem Thema<br />
Obdachlosigkeit auf eigene Weise: <strong>Sie</strong><br />
funktionierte das Fenster eines Viersternehotels<br />
um zum Lagerplatz für eine Obdachlose.<br />
<strong>Sie</strong> arbeitete mit Pappe und<br />
Sichtfenstern anstelle von Glas und edlem<br />
Stein - der Kontrast konnte nicht größer<br />
sein. Innen weitere Pappe, ein Schlafsack,<br />
Tippelbrüder, eine abgenutzte Wasserflasche.<br />
Klischees? Vielleicht, aber auch<br />
Klischees tragen eine Botschaft und weisen<br />
auf die zerbrechlichen Biografien der<br />
Betroffenen hin. Forstmanns Installation<br />
lädt gerade deshalb ein zu einem Blick<br />
in diese fremde, nahe Welt mitten unter<br />
uns, die auch ein Teil des Bahnhofsviertels<br />
ist.<br />
_Ende September wurde die Installation<br />
zunächst abgebaut und eingelagert. Sylvia<br />
Forstmann möchte weiterhin zum Thema<br />
Obdachlosigkeit mit ihren Mitteln arbeiten<br />
und der menschlichen Not eine weitere<br />
künstlerische Stimme geben - es ist<br />
nötig genug. Die ~ freut sich schon<br />
auf die nächste Arbeit von Sylvia Forstmann<br />
zum Thema. #<br />
Kontakt zu Sylvia Forstmann<br />
Fon: 0176 / 43 01 85 32<br />
Mail: forstmannsylvia@web.de<br />
Net : www.speicher2muenster.de<br />
21
22<br />
Bericht | Text: Sarah* | Illustrationen: Thorsten Enning<br />
Ich ticce <strong>richtig</strong><br />
Leben mit dem Tourette-Syndrom<br />
Die junge Frau geht langsam in Münster<br />
am Kanal spazieren. Der ruhige<br />
Herbsttag ist wunderbar, die würzige<br />
Luft fantastisch. Alles harmonisch und<br />
normal. Plötzlich verspürt sie wieder<br />
diesen Drang, wie ein Niesen fast, und<br />
wirft plötzlich mehrmals ruckartig den<br />
Kopf in den Nacken. Dann ist es vorbei.<br />
<strong>Sie</strong> geht ruhig weiter, ganz normal.<br />
Sarah* ist Mitte 30 und leidet an einer<br />
seltenen chronischen Erkrankung mit<br />
dem langen Namen Gilles-de-la-Tourette-Syndrom,<br />
kurz Tourette-Syndrom<br />
oder einfach „TS“. Für die „~“<br />
berichtet sie über ihr Leben mit diesem<br />
Leiden.<br />
_Ja, ich ticce <strong>richtig</strong>, und zwar wahrsten<br />
Sinne des Wortes. Der „Tic“ ist mein ständiger<br />
Begleiter und Symptom meiner<br />
neuropsychiatrischen Erkrankung, dem<br />
Tourette-Syndrom, das auch als Behinderung<br />
anerkannt ist. Tics sind ständige,<br />
aber in unregelmäßigen Abständen<br />
auftretende willkürliche Zuckungen beziehungsweise<br />
ruckartige Bewegungen,<br />
die alle Körperteile betreffen können. Bei<br />
mir sind in erster Linie Rumpf und Kopf<br />
betroffen, zurzeit jedenfalls. Denn das<br />
Bild der Tics eines Betroffenen kann sich<br />
ständig ändern. Überhaupt sind wir Touretter,<br />
so könnte man sagen, Individualisten.<br />
Es gibt keine zwei Betroffenen auf<br />
dieser Welt, die genau dasselbe Symptombild<br />
haben. Tourette hat unendlich<br />
viele Gesichter. Zum „echten“ Tourette<br />
gehören aber auch vokale Tics, bei mir<br />
ist das in erster Linie ein recht lautes<br />
Räuspern oder Husten. Ich habe noch<br />
Glück. Die Medien berichten fast ausschließlich<br />
von Betroffenen, die auch<br />
unter der so genannten „Koprolalie“ leiden.<br />
Das bedeutet, diese Touretter sind<br />
gezwungen in der Öffentlichkeit sozial<br />
unverträgliche Worte auszustoßen, zum<br />
Beispiel Schimpfworte. Eine so drastische<br />
Ausprägung des Syndroms erleben aber<br />
nur circa 20 % aller Betroffenen. Der Rest<br />
leidet stiller.<br />
_Nicht-Betroffene können sich in der Regel<br />
nicht vorstellen, wie das ist, wenn<br />
man keine Kontrolle mehr über seinen<br />
Körper hat, wenn das Gehirn unnütze<br />
Befehle feuert. Wahrscheinlich gut gemeinte<br />
Sätze von einigen Mitmenschen<br />
wie „Reiß dich doch mal zusammen“<br />
oder „<strong>Sie</strong>h mal im Spiegel, wie doof das<br />
aussieht“ helfen wenig. Von Fachleuten<br />
wie Betroffenen wird der Zwang zum Tic<br />
häufig mit dem Zwang zum Niesen verglichen.<br />
Ein Niesen lässt sich - wie der<br />
Tic auch oft - vielleicht einige Sekunden<br />
herauszögern, aber dann bricht es sich<br />
umso heftiger Bahn. Genauso ist es mit<br />
dem Tic: Er muss hinaus. Faszinierend am<br />
TS finde ich, dass es Situationen und<br />
Zeiten gibt, in denen die Krankheit zu<br />
schlafen scheint. Das ist so in der Nacht,<br />
wenn auch der Körper schläft, dann<br />
kommt das Gehirn offenbar zur Ruhe.<br />
Das ist auch so in Situationen, in denen<br />
ich mich stark konzentrieren muss, wenn<br />
ich Prüfungen schreiben muss oder beim<br />
Singen im Chor. Das Gehirn scheint dann<br />
abgelenkt, das TS macht gnädigerweise<br />
Pause.<br />
_Die Krankheit tritt fast immer bereits<br />
im Kindesalter, um das 7.Lebensjahr<br />
erstmals auf und beginnt oft schleichend.<br />
So auch bei mir. Die Diagnose<br />
dieser vielfach auch unter Ärzten<br />
noch unbekannten Störung erhielt ich<br />
erst viele Jahre später als Erwachsene.<br />
Ich wollte endlich wissen, was nicht<br />
stimmt mit mir, glaubte nicht länger an<br />
eine psychische Störung und hatte<br />
irgendwo den Begriff „Tic“ gehört. Mit<br />
diesem Hinweis begann ich im Internet<br />
Nachforschungen zu betreiben und fand<br />
auch auf diesem Wege eine Spezialistin<br />
an der Medizinischen Hochschule<br />
Hannover, die sich wirklich mit der<br />
Erkrankung auskennt. Heute ist das<br />
Krankheitsbild besser bekannt und es<br />
gibt in Deutschland zahlreiche Tourette-Ambulanzen,<br />
die eine Diagnose<br />
stellen können. Über die Ursachen des<br />
Tourette-Syndroms wissen Forscher und<br />
Ärzte bisher relativ wenig. <strong>Sie</strong> vermuten,<br />
dass die Basalganglien im Spiel sind.<br />
Diese Ansammlung von Nervenzellen im<br />
Gehirn ist mitverantwortlich für die<br />
Kontrolle von Bewegungen. Ist das System<br />
gestört, so können Tics entstehen. Beim<br />
Vokaltic können bestimmte Muster von<br />
Lautäußerungen vom Gehirn nicht mehr<br />
gebremst werden. Auch der Neurotransmitter<br />
Dopamin ist offenbar ein Faktor,<br />
der eine Rolle spielt. Dopamin ist ein<br />
Überträgerstoff, der im Gehirn für die<br />
Informationsweiterleitung wichtig ist.<br />
Forscher glauben, dass auch das Serotonin<br />
eine Rolle spielt bei der Ticentwicklung.<br />
Die zentralnervösen Botenstoffe<br />
Dopamin und Serotonin sind hier offenbar<br />
im Ungleichgewicht. Hilfe für die<br />
Betroffenen - in Deutschland immerhin<br />
geschätzte 40.000 mit voll ausgeprägtem<br />
Syndrom - gibt es kaum. Manchmal<br />
lindern Medikamente wie Neuroleptika<br />
die Symptome, aber speziell gegen das<br />
TS gibt es (noch) keine Medikation. Wie<br />
sieht nun mein Alltag aus? Ich lebe eigentlich<br />
ganz gut mit meiner Erkrankung,<br />
mehr oder weniger. Ich lasse mich<br />
durch das Tourette einfach nicht „behindern“.<br />
Familie und besonders Freunde<br />
akzeptieren mich, wie ich bin, sie sagen:<br />
„Wir sehen deine Tics schon gar nicht<br />
mehr, sie gehören einfach zu dir dazu.“<br />
Das macht mich froh. Ich habe einen<br />
recht großen Freundeskreis und ausnahmslos<br />
alle mögen mich wie ich bin.
Aber schließlich bestehe ich ja auch aus<br />
viel mehr als aus meinen Tics. Das verstehen<br />
aber Arbeitgeber manchmal leider<br />
nicht. Als ich im Jahr 2004 aufgrund<br />
einer Medikamentenumstellung eine<br />
kurzzeitige Krise mit verstärkten Tics<br />
hatte, wurde ich von meinem damaligen<br />
Arbeitgeber, einer Werbeagentur in<br />
Münster, gnadenlos hinausgeworfen. Als<br />
ich anmerkte, dass diese fristlose Kündigung<br />
nicht möglich und außerdem eine<br />
Diskriminierung Behinderter sei, wurde<br />
mir von meinen beiden Vorgesetzten<br />
gesagt, dass ihnen das völlig egal sei.<br />
Das Ganze hat mich, auch nachhaltig,<br />
tief getroffen.<br />
_Das Tourette-Syndrom kommt oft nicht<br />
allein. „Kostenlose Zugaben“ sind zum<br />
Beispiel Depressionen, ADS/ADHS und<br />
Zwänge. Auch ich leide unter Zwängen<br />
und hatte in meinem Leben schon mit<br />
schweren Depressionen zu kämpfen. Gegen<br />
diese so genannten Komorbiditäten<br />
kann man häufig etwas unternehmen,<br />
das TS dagegen ist meistens therapieresistent.<br />
Wie alle Betroffenen hoffe auch<br />
ich, dass eines Tages ein passendes Medikament<br />
auf den Markt kommt, das uns<br />
Tourettern wirklich hilft, aber darauf zu<br />
warten, ist wenig sinnvoll. Wir müssen<br />
wie andere Menschen mit Behinderungen<br />
und Einschränkungen unser Schicksal<br />
selber in die Hand nehmen und vor<br />
allem eines: Die Krankheit und uns selber<br />
so akzeptieren, wie wir sind. #<br />
* Name von der Redaktion geändert<br />
Ein Tourette-Forum, viele Informationen<br />
und Hilfe zum Tourette-Syndrom<br />
finden Interessierte im Netz unter:<br />
www.tourette.de<br />
Sarah möchte gern mit anderen Betroffenen<br />
in Münster und Umgebung in<br />
Kontakt treten und vielleicht auch eine<br />
Selbsthilfegruppe gründen. Wer Interesse<br />
hat, kann sich bei der „~“<br />
melden unter:<br />
draussen-redaktion@live.de<br />
Chiffre „TS“<br />
Anzeigen<br />
23
24<br />
Buchtipps | Texte: Sabrina Kipp | Nora Gantenbrinck<br />
Lesen!<br />
Andreas Busch,<br />
„VON DROSTE UND DER OBDACHLOSE“<br />
Kbv Verlag,<br />
200 Seiten, 8,90 Euro<br />
ISBN: 393700111-5<br />
Jürgen Kehrer:<br />
„ Fürchte dich nicht!“<br />
Thriller, Grafit-Verlag 2009<br />
--- Seiten, 18,90 Euro<br />
ISBN: 978-3-518-46051-1<br />
In Münster stirbt ein Obdachloser auf<br />
einer Parkbank. Kein Kältetoter, ein bis<br />
dahin gesunder Mann. Keine äußeren<br />
Verletzungen. Es ist nicht der erste Fall<br />
dieser Art. Was ist mit den Männern passiert?<br />
Direkt aus Wiesbaden vom Bundeskriminalamt<br />
kommt Kriminalrat Dr. Richard<br />
von Droste zurück nach Münster, um<br />
die „Abteilung für Tötungsdelikte“ zu<br />
übernehmen. Von Droste ist höflich, gebildet,<br />
vornehm, etwas altmodisch. All<br />
das ist seinen Mitarbeitern vollkommen<br />
fremd. Konflikte sind vorprogrammiert.<br />
Doch das Team muss zusammenhalten,<br />
wenn es erfolgreich sein will. Das scheint<br />
zunächst unmöglich. Doch ganz allmählich<br />
raufen sich der vornehme Herr von<br />
Droste, der schlampige Kommissar Martin<br />
Pagenkemper, die arbeitsscheue Oberkommissarin<br />
Tanja Swiderski und die<br />
naive Sekretärin Corubba Paschwitz zusammen.<br />
_Die Fälle der getöteten Obdachlosen sind<br />
mehr als seltsam. Wer kann ein Interesse<br />
daran haben unschuldige Männer zu töten?<br />
Zickenkrieg kennt jeder, Zeckenkrieg wohl<br />
eher nicht. Um eine derartige Bedrohung<br />
geht es in dem neuen Buch „Fürchte dich<br />
nicht!“ von unserem münsterschen Regionalmatador-Autor<br />
und Wilsberg-Erfinder<br />
Jürgen Kehrer. Den launigen Privatdetektiv<br />
Wilsberg sucht man in dem<br />
Thriller aber vergeblich. Denn der Roman<br />
tanzt aus der beliebten Kehrer-Krimi-<br />
Reihe. Statt Wilsberg bekommt der Leser<br />
den Polizisten Martin Geis vor die<br />
Schmöcker-Schnute gesetzt. Ob das besser<br />
ist? Schwer zu sagen. Allzu oft erscheint<br />
der Thriller etwas zu stark konstruiert.<br />
Wer jedoch die irreale Bedrohung<br />
sucht, Spaß an mutierten Zecken hat<br />
und zudem auf internationale Politik-<br />
Verschwörungen abfährt, der könnte an<br />
dem recht abwegigen Inhalt dennoch<br />
Gefallen finden. Kehrer erzählt die Geschichte<br />
eines weltweiten Gipfeltreffens,<br />
das auf der Insel Norderney stattfinden<br />
soll. Während die Vorbereitungen auf<br />
Eine Spur führt zu einem rechtsradikalen<br />
Arzt. Ein Irrweg, wie sich bald heraus<br />
stellt. Ein pharmazeutisches Unternehmen<br />
hat dagegen tatsächlich seine Hand im<br />
Spiel. Aber was macht die obdachlosen<br />
Männer so interessant für das Unternehmen?<br />
Von Droste taucht tief ein in die<br />
für ihn fremde Welt. Er sucht Männerwohnheime<br />
auf, versucht Vertrauen zu<br />
gewinnen, wird verprügelt und gibt doch<br />
nicht auf. Ein weiterer Mann stirbt. Von<br />
Droste wird nervös. Wenn er sich wenigstens<br />
auf sein Team verlassen könnte!<br />
Doch das macht, was es will. Eine Mitarbeiterin<br />
des pharmazeutischen Unternehmens<br />
gerät in Verdacht. Von Droste<br />
ermittelt allein weiter. Und ganz plötzlich<br />
ist da auch die Verbindung zu dem<br />
rechtsradikalen Arzt. Aber eine vollkommen<br />
andere als zu vermuten war. Von<br />
Droste begibt sich bewusst in große Gefahr.<br />
Er will den Fall zu Ende bringen.<br />
Und er hat großes Glück, dass er schließlich<br />
nicht selbst zum Opfer wird. #<br />
Hochtouren laufen, mehren sich auf der<br />
Insel mysteriöse Todesfälle. Allen gemein:<br />
Die Verstorbenen wurden von Zecken<br />
gebissen, in ihren Gehirnen lassen sich<br />
zudem mutierte FSME-Viren nachweisen.<br />
Viola de Monti, Zeckenforscherin in Berlin,<br />
befasst sich mit den unerklärlichen Vorkommnissen<br />
und findet heraus, dass die<br />
seltsamen Ereignisse auch in anderen<br />
Städten Einzug halten. Ihre Nachforschungen<br />
werden jedoch von oberster<br />
Stelle untersagt. Auch dem Leiter der örtlichen<br />
Polizeistation Martin Geis, versucht<br />
man Steine auf dessen Ermittlungswege<br />
zu legen. Trotz der tödlichen Bedrohung<br />
wollen die Politiker das Gipfeltreffen unbedingt<br />
abhalten. Warum? Verschwörungsfreaks<br />
und Kehrer-Fans lesen es<br />
selbst nach. #
Januar 2010 | Rezepte: Jörg Hüls | Foto: Sabrina Kipp<br />
Echte Hausmannskost<br />
Auch in diesem Jahr fand unsere Hühnersuppenaktion regen Zulauf. Grund genug Ihnen<br />
unser Rezept vorzustellen. Hühner-suppe ist nämlich nicht nur lecker, nein, sie ist auch<br />
eine Art Medizin und kann Erkältungsbeschwerden lindern. US-amerikanische Wissenschaftler haben der Hühnersuppe<br />
auf den Zahn gefühlt. So zeigte eine Studie des Medical Centers der Universität Nebraska an menschlichen Zellen, dass<br />
Hühnersuppe Entzündungsprozesse in Nase und Hals hemmen kann. <strong>Sie</strong> kennen das: Husten, Schnupfen und ein brummender<br />
Kopf sind die unangenehmen Begleiterscheinungen einer Erkältung. Meist sind Viren die Verursacher. Sobald sie in die<br />
Atemwege gelangen, wird unser Immunsystem aktiv: Zahlreiche Abwehrzellen werden produziert und über das Blut zur Nase<br />
und zum Hals-Rachen-Raum transportiert, damit sie dort wirken, wo sie gebraucht werden. Durch die Aktivität der Abwehrzellen<br />
kommt es an unseren Schleimhäuten zu einer Entzündungsreaktion und sie schwellen an. Außerdem sondern<br />
wir über Husten und Schnupfen vermehrt Sekret ab, um die Viren aus dem Körper zu spülen. Inhaltsstoffe der Hühnerbrühe<br />
können entzündungshemmend wirken, weil sie die Beweglichkeit unserer Abwehrzellen einschränken. Der Effekt lies sich<br />
sowohl mit hausgemachter Hühnersuppe als auch mit Fertigsuppen zeigen. Trockene Schleimhäute und eine verstopfte Nase<br />
verhindern, dass Sekrete abfließen bzw. abgehustet werden können. Heiße Flüssigkeit hält die Schleimhäute feucht und löst<br />
den Schleim. Dabei erwies sich Hühnerbrühe wirksamer als heißes Wasser. Wenn sie schluckweise gegessen wird, können<br />
Nasensekrete besser abfließen. Die Dämpfe heißer Hühnerbrühe erhöhen zudem die Temperatur in den Atemwegen. Deshalb<br />
können sich Erkältungsviren nicht so schnell vermehren.<br />
Hühnersuppe selbst gemacht<br />
Zutaten:<br />
1 Suppenhuhn (mit Innereien)<br />
1 Liter Wasser<br />
1 Petersilienwurzel<br />
50 g Sellerie<br />
50 g Lauch oder Zwiebeln<br />
100 g Möhren<br />
Salz, Petersilie, Schnittlauch<br />
Zubereitung:<br />
_Suppenhuhn und Innereien waschen.<br />
Mit Salz und kaltem Wasser aufsetzen<br />
und zum Kochen bringen. 1 bis 2 Stunden<br />
köcheln lassen und 10 Minuten in<br />
der Nachwärme fertig garen. Petersilienwurzel<br />
und Möhren putzen, waschen<br />
und nach der halben Garzeit zufügen.<br />
Huhn herausnehmen, Brühe durch ein<br />
<strong>Sie</strong>b gießen und wieder in den Kochtopf<br />
geben. Huhn häuten, zerlegen, Knochen<br />
herauslösen, Fleisch klein schneiden und<br />
in die Brühe geben. Brühe erhitzen und<br />
abschmecken. Mit gehackten Kräutern bestreuen.<br />
#<br />
Strammer Max<br />
Zutaten:<br />
4 Scheibe/n Bauernbrot(e) oder ähnliches<br />
Brot<br />
4 Scheibe/n Schinken (Hinterschinken)<br />
4 Scheibe/n Käse, Gouda oder<br />
Emmentaler<br />
4 Eier<br />
etwas Butter<br />
evtl. Gurken,<br />
Essiggurken<br />
Paprikastreifen (aus dem Glas)<br />
Zubereitung:<br />
_Die Brotscheiben bestreicht man dünn<br />
mit Butter, legt jeweils eine Scheibe<br />
Schinken auf das Brot. Nun kann, wer<br />
möchte, noch dünn geschnittene Essiggurken<br />
und ein paar Paprikastreifen auf<br />
den Schinken legen. Über das Ganze<br />
gibt man jeweils eine Scheibe Käse! Die<br />
belegten Brote 10-15 Min. bei ca. 150 Grad<br />
in Backofen schieben. Bis der Käse eben<br />
etwas verlaufen ist (bitte aufpassen, dass<br />
das Brot nicht zu trocken wird). In dieser<br />
Zeit aus den Eiern Spiegeleiern braten<br />
und vor dem Servieren auf die überbackenen<br />
Brote geben.<br />
_Schmeckt lecker und geht fix. Der Belag<br />
mit Essiggurke und Paprikastreifen ist Geschmacksache<br />
- macht aber das Ganze<br />
saftiger! #<br />
Arme Ritter<br />
Zutaten:<br />
4 Scheiben Toastbrot (Weizen)<br />
1 Ei<br />
¼ Liter Milch<br />
50 g Butter<br />
Zimt<br />
Zucker<br />
Zubereitung:<br />
_Die Eier in der Milch verquirlen. Die<br />
Brotscheiben gut darin einweichen lassen.<br />
Inzwischen die Butter in einer Pfanne<br />
auslassen. Die Brotscheiben in der Butter<br />
goldbraun braten, bis sie von beiden<br />
Seiten knusprig sind. Noch heiß mit Zucker<br />
und Zimt bestreuen und warm servieren.<br />
#<br />
Guten Appetit wünscht Jörg Hüls!<br />
25
26<br />
Rechtstipps | Text: Rechtsanwältin Annette Poethke<br />
§<br />
Moritz<br />
Der ruhige und ausgeglichene Kater Moritz lebt nun schon seit mehreren<br />
Monaten im Tierheim der Tierfreunde Münster. Dort wartete er bislang vergeblich<br />
auf die Menschen, die dem imposanten Schmuser ein neues zu<br />
Hause bieten wollen. Moritz kuschelt für sein Leben gern und versucht<br />
alles, um seinem Zweibeiner zu gefallen. Artgenossen sind für den fünfjährigen<br />
Kater kein Problem, daher würde er sich auch gut als Zweitkatze<br />
eignen. Der sympathische Stubentiger ist selbstverständlich geimpft, kastriert<br />
und mit einem Mikrochip gekennzeichnet. Auf kleinere Streifzüge<br />
durch die Natur möchte Moritz in seinem neuen Heim allerdings nicht<br />
verzichten.<br />
Kontakt:<br />
Neues aus dem Familienrecht<br />
Mehrverdienst bei Auslandseinsatz und Unterhalt<br />
Der Kindesvater Vladimir schuldet seiner Ehefrau Karin, von der<br />
er getrennt lebt, Trennungsunterhalt und ebenso Kindesunterhalt<br />
für die beiden gemeinsamen Kinder Sabrina (16 Jahre) und<br />
Achim (8 Jahre). Er hat - nach eigenen Aussagen - einen Auslandsaufenthalt<br />
in China in Kauf genommen, damit er aufgrund<br />
seiner Überstunden seine Familie besser unterstützen könne.<br />
Neben der Familie in Deutschland ist er auch seiner neuen Lebensgefährtin<br />
in China Chiara und dem gemeinsamen Baby Bodo<br />
aus dieser Verbindung unterhaltspflichtig.<br />
Das Oberlandesgericht Hamm hat in seiner Entscheidung festgestellt,<br />
dass die Überstunden von Vladimir im Rahmen seines<br />
Auslandseinsatzes üblich und erforderlich waren, also nicht<br />
freiwillig. <strong>Sie</strong> wurden nicht als überobligatorisch (mehr als er<br />
arbeiten muss) gewertet und wurden somit voll als Einkommen<br />
bei der Berechnung des Trennungsunterhalts für Ehefrau Karin<br />
und den Kindesunterhalt der beiden gemeinsamen Kinder Sabrina<br />
und Achim berücksichtigt. (OLG Hamm, Urteil vom<br />
29.06.2009, 6 UF 225/08BeckRS 2009,23416)<br />
Anders urteilte das OLG Hamm bezüglich der Härtezulage. <strong>Sie</strong><br />
wird zwar grundsätzlich (bei den Juristen heißt dies: Achtung,<br />
es gibt Ausnahmen) auch als Einkommensbestandteil angesehen.<br />
Da Vladimir allerdings konkreten Mehrbedarf nachweisen<br />
konnte, für den er die Härtezulage verwandt hatte, konnte sie<br />
im konkreten Fall nur zur Hälfte angerechnet werden.<br />
Tierfreunde Münster e. V., Kötterstr. 198, 48157 Münster<br />
Telefon: 0251/32 50 58, Öffnungszeiten:<br />
Samstags von 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr und sonntags von 15.00 Uhr bis 18.00 Uhr<br />
www.tierfreunde-ms.de<br />
Gleichzeitig hatte das OLG im vor<strong>liegen</strong>den Fall darüber zu befinden,<br />
ob die Kindesmutter Karin einer Erwerbstätigkeit nachzugehen<br />
hat, zumal sie vortrug, Achim sei besonders betreuungsbedürftig.<br />
Aufgrund der getroffenen Feststellung, dass der<br />
achtjährige Achim regelmäßig bis 14 Uhr die Schule besucht, wird<br />
der Kindesmutter Karin zugemutet wegen des 6-stündigen<br />
Aufenthaltes von Achim in der Schule, einer vierstündigen<br />
Halbtagstätigkeit nachzugehen. Dies sei ohne Vernachlässigung<br />
von Haushalt und Kindesbetreuung möglich. #<br />
Tauschrausch:<br />
~-Tauschaktion immer noch aktuell:<br />
www.muenster.org/draussen/tauschrausch.html<br />
Redaktionssitzung:<br />
Jeden Dienstag um 14:00 Uhr findet die Redaktionssitzung<br />
statt. Freie Mitarbeiter sind immer willkommen!<br />
Die neue ~<br />
erscheint am 01. 02. 2010<br />
Redaktionsschluss<br />
ist der 15. 01. 2010
Kurz und Knapp<br />
Recht auf <strong>richtig</strong>e Wohnung<br />
Ein Hartz-IV-Empfänger darf gegen seinen Willen nicht gezwungen<br />
werden in einer Obdachlosenunterkunft zu wohnen,<br />
sondern er hat das Recht, eine Wohnung anzumieten. Das hat<br />
das Landessozialgericht NRW entschieden. Die Gemeinde Velbert<br />
hatte einem Hartz-IV-Empfänger die Kosten für eine von<br />
ihm angemietete Wohnung verweigert und wollte ihm nur die<br />
Kosten für das Zimmer in einer Obdachlosennotunterkunft erstatten,<br />
in dem man ihn untergebracht hatte. Gegen diese<br />
Vorgehensweise hat der Betroffene beim Landessozialgericht<br />
in Essen geklagt und gewonnen. Der Beschluss des Gerichts ist<br />
rechtskräftig. #<br />
Treffpunkt sagt danke!<br />
Ein besonders schönes Weihnachtsfest konnte im Treffpunkt<br />
an der Clemenskirche gefeiert werden. Viele Münsteraner Bürger<br />
sind unserem Aufruf gefolgt und haben Geschenke für<br />
Wohnungslose und sozial Benachteiligte zusammengetragen.<br />
„Die Leute haben sich so viel Mühe gegeben“, erzählt Schwester<br />
Birgit. „Viele Geschenke waren schon ganz liebevoll verpackt.“<br />
_Der Treffpunkt an der Clemenskirche bedankt sich herzlich<br />
bei allen Wohltätern für die großzügigen Geschenke, Spenden<br />
und Segenswünsche. Ihnen allen ein gutes neues Jahr und<br />
noch einmal ein auf<strong>richtig</strong>es Dankeschön an alle, die uns bedacht<br />
haben! #<br />
Anzeigen<br />
27
28<br />
Text | Horst Gärtner<br />
Schlussakkord<br />
Ende Dezember hatten Straßenverkäufer und Redaktion noch<br />
zwei Highlights; eins, wo sie verwöhnt wurden und sich einfach<br />
fallen lassen konnten, und eins, bei dem sie ihr „Dankeschön“<br />
an Münster und das Münsterland wie im vergangenen<br />
Jahr auf ihre Weise zum Ausdruck brachten: mit 400 l<br />
wohlschmeckender Hühnersuppe, fachkompetent zubereitet<br />
und freundlich serviert. Und alle, die am 22. 12. unsere<br />
Gäste waren, haben die Suppe, „die wir ihnen eingebrockt<br />
haben“, mit Wohlbehagen ausgelöffelt!<br />
_Das erste „Verwöhn-Highlight“ fand wie schon in den vergangenen<br />
Jahren Mitte Dezember bei Zoodirektor Jörg Adler<br />
statt. Der Andrang von Verkäufern und Redaktion war mit<br />
42 Teilnehmer/innen noch größer als im vergangenen Jahr,<br />
denn es hatte sich herumgesprochen, dass der Zoodirektor<br />
eine prächtige Führung arrangiert. Wann kommen unsere<br />
Jungs schon mal in den Zoo? Wann dürfen sie schon mal in<br />
ein Gehege? Und dass ein Mittagessen auf sie wartet, wie es<br />
die meisten das ganze Jahr über nicht noch einmal vor sich<br />
stehen haben. Danke an Jörg Adler, einen langjährigen guten<br />
Freund unserer obdachlosen Menschen und der „~“-<br />
Arbeit.<br />
_Das zweite Highlight war unsere Dankeschön-Suppe. Diesmal<br />
standen wir nicht am Ende, sondern am Anfang der<br />
Ludgeristraße mit unserem „Suppen-Ausgabe-Stand“ und<br />
Cleopatra<br />
wuchs an einer stark befahrenen Kreuzung bei einem sehr katzenfreundlichen<br />
Obdachlosen auf und verbrachte dort mit mehreren anderen Katzen<br />
ihre ersten beiden Lebensjahre. Leider wurde sie von den dortigen Katzen<br />
oft verscheucht und zeigt sich auf der Pflegestelle verängstigt und unterwürfig<br />
den vorhandenen Katzen gegenüber. Aus diesem Grund sollte sie<br />
entweder als Einzelkatze oder zu einem freundlichen, nicht dominanten<br />
Kater vermittelt werden. Wegen ihrer anfänglichen Zurückhaltung gegenüber<br />
fremden Menschen sollten die neuen Besitzer mit einer etwas längeren<br />
Eingewöhnungsphase rechnen und ihr genügend Zeit geben, um Vertrauen<br />
aufzubauen. Danach möchte sie gerne wieder Auslauf bekommen. Sobald<br />
sie sich eingewöhnt hat, wird sie sich als verspielte und lebhafte Katze<br />
entpuppen, die sich gerne in der Nähe ihrer vertrauten Dosenöffner aufhält<br />
und mit Begeisterung schmusen kann. Cleopatra ist 2 Jahre alt und<br />
sucht ein ruhiges Zuhause - gerne mit größeren Kindern.<br />
Kontakt:<br />
Tel. 0251/8469757 oder<br />
www.katzenhilfe-muenster.de<br />
es gab auch keine Berührungsängste wegen der wohlriechenden<br />
Essenausgabe - da steht die Ludgerikirche natürlich drüber und<br />
die „Nachbarn für einen Tag“ tolerierten es in weihnachtlicher<br />
Stimmung.<br />
_Nun, unsere Suppe war auch „erste Sahne“, denn wir durften sie<br />
in der „Akademie Überlingen“ zubereiten und unser Chefkoch<br />
Markus hatte gelehriges und hilfreiches Personal um sich versammelt.<br />
Wir fanden es toll, dass Zoodirektor Adler 5 Tage nach<br />
unserem Besuch in seinem Allwetterzoo wieder zu uns gekommen<br />
war und sich in das „Servicepersonal“ einreihte, ebenso<br />
wie einige Ratsvertreter und Vertreter des SC Preußen Münster.<br />
_Wir haben eine kräftige Stärkung auch nötig, ebenso wie wohlwollenden<br />
und freundlichen Zuspruch, denn wir haben uns für<br />
2010 eine Menge vorgenommen. Wir wollen die Außenbezirke von<br />
Münster noch intensiver mit der ~ bedienen und wir wollen<br />
das Münsterland in einen regelmäßigen Verteilerkreis aufnehmen;<br />
wir möchten nicht in Steinfurt,Borghorst, Burgsteinfurt, Greven,<br />
Telgte, Rheine und Hamm stehen bleiben.<br />
_<strong>Sie</strong> sehen, es wartet eine Menge Arbeit auf uns, aber wir sind<br />
sicher, <strong>Sie</strong> werden uns weiter unterstützen, unseren Verkäuferinnen<br />
und Verkäufern „auf Augenhöhe begegnen“, die „~“<br />
kaufen und uns immer wieder unter die Arme greifen in Münster<br />
und im Münsterland. #
Text: P. Erich Purk<br />
Nachruf Prof. Ursula Adams<br />
13.12.2009<br />
79 Jahre<br />
Ein erfülltes Leben im wörtlichen Sinn,<br />
kann man die Lebensjahre von Ursula<br />
Adams nennen. Wo es möglich war,<br />
vertrat sie das An<strong>liegen</strong> der Ausgegrenzten<br />
unserer Gesellschaft. Der „Option<br />
für die Armen“ galt ihr leidenschaftliches<br />
Engagement. Schon in ihrer<br />
Schulzeit in Pützchen wurde ihr Interesse<br />
für die Armen geweckt. Dem Sacre<br />
Coeur- Ehemaligen-Kreis blieb sie lebenslang<br />
verbunden.<br />
_Die junge Juristin machte ihr erstes<br />
Praktikum in einer Obdachlosensiedlung<br />
in Köln, wo sie Thea Haas, ihre Freundin,<br />
kennen lernte. <strong>Sie</strong> erzählte oft, wie die<br />
Armen ihre Lehrmeister wurden. Als Dozentin<br />
an der Fachhochschule in Münster<br />
gab sie den Studenten nicht nur das fachliche,<br />
juristische Rüstzeug mit, sondern auch<br />
die Liebe zu den Armen und Ausgegrenzten.<br />
Aufbrüche und neue Entwicklungen<br />
im sozialen Bereich schaute sie sich in<br />
der Praxis an und schrieb sehr früh ein<br />
Buch über die Problem- und Lebenslagen<br />
obdachloser Menschen. <strong>Sie</strong> gründete in<br />
Münster die Nicht-Sesshaften-Hilfe und<br />
sorgte unter anderem dafür, dass alle<br />
Obdachlosen ein würdiges Begräbnis erhielten.<br />
<strong>Sie</strong> nutzte ihre zahlreichen Verbindungen<br />
zu Bischöfen und zu den Verantwortlichen<br />
in der Gesellschaft, um die<br />
Situation der Armen zu verbessern. <strong>Sie</strong><br />
verstand es, viele zu Verbündeten zu<br />
machen, wie z.B. die Ordensgemeinschaften.<br />
In der Synode der deutschen Bistümer<br />
arbeitete sie maßgeblich an Texten<br />
der Synodenbeschlüsse mit. 1980 schrieb<br />
Pater von Nell-Breuning SJ in Bewunderung<br />
der praxisorientierten Arbeit von<br />
Frau Adams: „Was ich geleistet habe, dafür<br />
kann man alle Verstandes- und Willenskräfte<br />
einsetzen, es bleibt abstrakt.<br />
Und kein Mensch kann Abstraktes lieben.“<br />
_Ursula Adams stellte vielen die Gewissensfrage:<br />
„Nennt dich ein Armer<br />
Freund?“ Der Ort, der einen Menschen<br />
vor dem Vergessen bewahrt, ist unser<br />
Herz. Viele Arme bewahren ihren Namen<br />
in ihrem Herzen. 1983 haben Nichtsesshafte<br />
der Stadt Münster an den Bundeskanzler<br />
Kohl einen Brief geschrieben<br />
mit der Bitte, Frau Adams und Schwester<br />
Evelyne das Bundesverdienstkreuz zu<br />
verleihen.<br />
_Als Pilgerin hat sie sich verstanden.<br />
Mehrere Jahre wanderte sie mit Thea<br />
Haas und auch mit Bischof Voss auf dem<br />
Weg nach Santiago, den damals nur<br />
wenige gingen. Durch wie viele Welten<br />
müssen wir wandern, bis der, der uns<br />
ruft, uns in seine Arme schliesst? Das<br />
Bild des armen Lazarus in Abrahams<br />
Schoß, hat sie vielen Obdachlosen geschenkt.<br />
Ist der Tod, wie die Heimkehr<br />
ins Vaterhaus? Wohin gehen wir? Immer<br />
nach Hause!<br />
P. Erich Purk<br />
im Auftrag der Familie Adams und auf<br />
Bitten der katholischen Fachhochschule<br />
Anzeige
Alle im Zoo, bei Nashorn und Co.<br />
Weihnachtsfeier der ~<br />
In der Vorweihnachtszeit geht es meistens<br />
sehr hektisch zu. Geschenke müssen<br />
eingekauft und hübsch verpackt<br />
werden. Alle wollen bedacht werden.<br />
Und dann schließlich noch die ganzen<br />
Vorbereitungen für die kulinarischen<br />
Festgenüsse. Bei dem ganzen vorweihnachtlichen<br />
Trubel bleibt das, worum<br />
es beim Christfest eigentlich in erster<br />
Linie gehen sollte, oft auf der Strecke:<br />
Besinnlichkeit und Nächstenliebe.<br />
Einer, für den diese Begriffe jedoch<br />
nach wie vor große Gültigkeit haben ist<br />
Jörg Adler.<br />
Denn mittlerweile ist es für Münsters Zoodirektor<br />
Tradition geworden, dass er die<br />
alljährliche Weihnachtsfeier der ~<br />
bei sich im Zoo ausrichtet. Auch anlässlich<br />
des Weihnachtsfestes 2009 lud er<br />
das gesamte draußen!-Team ein. Wie<br />
Anzeige<br />
Hier <strong>liegen</strong> <strong>Sie</strong> <strong>richtig</strong>!<br />
schon bei den früheren Weihnachtsfeiern<br />
erwartete der Zoochef uns am<br />
Eingang und nach einer herzlichen Begrüßung<br />
ging's los.<br />
_Erste Station waren die Pinguine, die<br />
sich sichtlich wohl fühlten, denn sie<br />
tummelten sich überschwänglich im eiskalten<br />
Wasser. „Brrr, wie halten die<br />
das bloß aus bei der Kälte“, meinte jemand.<br />
Aber wahrscheinlich waren es<br />
gerade die eisigen Temperaturen, die<br />
für die Ausgelassenheit der kleinen<br />
„Frackträger“sorgten. Passend zu unserer<br />
Weihnachtsfeier hatte nämlich der<br />
Winter Einzug gehalten. Weiter ging es<br />
ins Affenhaus, wo es nicht weniger ausgelassen<br />
zuging. Ein Getobe, Geschiebe<br />
und Geschrei, und das nicht nur im<br />
Affengehege. Nein, auch die Wesen<br />
vor dem Gitter schienen von Schimpan-<br />
sen und Gorillas angesteckt worden zu<br />
sein, denn sie verhielten sich ähnlich<br />
affenartig. Danach kam im wahrsten<br />
Sinne des Wortes ein kleiner Höhepunkt:<br />
Das Giraffenhaus. Die Langhälse betrachteten<br />
uns aus luftiger Höhe anfangs noch<br />
etwas skeptisch. Als jedoch der Pfleger mit<br />
einem Eimer Bananenstücke erschien, war<br />
ihre Vorsicht vergessen. Unser Verkäufer<br />
Michael Schmitz durfte, weil er Geburtstag<br />
hatte, die Fütterung der Giraffen übernehmen.<br />
Die nächste Etappe zum Dickhäuter-Haus<br />
war ein etwas längerer Weg.<br />
Alex beschlagnahmte daraufhin kurzerhand<br />
den mitgeführten Bollerwagen und<br />
ließ sich von Nicole ziehen. Im Haus der<br />
Dickhäuter, wo auch die Zwergpapageien<br />
ihr Refugium haben, angekommen, durfte,<br />
wer wollte, die gefiederten bunten<br />
Frechdachse mit Nektar verwöhnen, was<br />
Sabrina und Jörg auch mit Genuss taten.<br />
Aber natürlich stand Ebun das Nashörnchen<br />
viel mehr im Mittelpunkt des Geschehens.<br />
Die kleine Nashorndame machte<br />
jedoch gerade ihren Mittagsschlaf und<br />
ließ sich dabei von dem ganzen Trubel um<br />
sie herum keineswegs stören.<br />
_Mittagsschlaf- Mittagszeit. Das Füttern<br />
der Tiere zeigte mehr und mehr auch bei<br />
unseren Leuten seine Wirkung. Auch unsere<br />
Mägen hingen so langsam auf halb acht.<br />
Und so führte uns Jörg Adler, vorbei am<br />
Leopardenkäfig, aus dem uns ebenfalls<br />
hungrig blickende Raubtieraugen sehnsüchtig<br />
hinterher schauten, Richtung Zoorestaurant.<br />
_Das folgende Essen und die Getränke<br />
waren wie immer hervorragend und reichlich.<br />
Zum Nachtisch gab es zu Feier des<br />
Verkäufer-Geburtstags Vanilleeis auf heißen<br />
Himbeeren. Zum krönenden<br />
Abschluss ließ es sich unsere liebe Sabrina<br />
nicht nehmen,den Beteiligten ein kleines<br />
Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Und<br />
so wurde auch diese Weihnachtsfeier<br />
dank Jörg Adler wieder zu einem tierisch<br />
schönen Erlebniss für die ~-<br />
Mannschaft. #
Bis zum 31. 1. 2010<br />
10 % Rabatt für alle<br />
Werbekunden<br />
ab einer Laufzeit von 3 Monaten<br />
So bunt und vielseitig ist die<br />
~<br />
Ihre Werbung ist uns willkommen!