liegen Sie richtig! - Draußen
liegen Sie richtig! - Draußen
liegen Sie richtig! - Draußen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
8<br />
Bericht | Text und Fotos: Annalena Koch<br />
„Wie ich Brasilien sehe“<br />
Ein etwas anderer Blick auf den Zuckerhut<br />
Nach ihrem siebenmonatigen Brasilienaufenthalt<br />
als Missionarin auf Zeit, hat<br />
Annalena Koch in einer der letzten<br />
~-Ausgaben berichtet, wie sie<br />
seitdem über Deutschland denkt. Nun<br />
möchte sie davon erzählen, wie sie Brasilien<br />
- das fünftgrößte und ethnienreichste<br />
Land der Welt - erlebt hat, und<br />
zeigen, dass Brasilien eben nicht nur<br />
aus Fußball, Samba, Karneval und nackten<br />
Frauen besteht.<br />
_Wenn ich an Brasilien denke, fallen mir<br />
zuerst die Disparitäten zwischen Arm und<br />
Reich, Stadt und Land, Nord und Süd,<br />
Weiß und Schwarz auf. In keinem Land<br />
der Welt sind diese Unterschiede so krass<br />
wie dort. Was historisch gesehen auch mit<br />
dem Sklavenhandel zusammenhängt. Dadurch<br />
gibt es kaum einen Mittelstand. Soziale<br />
Einrichtungen und Hilfe vom Staat<br />
sind rar. Es gibt zwar die „bolsa familia“,<br />
eine finanzielle Unterstützung des Staates,<br />
die der amtierende Präsident Lula<br />
da Silva eingeführt hat und sich damit<br />
brüstet. Doch den wirklich Armen hilft<br />
selbst das nicht, weil es nicht bis zu ihnen<br />
durchsickert.<br />
_Mit dem Thema Spenden und Hilfe aus<br />
Deutschland gehe ich sehr kritisch um.<br />
Zum einen wegen der Bürokratie, zum<br />
anderen darf bei Schwellenländern wie<br />
Brasilien nicht der Eindruck entstehen,<br />
Entwicklungshilfe bestünde darin, passiv<br />
zu sein und sich aus dem Sumpf ziehen<br />
zu lassen. Um das bilaterale Element zu<br />
betonen, spricht man heutzutage politisch<br />
korrekt von Entwicklungszusammenarbeit.<br />
Kürzlich hatte ich im Wohnheim<br />
mit den Mädels von meinem Flur<br />
eine heiße Diskussion. Es ging um Spenden<br />
vor Weihnachten. Clara und ich<br />
meinten beide, dass dies reiner Eigennutz<br />
sei, um sein allzu schlechtes soziales Gewissen<br />
vor Weihnachten zu befriedigen<br />
und das Gefühl zu haben mit Gott und<br />
der Welt im Reinen zu sein. Die anderen<br />
fragten, ob es ein Fehler sei, etwas Gutes<br />
zu tun und sich dabei gut zu fühlen? Eine<br />
schwierige Frage, mit der der Philosoph<br />
Kant sich bereits beschäftigt hat. Das beste<br />
Beispiel ist für mich Bruna, eine brasilianische<br />
Freundin, die aus der Mittelschicht<br />
kommt. <strong>Sie</strong> ist mit mir nach Deutschland<br />
gekommen und arbeitet als Au-pair in der<br />
Nähe von Stuttgart. Ihre Schwester bat sie,<br />
ihr von ihrem Au-pair-Gehalt in Deutschland<br />
einen Laptop und einen iPod zu kaufen.<br />
Bruna antwortete: „Liegt in Deutschland<br />
das Geld etwa auf der Straße? Ich<br />
muss es mir hart verdienen“. Das ist genau<br />
der Eindruck, den die Menschen auf<br />
der Südhalbkugel bekommen, wenn man<br />
sie mit Spenden und Geschenken über-<br />
häuft. Besser ist immer noch Hilfe zur<br />
Selbsthilfe.<br />
_Das Gesundheitssystem ist ebenso eine<br />
Katastrophe, da es zwar eine kostenlose<br />
Grundversorgung gibt, aber Krankenhausaufenthalte<br />
oder ähnliches muss der Patient<br />
privat bezahlen. Vor einigen Tagen<br />
erreichte mich eine Hilfe-E-Mail von einem<br />
der Brüder, mit denen ich in Alagoinhas<br />
zusammengearbeitet habe. Er berichtete<br />
von einer 23-jährigen Mutter mit<br />
5 Kindern. Die Mutter und einige der Kinder<br />
sind auf Grund eines genetischen Defektes<br />
blind. Zwei der Kinder kurz davor<br />
zu erblinden. Die Ärztin im Krankenhaus<br />
von Salvador meinte, es grenze an ein<br />
Wunder, wie diese Mutter unter all den<br />
prekären Umständen in der Lage sei, den<br />
Alltag zu meistern. In Deutschland hätte<br />
die Krankenversicherung ohne weiteres<br />
eine so dringend nötige Augenoperation<br />
bezahlt. Wer aber dort kein Geld hat, hat<br />
verloren. Wenn ich so etwas höre, betrifft<br />
mich das immer sehr. Auf den ersten Blick<br />
wird schon bei der Beantragung des Visums<br />
deutlich, dass in Brasilien mindestens<br />
genauso viel Bürokratie herrscht,<br />
diese aber wesentlich chaotischer ist.<br />
_Ein weit verbreitetes Vorurteil ist, dass<br />
alle Brasilianerinnen so wie an Karneval<br />
in Rio halb nackt auf der Straße herumlaufen.<br />
Erstens ist auch hier Karneval<br />
nicht gleich Karneval. Ähnlich wie hierzulande<br />
beim Kölner Karneval und der<br />
alemannischen Fasnet gibt es auch dort<br />
deutlich regionale Unterschiede. Zweitens<br />
laufen Brasilianerinnen höchstens am<br />
Strand in sehr knappen Bikinis herum,<br />
aber FKK wäre undenkbar und man<br />
macht sich damit als Tourist auch nicht<br />
gerade beliebt.<br />
_90% der Brasilianer sind Katholiken.<br />
Brasilien wird manchmal auch das katholischste<br />
Land der Welt bezeichnet,<br />
aber man muss dazu sagen, dass viele<br />
Brasilianer mittlerweile auch keine praktizierenden<br />
Christen mehr sind. Außerdem<br />
ist die Zahl der evangelikalen und<br />
Pfingstkirchen erschreckend gestiegen,<br />
gerade in den Favelas geht man gerne