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Jugend an der Wien – VorSchau - Theater an der Wien

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leS conteS d’hoFFm<strong>an</strong>n<br />

karin bohnert, Dramaturgin theater <strong>an</strong> <strong>der</strong> <strong>Wien</strong><br />

„On est gr<strong>an</strong>d par l’amour et plus gr<strong>an</strong>d par les pleurs!“ <strong>–</strong> „m<strong>an</strong> ist groß durch die liebe und<br />

größer noch durch tränen!“, empfiehlt die von großem chor und allen solisten gesungene apotheose<br />

am ende <strong>der</strong> Oper dem in Verzweiflung und trunkenheit bef<strong>an</strong>genen Dichter e. t. a. hoffm<strong>an</strong>n. er hat<br />

gerade sein <strong>–</strong> <strong>an</strong>geblich viertes <strong>–</strong> liebesdebakel erlebt: Die Frau, die er liebt, die sängerin stella, wird<br />

von seinem Wi<strong>der</strong>sacher lindorff weggeführt. Der spruch von tränen und Größe soll den Dichter trösten:<br />

zwar klappt es bei ihm nicht mit <strong>der</strong> liebe, aber für sein Dichtertum ist unglück ohnehin die<br />

größere ch<strong>an</strong>ce. aus seinem kummer, seinen tränen k<strong>an</strong>n er nun wie<strong>der</strong> große kunst schaffen, so wie<br />

er es schon die g<strong>an</strong>ze Oper über vorgeführt hat. aus je<strong>der</strong> gescheiterten liebesgeschichte wurde eine<br />

erzählung, <strong>der</strong> seine zuhörerinnen gesp<strong>an</strong>nt folgten. eine reaktion <strong>der</strong> Figur hoffm<strong>an</strong>n auf jenen<br />

guten rat mit den tränen und <strong>der</strong> Größe teilt das libretto allerdings nicht mit <strong>–</strong> das zu entscheiden<br />

ist aufgabe des regisseurs. Worin liegt das Glück des lebens? in <strong>der</strong> liebe o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> kunst? Darin,<br />

ein leben in <strong>der</strong> realität zu führen, mit liebe und menschlicher nähe, o<strong>der</strong> darin, als künstler ruhm zu<br />

ernten, indem m<strong>an</strong> die eigene unerfüllte sehnsucht nach dem leben in kunst umzuw<strong>an</strong>deln vermag?<br />

und wieso sind liebe und kunst eigentlich Gegensätze? Vor <strong>der</strong> deutschen rom<strong>an</strong>tik konnte ein Dich-<br />

ter sehr wohl ein bürgerliches leben führen und dabei große kunst produzieren <strong>–</strong> Joh<strong>an</strong>n Wolfg<strong>an</strong>g<br />

von Goethe lebte das in perfektion vor. Die deutsche rom<strong>an</strong>tik setzte künstlertum in Gegensatz zu<br />

(spieß-)bürgerlichkeit.<br />

Die bedrohliche „bürgerlichkeit“ konkretisiert sich in Les contes d’Hoffm<strong>an</strong>n in einem bösewicht, <strong>der</strong><br />

stets eifersüchtig hoffm<strong>an</strong>ns Glück hintertreibt: seine urerscheinung ist <strong>der</strong> rat lindorff, als „rat“<br />

ist er ein pragmatiker, ein m<strong>an</strong>n des Geldes. in den erzählungen hoffm<strong>an</strong>ns taucht er auf als bös-<br />

artiger puppenbauer, dämonischer arzt und diabolischer zuhälter <strong>–</strong> in diesen Formen enthüllt er seine<br />

teuflische natur, die unter <strong>der</strong> bürgerlichen Oberfläche des „rats“ versteckt ist. aber es gibt noch eine<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e dauernde begleiterin hoffm<strong>an</strong>ns: Die muse, scheinbar hoffm<strong>an</strong>ns beschützerin. sie will hoffm<strong>an</strong>n<br />

g<strong>an</strong>z für sich, er soll nur seiner kunst leben, die sie verkörpert. Wie lindorff arbeitet sie <strong>an</strong> <strong>der</strong><br />

Verhin<strong>der</strong>ung von hoffm<strong>an</strong>ns liebesglück, aber sie begreift außerdem die Vergeblichkeit seiner<br />

träume. Denn hoffm<strong>an</strong>n macht es den beiden liebesverhin<strong>der</strong>ern leicht: auf seiner suche nach liebe<br />

fällt er stets auf seine eigenen F<strong>an</strong>tasien herein, schon das erste abenteuer mit Olympia macht es deut-<br />

lich: er projiziert auf die leblose puppe alle seine Wünsche von glücklicher zweisamkeit („ah, vivre à<br />

deux“) und nimmt nicht wahr, dass diese Geliebte überhaupt gar keine eigene persönlichkeit besitzt <strong>–</strong><br />

vielleicht wirkt sie auch gerade deshalb <strong>an</strong>ziehend auf ihn. auch bei den <strong>an</strong><strong>der</strong>en übersieht er die ei-<br />

gentlichen naturen <strong>der</strong> Frauen: <strong>an</strong>tonia, die sängerin, will ihr eigenes künstlertum behaupten, Giulietta,<br />

die kurtis<strong>an</strong>e, spiegelt hoffm<strong>an</strong>n liebe nur vor <strong>–</strong> sie ist Gef<strong>an</strong>gene Dapertuttos und liebt in Wahrheit den<br />

zwerg pitichinaccio.<br />

Diese drei abenteuer werden von einem das trinken preisenden Dichter mitgeteilt. eine solche erzählsituation<br />

wirft recht schnell die Frage auf, ob diese Geschehnisse nur ausgeburten eines umnebelten<br />

schriftsteller-hirns sind: ist alles wirklich so geschehen? Glaubt hoffm<strong>an</strong>n selbst dar<strong>an</strong>? sind die drei<br />

Frauen die erzählerisch aufgespaltene stella, wie die muse es einmal <strong>an</strong>merkt? erfindet hoffm<strong>an</strong>n<br />

das alles bewusst? aber zu <strong>an</strong>f<strong>an</strong>g tritt für das publikum sichtbar die muse auf und verw<strong>an</strong>delt sich<br />

in hoffm<strong>an</strong>ns Freund nicklausse. lindorff kommt auf die bühne, begleitet von dem musikalischen<br />

motiv, das sich die g<strong>an</strong>ze Oper über mit dem auftreten des bösewichts verbindet <strong>–</strong> ist er nun ein<br />

w<strong>an</strong>dlungsfähiger teufel o<strong>der</strong> nicht? Wo beginnen hoffm<strong>an</strong>ns erzählungen, wo beginnt die Figur<br />

hoffm<strong>an</strong>n zu erzählen? Was ist realität, was ist Wahrheit, was ist Wahn <strong>–</strong> und was davon wünschen wir<br />

uns, sollte wahr sein?<br />

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