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Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung 10. Auflage

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Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, <strong>Lehrbuch</strong> <strong>der</strong> <strong>systemischen</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong><br />

Von <strong>der</strong> Familientherapie zur <strong>systemischen</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>und</strong> <strong>Beratung</strong> 19<br />

zehnte später kopfschüttelnd vielleicht sogar das bestaunen, was wir<br />

selbst geschrieben haben.<br />

In dieser Zeit wurden auch die ersten Versuche gemacht, den Rahmen<br />

des durch die Psychoanalyse vorgegebenen Settings zu verlassen.<br />

Es kam zu verschiedenen, zunächst vereinzelten Versuchen, die Familie<br />

mit einzubeziehen, wobei eine Familientherapie im heutigen Sinne<br />

wohl noch nicht durchgeführt wurde, son<strong>der</strong>n eher gruppentherapeutische<br />

Techniken auf Schizophrene <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Eltern übertragen wurden,<br />

etwa in Form gemeinsamer Gruppenpsychotherapie mit Müttern <strong>und</strong><br />

Töchtern o<strong>der</strong> <strong>Therapie</strong>gruppen für Patienteneltern <strong>und</strong> an<strong>der</strong>es<br />

(SCHINDLER war hier ein Vorreiter, S. HOSEMANN et al. 1993). All diese<br />

Versuche ermöglichten den Perspektivenwandel, <strong>der</strong> für die damaligen<br />

Theoretiker <strong>und</strong> Praktiker so dramatisch war, daß sie ihn als »Paradigmawechsel«<br />

erlebten <strong>und</strong> beschrieben. Als ein erster Meilenstein<br />

erschien 1945 das Buch von RICHARDSON: »Patients have Families«,<br />

<strong>und</strong> es scheint, als sei dies zu dem Zeitpunkt tatsächlich eine sensationelle<br />

Entdeckung gewesen.<br />

An<strong>der</strong>s als bei FREUD kann bei <strong>der</strong> <strong>systemischen</strong> (Familien-)<strong>Therapie</strong><br />

nicht von einem genialen Begrün<strong>der</strong> gesprochen werden, auf den<br />

sich alle Theoriebildung aufbaute. Es sind eher eine ganze Reihe herausragen<strong>der</strong><br />

Persönlichkeiten hier zu nennen, <strong>und</strong> es dürfte nicht zu<br />

entscheiden sein, wer »<strong>der</strong> o<strong>der</strong> die erste« war, <strong>der</strong>/die mit Familien<br />

begann zu arbeiten.<br />

Die Geschichte, die VIRGINIA SATIR (oft als »Mutter <strong>der</strong> Familientherapie« bezeichnet)<br />

gern erzählte, wenn sie von <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Familientherapie spricht,<br />

spiegelt sicher stellvertretend die Erfahrungen vieler ihrer Kollegen wi<strong>der</strong>: Ihr war<br />

1951 eine 26jährige Schizophrene überwiesen worden, die bereits von mehreren<br />

Therapeuten erfolglos behandelt worden war. Nach sechs Monaten, in <strong>der</strong> <strong>Therapie</strong><br />

hatten sich Fortschritte gezeigt, rief plötzlich die Mutter dieser Frau an <strong>und</strong><br />

drohte SATIR mit einer Klage wegen »Entfremdung von Zuneigung«. SATIR: »Aus<br />

irgendeinem Gr<strong>und</strong> hörte ich an diesem Tag zwei Botschaften in <strong>der</strong> Stimme <strong>der</strong><br />

Mutter: eine verbale Drohung <strong>und</strong> eine nonverbale Bitte. Ich entschied mich auf<br />

die Bitte einzugehen <strong>und</strong> die Drohung zu ignorieren. Ich lud sie ein, zu mir zu<br />

kommen. Zu dieser Zeit war das eine äußerst ungewöhnliche Sache, die ich tat.<br />

Gleichwohl nahm sie meine Einladung an« (zit. nach JÜRGENS U. SALM 1984,<br />

S. 404). Im ersten gemeinsamen Kontakt, so SATIR, sei ihr aufgefallen, daß die<br />

Patientin sich wie<strong>der</strong> so verhielt wie in den ersten Tagen zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Therapie</strong>,<br />

<strong>und</strong> SATIR erarbeitete mit beiden ein neues Gleichgewicht. Die Frage nach dem<br />

Vater führte dann zum nächsten Schritt bei <strong>der</strong> Ausweitung des Settings. Der<br />

Kommentar SATIRS mag die Stimmung in <strong>der</strong> Fachwelt gut wi<strong>der</strong>spiegeln:<br />

»Damals wurden Väter nicht wirklich als ein Teil des Gefühlslebens einer Familie<br />

angesehen, deshalb dachten Therapeuten gewöhnlich gar nicht an sie.« Als <strong>der</strong><br />

Vater kam, erlebte SATIR einen neuen Schock: »Sowohl die Mutter als auch die<br />

Tochter waren da, wo wir angefangen hatten.« Hatte sie zu Beginn auf die intra-<br />

© 2007; 1996 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 978-3-525-45659-0

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