Prof. Dr. h.c. Marcel Reich-Ranicki Literaturkritiker im Gespräch mit ...
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Julia“ hätte. Sie fragte mich, ob ich die Karte haben wollte. Ich war natürlich<br />
glücklich, aber ich konnte in keinem Schauspielführer etwas über den Inhalt<br />
des Stückes lesen. Ich wusste nur, dass es eine Liebestragödie und die<br />
wichtigste Szene eine Balkonszene war. Liebesszenen bestehen meistens<br />
darin, dass der Mann sagt: „Ich will, und zwar gleich.“ Die Frau antwortet:<br />
„Ja, vielleicht, aber etwas später.“ Wenn sie gleich nachgibt, wäre das Stück<br />
ja sofort zu Ende. Ich hatte keine Ahnung von dem Stück. Damals machte<br />
es einen enormen Eindruck auf mich, und zwar wohl deshalb, weil der Held<br />
des Stückes nicht Romeo oder Julia war, sondern die Liebe selbst. Das<br />
Stück zeigt, wie Liebe auf die Menschen wirkt, wie die Menschen davon<br />
völlig hingerissen sind und den Verstand verlieren. Niemand in der<br />
Weltliteratur hat in einem Bühnenwerk die Liebe so dargestellt wie<br />
Shakespeare - er war noch ganz jung, als er dieses Stück schrieb -, obwohl<br />
wir bei Goethe über dieses Thema Herrliches finden können. Nicht jedoch<br />
bei Schiller, über den ich kein schlechtes Wort sagen will, aber was die<br />
Liebe betrifft, war er nicht so genial veranlagt.<br />
Benning-Creanga: Die Liebe zu deutscher Literatur war nicht eine Liebe auf den ersten Blick.<br />
Es gibt eine schöne Anekdote: Ihre Mutter nötigte Sie zu täglichen<br />
Leseübungen, um Ihre Deutschkenntnisse aufzubessern, was Ihnen sehr<br />
verhasst war. Sie soll gesagt haben: „Warte, es wird noch der Tag kommen,<br />
an dem du gerne und freiwillig deutsche Bücher lesen wirst.“ Sie haben<br />
damals geschrien: „Niemals, niemals!“<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Ja. Der größte Teil meines Lebens bestand darin, dass ich am Schreibtisch<br />
saß und deutsche Bücher las. Ich darf bescheiden anmerken, dass das<br />
nicht <strong>im</strong>mer ein reines Vergnügen war. Wenn man nur Spaß haben will,<br />
dann soll man sich einen anderen Beruf als Kritiker wählen. Ich habe aber<br />
nie bedauert, diesen Beruf gewählt zu haben.<br />
Benning-Creanga: Ein schönes Zitat von Ihnen lautet: „Ich begriff, dass man sich in der<br />
Literatur selbst finden könne, seine eigenen Gefühle, Gedanken,<br />
Hoffnungen und Hemmungen.“ Zu frühen Einblicken in die Sexualität<br />
verhalf Ihnen auch ein Buch, nämlich „Narziß und Goldmund“ von Hermann<br />
Hesse. Was haben Sie über Sexualität in diesem Buch lesen können?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Ja, mein Interesse für die Literatur war schon sehr früh erwacht, nämlich <strong>mit</strong><br />
13 Jahren. Ich war jedoch kein Wunderkind. Natürlich habe ich mich - wie<br />
alle Jungs in diesem Alter - für Sexualität interessiert. Es gab überhaupt<br />
keine Aufklärung damals, die Eltern haben sich da<strong>mit</strong> nie beschäftigt und<br />
die Schule erst recht nicht. Die Kinder waren darauf angewiesen, von<br />
anderen Gleichaltrigen ein paar vulgäre Worte zu hören. Ich selbst gestehe,<br />
dass ich <strong>mit</strong> elf Jahren davon überzeugt war, dass die Geburt so vonstatten<br />
geht, dass sich bei einer Frau der Nabel erweitert und das Kind durch den<br />
Nabel zur Welt kommt. Vielleicht war das gar keine so uninteressante Idee.<br />
Wie wir aber wissen, ist es in der Natur etwas anders. Natürlich interessierte<br />
mich, was über dieses Thema in der Literatur zu finden war. Ich fand eine<br />
Stelle bei „Madame Bovary“ von Flaubert, die die mögliche Wirkung der<br />
Literatur deutlich zeigt: Hier besucht der Graf Madame Bovary und ihren<br />
Mann. Auf dem He<strong>im</strong>weg denkt er an Madame Bovary, bei der er eben ein<br />
Mittagessen zu sich genommen hat, und dann kommt der Satz: „Und in<br />
Gedanken entkleidete er sie.“ Dieser Satz machte auf mich einen<br />
ungeheuren Eindruck. Damals, <strong>mit</strong> 13 Jahren, kam ich auch auf die Idee,<br />
ein Mädchen in Gedanken zu entkleiden. Der große Eindruck beruhte aber<br />
darauf, dass ich erfuhr, dass auf diese Idee schon jemand vor mir<br />
gekommen war und dass es keine Erfindung von mir war. Die Literatur gibt<br />
– und dieses Beispiel, das ich gerade gegeben habe, ist sehr s<strong>im</strong>pel - dem<br />
Leser die Möglichkeit, eigene Probleme und Fragen zu erkennen. Das ist<br />
die ungeheure Wirkung der Literatur.<br />
Benning-Creanga: Die Literatur begleitete Sie ein ganzes Leben. 1920 wurden Sie in Polen<br />
geboren, Ihr Vater musste 1929 Bankrott anmelden, und Sie übersiedelten