Prof. Dr. h.c. Marcel Reich-Ranicki Literaturkritiker im Gespräch mit ...
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gegen das <strong>Dr</strong>itte <strong>Reich</strong>. Die Herrschaften sollen mir nicht <strong>mit</strong> ihren<br />
Vorwürfen kommen, denn es ist einfach lächerlich. Man hatte mich damals<br />
gefragt: „Sie sind einer, der in Deutschland aufgewachsen ist, Deutsch<br />
spricht, können Sie für uns nach Berlin gehen und sich dort umsehen?“ Ich<br />
war glücklich, dass ich gleich nach dem Krieg <strong>im</strong> Januar 1946 nach Berlin<br />
kam. Im Übrigen habe ich gar keinen Nachrichtendienst in Berlin gemacht.<br />
Ich sollte Anweisungen aus Warschau bekommen, aber ich bekam nicht<br />
eine Anweisung. Ich vermute, dass die Russen diese Dinge selbst erledigen<br />
wollten.<br />
Benning-Creanga: Als Sie aus London zurückkamen, wurden Sie Kritiker in Polen. Sie haben<br />
deutsche Literatur für polnische Mitbürger rezensiert. 1958 kehrten Sie von<br />
einer Studienreise nicht wieder nach Polen zurück. Sie hatten beschlossen,<br />
sich in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Sie hatten nur fünf<br />
Dollar in der Tasche, eine alte, klapprige Schreibmaschine und ein paar<br />
Bücher <strong>mit</strong> dabei. Sie hatten sehr gute Kontakte zu deutschen<br />
Schriftstellern, z. B. zu Siegfried Lenz und Heinrich Böll. Wie haben Sie es<br />
geschafft, dass diese hochrangigen Autoren Sie, den <strong>mit</strong>tellosen polnischen<br />
Kritiker, so freundlich aufnahmen und unterstützten?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Es ist richtig, dass ich <strong>mit</strong> fünf Dollar in der Tasche und einer klapprigen<br />
alten Schreibmaschine ankam. Ich hatte keine Kontakte in der<br />
Bundesrepublik, <strong>mit</strong> Ausnahme von zwei Autoren. Die deutschen<br />
Schriftsteller, die damals nach Warschau kamen, waren vorwiegend<br />
Schriftsteller aus der DDR. Ich lernte viele kennen wie z. B. Arnold Zweig<br />
und Friedrich Wolf. Aus dem Westen kamen wenig Schriftsteller. Lenz<br />
habe ich bei einem kurzen Besuch in Berlin kennen gelernt. Böll war einmal<br />
in Warschau. Beide haben sich mir gegenüber sehr nett verhalten, halfen<br />
mir, boten mir Geld an, das ich aber nicht annahm, da ich ein wenig Geld<br />
auf der Bank hatte von Artikeln, die ich für „Die Welt“ und die FAZ<br />
geschrieben hatte. Vor allem Lenz hat sich allergrößte Mühe gegeben, mir<br />
Kontakte <strong>mit</strong> Auftraggebern - Leuten von Verlagen, Rundfunk, Zeitungen -<br />
zu verschaffen, und ich konnte sofort versuchen, mich als <strong>Literaturkritiker</strong> in<br />
deutscher Sprache zu betätigen.<br />
Benning-Creanga: Das ist Ihnen sehr gut gelungen. 14 Jahre waren Sie Kritiker bei der „Zeit“.<br />
Später übernahmen Sie dann den Literaturteil der "Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung" und haben dort etwas geschafft, was niemandem vor Ihnen<br />
gelang, Sie sind nämlich zu der literaturkritischen Instanz Deutschlands<br />
aufgestiegen. Man nennt Sie auch den „Literatur-Papst“, in Anlehnung an<br />
die Unfehlbarkeit des Papstes. Wie erklären Sie sich diesen beispiellosen<br />
Erfolg? Weshalb gerade Sie?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Diese Frage haben mir schon viele gestellt. Meine erste Antwort lautet: Das<br />
sollten Sie mir erklären. Das sollten alle anderen erklären, nicht ich.<br />
Dennoch will ich nicht ausweichen: Es gibt keine Wunder auf diesem<br />
Gebiet, weder in der Musik, der Literatur oder <strong>im</strong> Theater. Wenn manche<br />
eine große Karriere machen und andere nicht, dann hat das <strong>im</strong>mer Gründe.<br />
Anne-Sophie Mutter kann wirklich gut Geige spielen, und über Karajan<br />
konnten die Leute reden, was sie wollten, er war ein schrecklicher Mensch,<br />
aber dirigieren konnte er hervorragend. Ich kam hierher und sah mir an, wie<br />
in diesem Land Literaturkritik gemacht wurde. Ich sah, dass man hier<br />
umständlich über Literatur schrieb, vornehm - ein bisschen zu vornehm -,<br />
nicht sehr klar und nicht entschieden. Vor allem existierte eines nicht: die<br />
Wertung. Die allermeisten Kritiker scheuten sich davor zu sagen, dass<br />
dieses Buch gut ist, weil... Nein, sie referierten die Bücher, informierten über<br />
sie, aber beurteilten und sprachen nicht klar darüber. Wir sind hier in Berlin<br />
in einer Stadt, die einmalig ist, denn es ging eine Maßnahme von dieser<br />
Stadt aus, die man als höchst originell bezeichnen konnte: Es wurde von <strong>Dr</strong>.<br />
Joseph Goebbels die Literaturkritik - die Kritik überhaupt - verboten. Es war<br />
etwas Ungeheuerliches, dass in einem zivilisierten Land die Kritik verboten