Prof. Dr. h.c. Marcel Reich-Ranicki Literaturkritiker im Gespräch mit ...
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nach Berlin. Dort besuchten Sie die deutschsprachige Schule. Sie sagten<br />
einmal: „Wollte ich integriert und geachtet werden, musste ich mich durch<br />
Leistungen <strong>im</strong> Unterricht auszeichnen.“ So kam es, dass Sie Klassenbester<br />
in Mathematik und bis zum Abitur auch in Deutsch wurden. Nahm Ihre<br />
lebenslängliche Neigung, sich profilieren und <strong>im</strong>mer der Beste sein zu<br />
wollen, vielleicht da<strong>mit</strong> einen Anfang?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Ja, <strong>mit</strong> Sicherheit. Ich kam als Fremder in die Schule nach Berlin. Ich war<br />
natürlich ein Außenseiter, war am Anfang etwas anders gekleidet als die<br />
Mitschüler und sprach etwas anders. Ich kam aus einer anderen Sphäre,<br />
und dass ich mich irgendwie bewähren musste oder dass ich irgendwie das<br />
Bedürfnis hatte, mich zu profilieren, war ganz natürlich. Was mich<br />
interessierte, war die Mathematik. Das hatte Folgen, denn ich habe einen<br />
Sohn, der <strong>Prof</strong>essor der Mathematik an der Universität von Edinburgh ist.<br />
Damals begann mein Interesse für Literatur und Theater und daher auch für<br />
den Deutschunterricht. Ich las damals sehr viel Literatur, aber fast keine<br />
Literatur für Kinder. Ich las gleich die Erwachsenenliteratur. Ich will nicht<br />
sagen, dass ich alles, was ich damals <strong>mit</strong> 15 Jahren gelesen habe, auch<br />
wirklich verstanden hätte. Als ich zum ersten Mal den „Zauberberg“ las,<br />
verstand ich von den großen <strong>Gespräch</strong>en zwischen Settembrini und<br />
Naphta best<strong>im</strong>mt nur die Hälfte.<br />
Benning-Creanga: Die Literatur begleitete Sie bis zum Abitur. Sie waren der beste<br />
Deutschschüler, jedoch wurde Ihre Note nach unten korrigiert, denn ein<br />
Jude durfte nicht sehr gut in Deutsch sein. Ihr Immatrikulationsgesuch an<br />
der Berliner Universität wurde abgelehnt, Sie durften nicht studieren, und<br />
Sie haben bis heute nicht studiert, d. h., Sie sind ein Autodidakt. Welche<br />
Vorteile oder Nachteile hat es, sich alles selbst beigebracht zu haben?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Welche Vorteil es hat, mögen jene beurteilen, die meine Arbeit und meine<br />
Bücher kennen. Eines ist sicher: Ich brauchte mich nicht <strong>mit</strong> Dingen zu<br />
beschäftigen, die mich nicht interessierten. Wer studiert, muss sich dem<br />
Programm fügen und Prüfungen bestehen. Ich habe mich nur <strong>mit</strong> dem<br />
beschäftigt, was mich wirklich interessiert hat. Der Nachteil war, dass ich<br />
manches infolgedessen nicht gelernt habe. Es wäre besser für mich<br />
gewesen, wenn ich damals als Student gut Mittelhochdeutsch gelernt hätte.<br />
Ich kann Walther von der Vogelweide <strong>im</strong> Original lesen, aber bei Wolfram<br />
von Eschenbach ist es schon ein bisschen schwer. Gewiss wäre es besser<br />
gewesen, wenn ich Mittelhochdeutsch gelernt hätte. Ich hatte viel Mühe, mir<br />
all das beizubringen, was ich für nötig hielt und was mich gleichzeitig<br />
interessierte. Ich war den Menschen, die mir Hinweise gaben, dankbar.<br />
Mein Schwager kümmerte sich um meine Lektüren, fragte mich, was ich<br />
las, was ich darüber dachte, und gab mir Anregungen. In meinem ganzen<br />
Leben gab es kaum jemanden, der sich in dieser Hinsicht um mich<br />
gekümmert hätte.<br />
Benning-Creanga: Eines frühen Morgens <strong>im</strong> November 1938 klopfte es an Ihrer Türe und ein<br />
Polizist kam herein. Er hatte die Ausweisung aus dem Deutschen <strong>Reich</strong> in<br />
der Hand, und Sie mussten sich sofort auf den Weg nach Polen machen.<br />
Sie wurden nach Polen deportiert, und dort begann eine der großen<br />
Tragödien Ihres Lebens. Sie wurden <strong>im</strong> Warschauer Ghetto <strong>im</strong> Judenrat<br />
tätig und leiteten dort das Korrespondentenbüro. Sie waren für die<br />
Korrespondenz <strong>mit</strong> den polnischen Behörden zuständig. Sie beschreiben<br />
das auch in Ihrer Autobiografie. Mich berührte besonders die<br />
Abschiedsszene, als Ihre Eltern nach Treblinka deportiert wurden und so<strong>mit</strong><br />
in den sicheren Tod gingen. Wie haben Sie diese Erlebnisse, das Leben <strong>im</strong><br />
Ghetto, gezeichnet?<br />
<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Alle großen Erlebnisse menschlichen Lebens zeichnen das Individuum.<br />
Jeder, der den Krieg erlebt hat, wird von solchen Erlebnissen geprägt. Was<br />
mich betrifft: Ich bin nicht von einem Tag auf den anderen deportiert<br />
worden. So gemütlich ging das nicht zu, denn ich musste <strong>mit</strong> dem