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Prof. Dr. h.c. Marcel Reich-Ranicki Literaturkritiker im Gespräch mit ...

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Polizisten, der mich aufweckte, sofort <strong>mit</strong>kommen. Ich hatte nur fünf<br />

Minuten Zeit, mich anzuziehen. Noch am selben Abend wurde ich nach<br />

Polen <strong>mit</strong> tausend anderen deportiert. Nun zu den Erlebnissen <strong>im</strong> Ghetto:<br />

Man hat große Schriftsteller gefragt, was sie <strong>mit</strong> ihrem Roman eigentlich<br />

sagen wollten. Sie antworteten: „Wenn ich das sagen könnte, dann hätte ich<br />

den Roman nicht geschrieben.“ Sie haben die Antwort geklaut von der<br />

großen russischen Tänzerin Anna Pawlowna, die in Berlin sehr berühmt<br />

war und Mitte der zwanziger Jahre starb. Sie fragte man auch: „Dieser<br />

Tanz, den Sie da zeigen, ist sehr aufregend, aber was soll er ausdrücken?“<br />

Sie antwortete: „Das kann ich nicht sagen, denn wenn ich es könnte,<br />

weshalb sollte ich dann tanzen? Weshalb sollte ich die ganze Anstrengung<br />

auf mich nehmen, wenn man es <strong>mit</strong> wenigen Worten sagen könnte!“<br />

Zurück zum Ghetto. Ich habe über meine Erlebnisse mehr als hundert<br />

Seiten in meinem Buch geschrieben, und Sie wollen von mir, dass ich das<br />

Erlebte jetzt in wenigen Worten schildere! Ich kann Ihnen nur sagen, dass<br />

die ständige Angst vor dem Tod zunächst einmal zur Folge hatte - was Sie<br />

verblüffen wird –, dass man sich daran gewöhnt. Man hat die Angst<br />

weiterhin, es ist eine schreckliche Sache. Wenn man jedoch täglich Angst<br />

hat und das Jahre lang, dann gewöhnt man sich daran. Das Ghetto war<br />

eine ganz schreckliche Sache, vor allem der Hunger, Mangel an Seife,<br />

Gefahr der Epidemie, vor allem der Fleckfieberepidemie, und es war sehr<br />

schwer, diese zu bekämpfen, da nicht genug Medikamente vorhanden<br />

waren und die deutschen Behörden nicht die geringste Lust hatten, den<br />

Juden <strong>im</strong> Ghetto die notwendigen Medikamente zur Seuchenbekämpfung<br />

zu geben. Ich habe damals das Korrespondentenbüro des Judenrates<br />

geleitet. Als ich dort zu arbeiten anfing, war ich 20 Jahre alt. Ich bekam<br />

diese Funktion nur, weil ich gut Deutsch konnte. Ich konnte viel besser<br />

Deutsch als Polnisch.<br />

Benning-Creanga: Das rettete Ihnen auch das Leben.<br />

<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Ja, in gewissem Sinne. Ich schrieb die Briefe an die deutschen Behörden u.<br />

a. auch an den Amtsarzt der Stadt Warschau - einem Deutschen - und<br />

erklärt, dass die Fleckfieberseuche nicht nur eine Gefahr für die Juden<br />

darstellte. Die Seuche machte an den Ghettomauern nicht halt und stellte<br />

so<strong>mit</strong> eine Gefahr für die ganze Bevölkerung der Stadt Warschau dar.<br />

Daher baten wir um Medikamente, um die Seuche bekämpfen zu können.<br />

Wir erhielten keine Antwort. Wir wissen heute aber, dass deutsche<br />

Instanzen daran interessiert waren, dass sich die Seuche innerhalb des<br />

Ghettos ausbreitete, was dann auch der Fall war. Schrecklich war natürlich<br />

der Hunger. Durch die Straßen zu gehen, war <strong>im</strong>mer <strong>mit</strong> Lebensgefahr<br />

verbunden. Es gab auch Schönes: die hundert jüdischen Musiker, die ein<br />

Symphonieorchester gründeten. Sie spielten Mozart, Schubert, Beethoven<br />

und Brahms. Es war herrliche Musik. Ich gehörte zu den Menschen, die in<br />

jener Zeit viel lieber und häufiger Musik hörten als Bücher lasen. Während<br />

des Krieges las ich keinen einzigen Roman, nur deutsche und polnische<br />

Gedichte.<br />

Benning-Creanga: Die Literatur hat Sie nicht <strong>im</strong>mer begleitet. Sie sind auf wundersame Weise<br />

aus dem Ghetto durch einen fremden Polen gerettet worden, der Sie<br />

aufnahm und so selbst sein Leben riskierte, um Sie und Ihre Frau zu retten.<br />

Nach dem Ende des Krieges wurden Sie polnischer Konsul in London und<br />

widmeten sich der Politik. Fast 40 Jahre später wurden Sie <strong>mit</strong> den<br />

Vorwürfen konfrontiert, ein Verräter gewesen zu sein. Man warf Ihnen vor,<br />

dass Sie polnische Exilanten verraten hätten. Wie wurden Sie <strong>mit</strong> diesem<br />

Vorwurf bis heute fertig?<br />

<strong>Reich</strong>-<strong>Ranicki</strong>: Wenn ein Vorwurf so läppisch, blöde und falsch ist, ist es nicht schwer, <strong>mit</strong><br />

ihm fertig zu werden. Wenn Sie schon darauf zu sprechen kommen: Ich bin<br />

während des Krieges in der polnischen Armee als polnischer Offizier und<br />

Beamter tätig gewesen für den polnischen Nachrichtendienst <strong>im</strong> Kampf

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