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Realismus - Heinrich Detering

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<strong>Realismus</strong><br />

Deutsche Literatur 1848-1902<br />

<strong>Heinrich</strong> <strong>Detering</strong>, Wintersemester 2010/11


Novalis<br />

1. ‚<strong>Realismus</strong>‘ ist Literatur nach<br />

der Romantik.<br />

Wilhelm Busch: Balduin Bählamm<br />

der verhinderte Dichter<br />

(1883)


„Die Welt muß romantisiert werden.<br />

[…] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn,<br />

dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn,<br />

dem Bekannten die Würde des Unbekannten,<br />

dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe<br />

so romantisire ich es.“<br />

Novalis, 1793<br />

„Was unsere Zeit nach allen Seiten hin<br />

charakterisiert, das ist ihr <strong>Realismus</strong> …<br />

die Welt ist des Spekulierens müde.“<br />

Theodor Fontane, 1853


Eine romantische Landschaft:<br />

„Draußen aber ging der herrlichste Sommermorgen<br />

funkelnd an allen Fenstern des Palastes vorüber, alle<br />

Vögel sangen in der schönen Einsamkeit, während<br />

von fern aus den Tälern die Morgenglocken über den<br />

Garten heraufklangen.“<br />

(Eichendorff: Viel Lärmen um nichts, 1832)


Eine romantische Landschaft:<br />

„Draußen aber ging der herrlichste Sommermorgen<br />

funkelnd an allen Fenstern des Palastes vorüber, alle<br />

Vögel sangen in der schönen Einsamkeit, während<br />

von fern aus den Tälern die Morgenglocken über den<br />

Garten heraufklangen.“<br />

(Eichendorff: Viel Lärmen um nichts, 1832)<br />

Während die Glocken klangen<br />

Während die Morgenglocken klangen<br />

Während die Morgenglocken heraufklangen<br />

Während die Morgenglocken über den Garten heraufklangen<br />

Während die Morgenglocken aus den Tälern über den Garten<br />

heraufklangen<br />

Während die Morgenglocken von ferne aus den Tälern über den Garten<br />

heraufklangen


Richard Alewyn<br />

(Eine Landschaft bei Eichendorff, 1957, jetzt in Alewyn: Probleme und<br />

Gestalten, Suhrkamp-Taschenbuch 1982):<br />

„Eichendorffs Landschaft ist reiner Raum,<br />

gemacht aus nichts gemacht als aus Bewegung,<br />

der konsequenteste Versuch, reinen Raum in der Dichtung darzustellen<br />

[… als] erlebten Raum“.


„An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich<br />

zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen<br />

Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des<br />

Flusses Thaya und fortstrebend bis zu jenem Grenzknoten,<br />

wo das böhmische Land mit Österreich und<br />

Bayern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei<br />

Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken<br />

gegeneinander und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun von<br />

drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt und ihnen allerseits wogiges<br />

Hügelland und strömende Bäche absendet. Er beugt, wie seinesgleichen<br />

öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts<br />

viele Tagereisen weiter. Der Ort dieser Waldschwenkung nun, vergleichbar<br />

einer abgeschiednen Meeresbucht, ist es, in dessen Revieren sich das<br />

begab, was wir uns vorgenommen zu erzählen. Vorerst wollen wir es<br />

kurz versuchen, die zwei Punkte jener düsterprächtigen Waldesbogen<br />

dem geneigten Leser vor die Augen zu führen, wo die Personen der<br />

Geschichte lebten und handelten, ehe wir ihn zu ihnen selber geleiten.“<br />

(Adalbert Stifter, Der Hochwald)


„An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich<br />

zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen<br />

Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des<br />

Flusses Thaya und fortstrebend bis zu jenem Grenzknoten,<br />

wo das böhmische Land mit Österreich und<br />

Bayern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei<br />

Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken<br />

gegeneinander und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun von<br />

drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt und ihnen allerseits wogiges<br />

Hügelland und strömende Bäche absendet. Er beugt, wie seinesgleichen<br />

öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts<br />

viele Tagereisen weiter. Der Ort dieser Waldschwenkung nun, vergleichbar<br />

einer abgeschiednen Meeresbucht, ist es, in dessen Revieren sich das<br />

begab, was wir uns vorgenommen zu erzählen. Vorerst wollen wir es<br />

kurz versuchen, die zwei Punkte jener düsterprächtigen Waldesbogen<br />

dem geneigten Leser vor die Augen zu führen, wo die Personen der<br />

Geschichte lebten und handelten, ehe wir ihn zu ihnen selber geleiten.“<br />

(Adalbert Stifter, Der Hochwald)


„An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich<br />

zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen<br />

Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des<br />

Flusses Thaya und fortstrebend bis zu jenem Grenzknoten,<br />

wo das böhmische Land mit Österreich und<br />

Bayern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei<br />

Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken<br />

gegeneinander und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun von<br />

drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt und ihnen allerseits wogiges<br />

Hügelland und strömende Bäche absendet. Er beugt, wie seinesgleichen<br />

öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts<br />

viele Tagereisen weiter. Der Ort dieser Waldschwenkung nun, vergleichbar<br />

einer abgeschiednen Meeresbucht, ist es, in dessen Revieren sich das<br />

begab, was wir uns vorgenommen zu erzählen. Vorerst wollen wir es<br />

kurz versuchen, die zwei Punkte jener düsterprächtigen Waldesbogen<br />

dem geneigten Leser vor die Augen zu führen, wo die Personen der<br />

Geschichte lebten und handelten, ehe wir ihn zu ihnen selber geleiten.“<br />

(Adalbert Stifter, Der Hochwald)


Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren<br />

Sind Schlüssel aller Kreaturen,<br />

Wenn die, so singen oder küssen,<br />

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,<br />

Wenn sich die Welt ins freie Leben,<br />

Und in die Welt wird zurück begeben,<br />

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten<br />

Zu echter Klarheit werden gatten,<br />

Und man in Märchen und Gedichten<br />

Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,<br />

Dann fliegt vor einem geheimen Wort<br />

Das ganze verkehrte Wesen fort.<br />

Novalis<br />

Das Ende der Kunstperiode.<br />

<strong>Heinrich</strong> Heine nach Goethes Tod 1832


Das Fräulein stand am Meere<br />

Und seufzte lang und bang,<br />

Es rührte sie so sehre<br />

Der Sonnenuntergang.<br />

Mein Fräulein! sein Sie munter,<br />

Das ist ein altes Stück;<br />

Hier vorne geht sie unter<br />

Und kehrt von hinten zurück.<br />

<strong>Heinrich</strong> Heine<br />

(dazu Sandra<br />

Kerschbaumer:<br />

Heines moderne<br />

Romantik.<br />

Paderborn 2000)


2. ‚<strong>Realismus</strong>‘ ist Literatur nach der gescheiterten Revolution von 1848<br />

und ihrer ‚jungdeutschen‘ Literatur<br />

„Die junge Literatur unterscheidet sich ganz wesentlich von jeder<br />

früheren, und die Nation ist ihr zu besonderem Danke verpflichtet. Die<br />

junge Literatur ist nämlich durch und durch von ihrem Ursprunge an<br />

demokratisch … Für sie ist in jedem Zimmer ein Roman, für sie rauscht<br />

in jedem Herzen die Melodie des Schicksals.“<br />

Georg Herwegh 1840<br />

„Reißt die Kreuze aus der Erden!<br />

Alle sollen Schwerter werden,<br />

Gott im Himmel wird‘s verzeihn.<br />

Laßt, o laßt das Verseschweißen!<br />

Auf den Amboß legt das Eisen!<br />

Heiland soll das Eisen sein. …“<br />

„Partei! Partei! wer sollte sie nicht nehmen,<br />

Die noch die Mutter aller Siege war?<br />

Wie mag ein Dichter solch ein Wort verfemen,<br />

Ein Wort, das alles Herrliche gebar?“ Georg Herwegh, 1843


Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht,<br />

Bin ich wieder aufgewacht.<br />

Ich setzte mich an den Frühstückstisch,<br />

Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,<br />

Ich habe die Morgenzeitung gelesen,<br />

(Es sind wieder Avancements gewesen).<br />

Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,<br />

Es trabte wieder, es klingelte munter,<br />

Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle,<br />

Kleine Mädchen gingen nach der Schule, –<br />

Alles war freundlich, alles war nett,<br />

Aber wenn ich weiter geschlafen hätt<br />

Und tät von alledem nichts wissen,<br />

Würd es mir fehlen, würd ich’s vermissen?<br />

Theodor Fontane


Julian Schmidt in der Zeitschrift Die Grenzboten 1851:<br />

„In der literarischen Entwicklung nun, in deren Mitte wir<br />

stehen, scheint sich … eine Revolution vorzubereiten, die<br />

mit dem Princip der absterbenden Periode vollkommen<br />

bricht: der Periode, welche sich in Deutschland an Goethe,<br />

Schiller, Fichte, Schelling lehnt, in Frankreich an Rousseau,<br />

die [Madame de] Staël, in England an Byron, Shelley usw.;<br />

einer Periode, die man … als die romantische zu bezeichnen<br />

pflegt, deren Inhalt man aber genauer andeutet, wenn man<br />

sie das Zeitalter des subjektiven Idealismus nennt. … Die<br />

Poesie, die vorher exklusiv war, und um so mehr Poesie zu<br />

sein glaubte, je weniger ihr der Profane nahezukommen<br />

wagte, strebt jetzt nach Volkstümlichkeit …<br />

Vollständig wird das Wesen der modernen Kunst nur in<br />

einer zusammenhängenden Geschichte darzustellen sein …<br />

Das Zeitalter war reich an Tendenzen, arm an realer<br />

Durchführung derselben, im Leben wie in der Kunst.“


„Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist,<br />

Ideale aufzustellen ..; das Mittel der Kunst ist der<br />

<strong>Realismus</strong>, d. h. eine der Natur abgelauschte Wahrheit,<br />

die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen<br />

Ideale glauben.“ (Julian Schmidt, 1860)<br />

„Es ist begreiflich, daß diese Anforderung sich auf keinem Gebiet so laut<br />

und leidenschaftlich äußert, als auf dem Gebiet des Romans. … Hier<br />

muß man die Anforderung genauer feststellen. Sie ist ist gerecht, wenn<br />

sie von dem Dichter, der das Leben der Gegenwart zum Gegenstand<br />

nimmt, verlangt, er solle über dasselbe in seiner ganzen Fülle<br />

disponieren können. … Wenn wir den Gegensatz des neuen Princips in<br />

seine einzelnen Momente zerlegen, so ergeben sich folgende: die<br />

ästhetische Konvenienz, der moralische Dogmatismus und die<br />

romantische Illusion. … Der <strong>Realismus</strong> in der Poesie wird dann zu<br />

erfreulichen Kunstwerken führen, wenn er in der Wirklichkeit zugleich<br />

die positive Seite aufsucht …“ (Julian Schmidt, 1856)


Theodor Fontane:<br />

Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. (1853)<br />

„Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert,<br />

das ist ihr <strong>Realismus</strong>. … [Das] Entwicklungsstadium,<br />

durch das wir notwendig hindurch müssen … ist<br />

der nackte, prosaische <strong>Realismus</strong>, dem noch<br />

durchaus die poetische Verklärung fehlt. …<br />

[So] zögern wir nicht länger, unsere Ansicht<br />

darüber auszusprechen, was wir überhaupt<br />

unter <strong>Realismus</strong> verstehen. Vor allen Dingen<br />

verstehen wir nicht darunter das nackte<br />

Wiedergeben des täglichen Lebens, am wenigsten<br />

seines Elends und seiner Schattenseiten. …<br />

Diese Richtung [die Vormärzdichtung] verhält sich zum echten<br />

<strong>Realismus</strong> wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt. … Das<br />

Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu<br />

unendlichen Bildwerken in sich trägt …


<strong>Realismus</strong> … ist die Widerspiegelung<br />

alles wirklichen Lebens, aller wahren<br />

Kräfte und Interessen im Elemente der<br />

Kunst … Der <strong>Realismus</strong> will nicht die<br />

bloße Sinnenwelt und nichts als diese;<br />

er will am allerwenigsten das bloß<br />

Handgreifliche, aber er will das<br />

Wahre.<br />

Otto Ludwig (Nachlass, 1872):<br />

Die Kunst soll nicht verarmte<br />

Wirklichkeit sein, vielmehr<br />

bereicherte …<br />

Der poetische <strong>Realismus</strong>.


Hegels Geschichtsphilosophie<br />

als literarisches Programm –<br />

Arnold Ruge:<br />

„Wie verhält sich nun der Dichter mit einem<br />

solchen Bewußtsein zur Wirklichkeit und die<br />

Wirklichkeit zu ihm? … Die gemeine Wirklichkeit<br />

ist geistlos und bedeutungslos; erst<br />

wenn du sie verstehst, gibst du ihr eine Bedeutung,<br />

erst wenn du sie auf ihr Ideal ziehst,<br />

gibst du ihr Geist. … Die gemeine Wirklichkeit<br />

ist immer Karikatur … In der Poesie heißt<br />

<strong>Realismus</strong>, wirkliche Ideen und wirkliche<br />

Ideale hervorbringen und durch wahre Figuren<br />

so hindurchscheinen lassen, daß diese Figuren<br />

den Erdgeschmack verlieren.“ (Idealismus und<br />

<strong>Realismus</strong> im Reiche des Ideals, 1858)<br />

→ „Humor“ als ästhetische Strategie der<br />

Versöhnung von Idee und Wirklichkeit.


3. ‚<strong>Realismus</strong>‘ ist Literatur einer<br />

nationalliberal geprägten bürgerlichen<br />

Bildungsschicht<br />

Gustav Freytag: Soll und Haben (1855,<br />

6 Bücher in 3 Bänden)<br />

als Musterroman des Programmatischen<br />

<strong>Realismus</strong>. (Lies Benedict<br />

Anderson: Imagined Communities.<br />

Reflections on the Origin and Spread of<br />

Nationalism, 1983.)<br />

Karl Gutzkow Dickens


Bürger<br />

(Anton Wohlfahrt)<br />

vs. Adel<br />

(Baron von Fink, Rothensattels)<br />

Männerkonkurrenz<br />

(Anton und Fink<br />

werben um Rothsattels Tochter)<br />

Frauenkonkurrenz<br />

(adliges Fräulein Rothsattel<br />

vs. bürgerliche Sabine)<br />

deutsche Bürger<br />

vs. jüdische und polnische Bürger<br />

(Anton Wohlfahrt<br />

vs. Veitel Itzig):<br />

national-liberale Analogisierung von<br />

soziologischem und ethnischem<br />

„Volks“-Begriff


Wilhelm Raabes<br />

Der Hungerpastor (1864)<br />

als kalkulierte (und erfolgreiche)<br />

Wiederholung von Freytags<br />

Bestseller:<br />

Pastor Hans Unwirrsch<br />

vs. Agent Moses Freudenstein<br />

– und der faktische Widerruf dieses<br />

„Jugendquarks“ im Spätwerk:<br />

Höxter und Corvey (1875) als<br />

Schilderung eines antisemitischen<br />

Pogroms


Die Entwicklung der antisemitischen<br />

Ikonographie:<br />

Wilhelm Busch, Plisch und Plum<br />

Kurz die Hose, lang der Rock,<br />

Krumm die Nase und der Stock,<br />

Augen schwarz und Seele grau,<br />

Hut nach hinten, Miene schlau -<br />

So ist Schmulchen Schiefelbeiner.<br />

(Schöner ist doch unsereiner!)


Er ist grad vor Fittigs Tür;<br />

Rauwauwau! erschallt es hier. –<br />

Kaum verhallt der rauhe Ton,<br />

So erfolgt das Weitre schon.


Unterhalb des Rockelores<br />

Geht sein ganze Sach<br />

kapores.<br />

Und wie schnell er sich auch dreht,<br />

Ach, er fühlt, es ist zu spät;


Soll ihm das noch mal passieren?<br />

Nein, Vernunft soll triumphieren.<br />

Schnupp! Er hat den Hut im Munde.<br />

Staunend sehen es die Hunde …

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